Efeu - Die Kulturrundschau

Augenweide und Anschauungsbeispiel

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23.02.2015. Martin Kušejs Inszenierung der "Jagdszenen aus Niederbayern" bescherte den Theaterkritikern ein bleischweres, jedoch atmosphärisch sehr dichtes Wochenende. Im Tages-Anzeiger erklärt der Maler Hans Erni (106) was man vom Hosenlupf eines Schwingers lernen kann. Im Quotidien d'Oran erklärt der algerische Autor Kamel Daoud, warum Schriftsteller im Algerischen Exilant bedeutet. Die Jungle World empört sich über die Reheterosexualisierung queerer Musik durch den Austropop. Und natürlich die Oscars.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2015 finden Sie hier

Bühne


"Jagdszenen aus Niederbayern", inszeniert von Martin Kusej. Foto: JU/Ostkreuz

Martin Kušej hat an den Münchner Kammerspielen Martin Sperrs Klassiker "Jagdszenen aus Niederbayern" nicht nur wieder auf die Bühne geholt, sondern, wie alle Kritiker übereinstimmend berichten, noch ein bisschen ins Trostlosere zugespitzt. Tim Slagman (Nachtkritik) bescheinigt dem Abend zwar eine zuweilen "immense atmosphärische Dichte". Doch haben diese Intensitäten eher flüchtigen Charakter: "Während der Bühnenraum gleichmäßig heller, die Erzählung realistischer und das Spiel aller natürlicher wird, entstellt sich die Entschleunigung bisweilen zur Zähigkeit. ... Die universale Atmosphäre schrumpft zugunsten eines aufs Repräsentativ-Allegorische kalkulierten Stoffs."

Hubert Spiegel schreibt in der FAZ derweil von "Choreographien der Ausweglosigkeit", die Kušejs Inszenierung säumen: "Das ist wuchtig bis bleiern, zuweilen überladen und von so großem Ernst, dass Sperrs trocken-sarkastischer Humor kaum durchscheint." Die Inszenierung, schreibt er weiter, sei aber schlüssig und intensiv. Beziehungsweise sogar "eisenhart", wie Egbert Tholl (SZ) noch eins drauflegt. Gut gefällt ihm, "dass im Verharren der von Sperr skizzierten Grundsituation die Aufführung zur allgemeingültigen, gesellschaftlichen Studie wird. Da braucht es keine Tagespolitik. Die denkt man implizit mit." Großes Lob geht auch an das Ensemble. Nur bei K. Erik Franzen (FR) wollte der Funke nicht überspringen: "Man hat immer das Gefühl, hier wird nur gespielt, man bleibt als Zuschauer unberührt noch von den brutalsten Sätzen, so als gehe es um nichts."

Weiteres: Christine Wolter schreibt in der NZZ zum Tod des italienischen Regisseurs Luca Ronconi, Andreas Rossmann in der FAZ.

Besprochen werden Sebastian Sommers Inszenierung von Peter Handkes "Kaspar" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel, Nachtkritik), Bastian Krafts Inszenierung des "Käthchens von Heilbronn" am Thalia in Hamburg (Nachtkritik), die Uraufführung von Dani Levys "Schweizer Schönheit" in Zürich (NZZ, Nachtkritik, FAZ) und Philipp Preuss" Inszenierung von Goethes "Torquato Tasso" in München (Nachtkritik, SZ).
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Kunst


Hans Erni: Clean Energy, 1999. Hans Erni Museum

Linus Schöpfer unterhält sich für den Tages-Anzeiger mit dem Maler Hans Erni, der am Samstag 106 Jahre alt wurde und gerne Sport guckt: "Für mich ist Sport gleichermaßen Augenweide und Anschauungsbeispiel. So schaue ich mir zum Beispiel gerne Schwingfeste an: Vom Hosenlupf eines Schwingers kann ich als Künstler noch immer viel lernen. Indem ich den Schwung malerisch nachvollziehe, entdecke ich die Persönlichkeit des Sportlers. Das ist eine meiner wichtigsten Erkenntnisse überhaupt: dass in der Bewegung die Persönlichkeit eines Menschen zum Ausdruck kommt."

Besprochen werden Liu Xias Ausstellung "Ugly Babies" im Martin-Gropius-Bau in Berlin (Berliner Zeitung) und Ausstellungen in Forlì und Ferrara über Giovanni Boldini (SZ).
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Stichwörter: Erni, Hans, Schwingen, Liu Xia

Literatur

Der algerische Autor Kamel Daoud, der mit seiner Camus-Fortsetzung "Meursault, contre-enquête" bekannt wurde, erzählt in seiner beeindruckenden Kolumne Quotidien d"Oran von einem Kollegen: "Noch ein Schriftsteller ist gestorben - Malek Alloula. Ein witziger, poetischer, schalkhafter, aufmerksamer Kopf, so habe ich es in wenigen Begegnungen gesehen, geahnt, gehört. Denn der Mann war Schriftsteller, und das übersetzt man im Algerischen mit "Exilant". Das Land exiliert seine Schriftsteller (Künstler, Sänger, Regisseure et cetera), verjagt sie beinahe, er stickt sie und zwingt sie zur Entwurzelung. Es entleert sie und entleert sich selbst. Das ist eine der größten Katastrophen unseres Landes: Wenn man etwas schaffen woll, muss man gehen."

Weitere Artikel: In der NZZ schildert Judith Kuckart Glücksmomente. Catarina von Wedemeyer berichtet in der taz von einer Tagung mit den vom P.E.N.-Programm mit Stipendien versehenen Exil-Literaten. In der FAZ schreibt Julia Encke über einen Berliner Abend mit Prix-Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari.

Besprochen werden Milan Kunderas "Das Fest der Bedeutungslosigkeit" (Tagesspiegel, SZ), Martin Walsers Textsammlung "Unser Auschwitz" (Berliner Zeitung), Maik Brüggemeyers "Catfish" (Jungle World), Felix Philipp Ingolds "Leben & Werk. Tagesberichte zur Jetztzeit" (taz), Michael Morpurgos "Nur Meer und Himmel" (Tagesspiegel), Julian Barnes" "Lebensstufen" (Zeit), Horst Eckerts Thriller "Schattenboxer" (CulturMag), Sam Millars "True Crime" (CulturMag), Ben Atkins" "Stadt der Ertrinkenden (CulturMag), Rainbow Rowells "Eleanor & Park" (FAZ) und eine Ausstellung in Rom über Thomas Manns Novelle "Mario und der Zauberer" (SZ).

Außerdem hat die FAZ die neue Lieferung ihrer Frankurter Anthologie online nachgereicht: Jan Volker Röhnert stellt Günter Eichs Gedicht "Fährten in die Prärie" vor:

"Gedenke noch bisweilen
der Knabenphantasie:
Einst über Meer und Meilen
..."
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Film

Gestern nacht wurden die Oscars verliehen. Preise gingen an "Birdman" (bester Film), Alejandro G. Iñárritu (beste Regie) und die Schauspieler Julianne Moore und Eddie Redmayne. Alle Preise hier. Tobias Kniebe hat sich in der SZ allerdings schon besser amüsiert: "Wärend andere Shows wie etwa die Golden Globes längst mit dem scharfen und bösen Witz des 21. Jahrhunderts produziert werden, hängen die Oscars in einer fatalen Nostalgieblase fest - als habe sich seit den Fünfzigerjahren im Kino nichts mehr getan." Dietmar Dath fand es in der FAZ nicht so schlimm wie 1952.

Besprochen werden Clint Eastwoods Kriegsdrama "American Sniper" (Tagesspiegel, ZeitOnline) und Ron Manns Film über den Regisseur Robert Altmann (taz).
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Architektur

Künstler als Architekten - eigentlich ein spannendes Thema, dessen sich die Marta Herford in einer Ausstellung derzeit annimmt, schreibt Till Briegleb in der SZ. Doch von der Umsetzung ist er sehr enttäuscht: "Trotz der Behauptung, das Thema werde hier "erstmals" in einer "umfassenden Überblicksausstellung" behandelt, fehlen viele der wichtigsten Künstler. ... Dass nirgends interessante Fragen gestellt oder historische Kontexte aufgemacht werden, gehört ebenso zu den Schwächen dieser Schau wie die fehlende Präzision." Schade. (Bild: Walter Jonas: Modell Intrapolis, 1960-65, DAM Frankfurt, © Stiftung Walter und R. M. Jonas)

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Stichwörter: Marta Herford

Musik

Im Tagesspiegel staunt Jochen Overbeck über die Renaissance des Austropops, wie ihn etwa die Wiener Band Wanda spielt. Mit denen braucht man Klaus Walter von der Jungle World freilich gar nicht erst kommen. In einem großen Dossier rechnet er mit den Tendenzen des Mainstreams ab, das in jüngster Zeit von queeren Acts erkämpfte Terrain rückwirkend heteronormativ einzuebnen. Und Wanda dienen ihm hier als erste Kronzeugen: "Mit subtiler Rückversicherungsmusik (...) machen die Wiener Jungs rückgängig, was Planningtorock in ihrer/seiner utopischen Hymne zusammengebracht hatte: Gender und Baby. Bei Wanda wird das Baby reheterosexualisiert, also renormalisiert." Schauderhaft findet er auch einen Sampler, der den Gay Pop der 80er mit Coverversionen zurück ins Bodenständige holt: "Hier findet nicht weniger statt als eine Geschichtsrevision."

Sehr begeistert ist Frederik Hanssen (Tagesspiegel) von der Akustik der neuen Philharmonie in Paris, von deren Qualitäten er sich beim Gastspiel der Berliner Philharmoniker überzeugen konnte: "Weil die Nachhallzeit größer ist als im Scharoun-Bau, legt sich ein goldener Schimmer über dem Klang, wirken selbst die Fortissimo-Passagen der Philharmoniker, die in Berlin stets etwas Gleißendes haben, hier unglaublich prachtvoll und üppig."

Weitere Artikel: Die Berliner Philharmoniker werden am 11. Mai den Nachfolger für Simon Rattle wählen, meldet die Berliner Morgenpost. Roman Rhode (Tagesspiegel) stellt die rumänische Folkjazz-Band Zmei Trei vor.

Besprochen werden ein Auftritt der Berliner Bands Erfolg und Der Mann (Berliner Zeitung) und die Uraufführung von Alfons Karl Zwickers neuem Orchesterwerk "Unter dem Grabhügel" beim "Œuvres suisses" in St. Gallen (NZZ).
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