Efeu - Die Kulturrundschau

Jung, schlank, viril

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17.01.2023. In der FAZ sucht Sasha Andrusyk die richtige musikalische Geste angesichts von Luftalarm und Drohnen-Geheul. Die SZ feiert Ewa Marciniaks witzig-ironische "Walküre" in Bern mit einem Wotan zum Niederknien. Der Tagesspiegel ist schon im Nan-Goldin-Fieber. Die taz erzählt eine bittere Poose um Emin Alpers Filmdrama "Kurak Dünler". Alle nehmen Abschied von der umwerfenden Gina Lollobrigida, die ZeitOnline allerdings zu sinnlich war. Aber wer war noch mal der erfolgreichste Popstar der letzten Jahre?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.01.2023 finden Sie hier

Film

La Lollo als Bersagliera in "Pane, Amore, Fantasia"

Sie nannten sie "la Lollo": Die große Gina Lollobrigida ist tot. Sie "war neben Sophia Loren und Monica Vitti, vielleicht auch noch Claudia Cardinale, einer der größten weiblichen Filmstars ihrer Generation in Italien", schreibt Carolin Gasteiger in der SZ. Lollobrigida drehte nicht nur in Italien, sondern auch in Hollywood - und dort mit den erlesensten Stars und Regisseuren: Mit ihrem Erfolg "stand sie für ein aufstrebendes, erfolgreiches Nachkriegsitalien". Der italienische "Divenkult" der damaligen Zeit war auch maßgeblich ihrem Erfolg zu verdanken, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. In "Altri Tempi" gelang Lollobrigida 1952 mit ihrem koketten Spiel nicht nur der Durchbruch als Schauspielerin, sondern sie schuf damit auch die "vollkommene Inkarnation des aufkommenden Schönheitsideals im Italien der Nachkriegszeit, das mit dem Neologismus 'maggiorata' den passenden Ausdruck fand", schreibt Marisa Buovolo in der NZZ. Als verführerische 'fiori di carne' auf der Suche nach neuen Rollen in der sich im Umbruch befindenden Gesellschaft eroberten viele junge Italienerinnen in den späteren 1940er-Jahren die öffentliche Bühne und zugleich die Leinwand. In hautengen Blusen um die üppig schwellenden Brüste und schmal geschnittenen Bleistiftröcken steuerten sie männliche Blicke, lösten weibliche Identifikationsprozesse aus und wurden zur Projektionsfläche einer kollektiven Regeneration."

Claudia Lenssen von ZeitOnline ist bei alldem merklich zu viel Sinnlichkeit im Spiel: Trotz ihrer künstlerischen Begabungen wurde Lollobrigida "meist als Blickfang mit großem Dekolleté und naiver Ausstrahlung besetzt. Auch in ihren größten Erfolgen (...) präsentierte Lollobrigida nicht einfach nur ihr Antlitz, sondern führte anmutig und gekonnt vor, was sich die Choreografen ihrer Zeit unter einer romantisch-lasziven Tanzszene vorstellten. Stets fiel die Schauspielerin durch hautenge Kostüme und High Heels auf, selbst dann, wenn die Schauplätze ihrer Filme solidere Outfits erfordert hätten." Weitere Nachrufe schreiben Maria Wiesner (FAZ) und Christian Schröder (Tsp). Und Manuel Brug von der Welt hat sichtlich Probleme damit, seinen Blick von Lollobrigidas Dekolleté zu nehmen.

Hier kann man sie in ihrer ganzen Glorie sehen:



Von einer bitteren Posse in der türkischen Kulturpolitik erzählt Ilgaz Gökırmaklı in der taz: Der Regisseur Emin Alper soll annähernd 20 Monate nach der Bewilligung von Förderung für sein in Cannes gezeigtes Drama "Kurak Dünler" die zur Verfügung gestellten Mittel plus Zinsen zurückzahlen, weil er angeblich eine Drehbuchänderung nicht gemeldet habe - vermutlich aber wohl eher, weil den Behördern der Film im Nachhinein schlicht zu schwul und zu kritisch gegenüber Homophobie ist. Möglich macht diese Willkür eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2019. "Während die Nominierung von 'Kurak Günler' für die Queer Palm in der LGBTIQ*-Community in der Türkei gefeiert wurde, erschienen insbesondere in regierungsnahen Medien zunehmend Berichte darüber, dass Alper das Drehbuch geändert und so das Ministerium 'getäuscht' habe, dass es sich bei dem Film um ein 'LGBTIQ*-Projekt' handelt, das die Türkei als homophobes Land darstelle. In einem Interview mit dem Magazin Variety erläuterte Alper, warum er Homophobie thematisiert habe: 'In den letzten Jahren ist Homophobie zu einer Art Staatsräson geworden. Was mich eigentlich daran interessiert, ist, dass es sich dabei nicht um eine lokale Erscheinung handelt, sondern um ein globales Phänomen. Denken Sie an die Geschehnisse in Russland oder Ungarn. Das ist ein Teil der neopopulistischen Ära, in der wir leben.'"

Außerdem: In der Welt erzählt der Filmproduzent Sol Bondy die aufregende Geschichte, wie Ali Abbasis im Iran angesiedelter Serienkiller-Film "Holy Spider" (unsere Kritik) nach immer wieder verschobenen, sabotierten und verunfallten Planungen am Ende doch noch zustande kam und schließlich (nach einer ersten Ablehnung) auch in Cannes gezeigt wurde. Andreas Scheiner schlendert kurz vor den Filmtagen für die NZZ durch Solothurn und staunt, wie sich die kleine Schweizer Stadt als überregionaler Kultur-Hotspot fest installiert hat. Besprochen werden die RomCom "Shotgun Wedding" mit Jennifer Lopez (Standard), die von der ARD online gestellte Mini-Serie "Bonn. Alte Freunde, neue Feinde" (taz) und Jan Gassmanns Schweizer Sexfilm "99 Moons" (NZZ).
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Kunst

Nan Goldin: Thora on my white bed, Brooklyn, NY, 2020. Bild: Akademie der Künste


Nan Goldin erhält im März den Berliner Kollwitzpreis, die dazugehörige Ausstellung in der Akademie der Künste eröffnet am Freitag, im März kommt Laura Poitras Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" über Nan Goldins Kampf gegen den Pharma-Konzern Purdue und die Sackler-Familie in die Kinos (unser Resümee). Im Tagesspiegel porträtiert Nicola Kuhn die Künstlerin zwischen Höhenflug und Absturz: "Bekannt wurde die Fotografin in den 1970ern mit Aufnahmen der queeren Szene. Ihr Diakarussell 'Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit' machte sie zur Vorläuferin einer Schnappschussästhetik, die zwei Jahrzehnte später Wolfgang Tillmans kultivierte. Goldin schuf ergreifende Dokumente eines aufreibenden Lebens: glamourös und tragisch zugleich. Mit der Kamera war sie Teil der Szene, porträtierte die Dragqueens beim Herrichten im Bad, auf dem Weg in die Clubs, erschöpft nach der Heimkehr. Die Momentaufnahmen von Exzess und Drogenkonsum bezeugen bei aller Drastik schmerzliche Zärtlichkeit. Trauer liegt darüber, denn Goldin verlor viele Freund:innen an Aids. 'Die Piaf mit der Kamera' hat man sie genannt."

Weiteres: Für Monopol erhascht Elke Buhr bei den Engadin Art Talks einige enigmatische Sätze von Ai Weiwei: "Es gibt keine Hoffnung, weil der Begriff 'Hoffnung' mit Enttäuschung verbunden ist. Ohne Hoffnung gibt es keine Enttäuschung." Noch ganz im Banne der spektakulären Donatello-Schau erzählt Bernhard Schulz im Tagesspiegel die Geschichte der Berliner Skulpturensammlung.
Archiv: Kunst

Bühne

Ewa Marciniaks "Walküre" an der Oper Bern. Foto: Rob Lewis

Ein bisschen an den Feuilletons vorbeigegangen ist die "Ring"-Inszenierung durch eine polnische Regisseurin Ewa Marciniak. Vielleicht weil sie in Bern stattfand? Das "Rheingold" haben jedenfalls alle verschlafen, aber bei der "Walküre" ist SZ-Kritiker Egbert Tholl voll dabei, er erlebt hier aufregendes und prägnantes Theater: "Da ist viel Witz, auch Ironie im Spiel, es kann auch betörend schön werden: Finden der zaudernde, wenig Lust auf Heldentum verspürende Siegmund (Marco Jentzsch) und Sieglinde zueinander, spielt ein junges Tanzpaar die Liebe, Küsse und Bisse, irrsinnig reizend. Oder: Wenn Fricka, die mit jedmöglicher Grandezza und dabei auch noch einer zauberhaften Wehmut ausgestattete Claude Eichenberger, mit all ihrer stimmlichen Überzeugungskraft Wotan an die Heiligkeit der Ehe und die Unmöglichkeit eines inzestuösen Paars gemahnt (und damit den Gott in den Abgrund seines Handelns stürzt), tauchen acht Schwangere auf, so elegant gekleidet wie Fricka selbst, umrunden Wotan, bedrängen ihn - und er will nur sehr weit weg sein. Überhaupt dieser Wotan: Seth Carico gibt ein fantastisches Rollendebüt. Er ist jung, schlank, viril, hat einen profunden Bass und kann spielen zum Niederknien."

Besprochen werden außerdem der dreiteilige Ballettabend "On the Move" an der Oper Zürich (bei dem FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster besonders Hans van Manens gleichnamige Choreografie beeindruckt hat, die bei ihr "ein Gefühl von Erkenntnis, von Klarheit" aufkommen ließ), Sebastian Baumgartens Inszenierung von Kafkas "Amerika" (in der taz-Kritiker Michael Wolf nicht nur das Misstrauen gegenüber dem American Dream entgegenschug, sondern auch gegen Kafka selbst), Leo Meiers Fußball-Romanze "Zwei Herren von Real Madrid" am Theater Oberhausen (Nachtkritik) und die Rückkehr Anna Netrebkos an die Wiener Staatsoper in Verdis "Aida" (die Welt-Kritiker Manuel Brug selbst als Mumie zum Schmachten bringt: "In der Nil-Arie wackeln zwar zunächst die Verzierungen, doch das hohe C flutet, ein wenig isoliert angesetzt - traumschön").
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Literatur

Jonathan Escoffery nimmt die Diskurse der Identitätsdebatte in seinem Roman "Falls ich dich überlebe" lustvoll aufs Korn. Angela Schader widmet ihm im Perlentaucher ein Vorwort: "Zehn Jahre, von den ersten Skizzen an gerechnet, hat der Schriftsteller Jonathan Escoffery investiert, um Trelawney und seiner Familie literarische Gestalt zu geben; er war 41, als er im vergangenen September sein Debütwerk 'If I Survive You' vorlegte. Das Buch scheint zuvor schon in den Hinterzimmern des Literaturbetriebs Aufmerksamkeit erregt zu haben - so stand der Publikationstermin der deutschen Ausgabe bereits im Sommer 2022 fest. Das Interesse verwundert nicht, denn Escofferys Erstling bürstet - um bei der haarigen Metapher zu bleiben - nicht nur die Identitätsfrage zünftig gegen den Strich, er lotet auch struppige, ruppige Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, zwischen ungleichen Brüdern aus. Und nicht zuletzt nehmen einen die dicht miteinander verflochtenen Erzählungen mit auf eine satirisch überhöhte, aber mit realen Erfahrungen des Autors unterlegte Parforcetour durch die Survival-Taktiken des urbanen amerikanischen Prekariats."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Michael Wurmitzer vom Standard verfolgt mit regem Interesse, wie der Schriftsteller Hanif Kureishi auf Twitter von seinem Krankenhausaufenthalt nach einem schweren Unfall erzählt.

Besprochen werden unter anderem Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (FR), Bret Easton Ellis' "The Shards" (Dlf Kultur), Maren Wursters "Eine beiläufige Entscheidung" (taz), Sheree Domingos und Patrick Späts Comic "Madame Choi und die Monster" über die wahre Geschichte eines nordkoreanischen Godzillafilms (taz), eine Ausstellung und ein Buch über Rudolph Dirks' Comicklassiker "The Katzenjammer Kids" (Tsp), eine neue Gesamtausgabe von Manfred Schmidts deutschem Comicklassiker "Nick Knatterton" (taz), Alice Osemans "Solitaire" (Dlf Kultur), Anja Zag Golobs Lyrikband "dass nicht" (SZ), Thilo Krapps Comic-Adaption von Jules Vernes "20.000 Meilen unter dem Meer" (Tsp), Sofia Andruchowytschs "Die Geschichte von Romana" (SZ) und John Boynes "Als die Welt zerbrach" (FAZ).
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Musik

Sasha Andrusyk zeichnet in der FAZ ein Stimmungsbild aus der Kiewer Musik- und Klangkunstszene. Allerdings findet er nur wenig Musik, die sich richtig anfühlt: "Siebenhundertmal Fliegeralarm in zehn Monaten, Explosionen, Einschläge - in der Luft und auf dem Boden - mit dem Motorengeräusch von Flugzeugen und Helikopterpropellern, mit zähen Stunden buchstäblich dunkelster Stille, mit dem Geheul der Kamikadse-Drohnen, den Sirenen der zu Angriffszielen rasenden Rettungswagen, mit den neben Cafés und Schönheitssalons brüllenden Generatoren - all dies hat eine Klanglandschaft von solcher Intensität erschaffen, dass wenig bis gar kein Raum bleibt für öffentliche musikalische Gesten."

Welcher Popstar war in den letzten drei Jahren auf den Streamingplattformen weltweit am erfolgreichsten? Taylor Swift? Denkste! Es war Bad Bunny aus San Juan. In den popkulturell eher angloamerikanisch geprägten Ländern ist er kaum bekannt. "Es ist wie bei diesen erstaunlichen Weltkarten, bei denen Asien oder Afrika statt Europa ins Zentrum gerückt werden und sich der Anblick der Hemisphären drastisch verschiebt: Der derzeit größte Popstar des Planeten wird hauptsächlich von den rund acht Prozent der Menschheit gehört, gefeiert und geteilt, die Spanisch sprechen", schreibt Joachim Hentschel in der SZ. Wobei er auch im Rest der Welt zunehmend beachtet und gefeiert wird. "Ist Bad Bunnys neue, große Sichtbarkeit ein Zeichen dafür, dass die klassischen Charts, Award-Shows und westlich geprägten Pop-Ordnungen dabei sind, sich inklusiv zu reformieren? Oder doch eher dafür, dass sie gerade die letzten, leicht verzweifelten Piepsgeräusche ihrer alten, verfliegenden Relevanz ausstoßen?"



Weitere Artikel: Katja Kollmann porträtiert in der taz die ukrainische Technoproduzentin Kateryna Zavoloka. Johannes Paetzold spricht für die Berliner Zeitung mit der Fado-Sängerin Ana Moura. Claas Oberstadt wohnt für ZeitOnline der Kult-Werdung der Kirmes-Techno-Wummser Scooter bei.

Besprochen werden Albert Glinskys Biografie über den Synthesizer-Pionier Bob Moog (NZZ), Ghost Womans Album "Anne, If" (FR) und ein von Dennis Russel Davies dirigiertes Konzert des MDR Sinfonieorchesters in Berlin (Tsp).
Archiv: Musik