Efeu - Die Kulturrundschau

Ein neuer Shakespeare müsste her

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17.12.2018. Ganz Berlin versammelte sich zu Leander Haußmanns "Staatssicherheitstheater" in der Volksbühne. Etwas kratzig erscheint NZZ und Tagesspiegel das Odeur des Prenzlauer Bergs. Die Welt erkennt mit Martha Rosler in New York das grandiose Scheitern der Kunst vor der Wirklichkeit. Im Standard erinnert sich Claus Peymann an die rechten Lümmeln, die ihm schon 1988 aus den Logen der Burg entgegenbuhten. Die Jungle World verehrt Ruth Bader Ginsburg. Die SZ jubelt über Jean-Michel Jarres retrofuturistisches Album "Equinoxe Infinity". Und die FAZ geht mit Thomas Pynchon in den Schalltoten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.12.2018 finden Sie hier

Bühne

Haußmanns Staatssicherheitstheater an der Volksbühne. Foto: Harald Hauswald

Großes Hallo in der Volksbühne. Tout Berlin versammelte sich zu Leander Haußmanns "Staatssicherheitstheater", der ersten Inszenierung im Großen Haus seit Chris Dercons Abgang. Es geht bei dem Stück um zwei Stasi-Spitzel, die in der Bohème des Prenzlauer Bergs zu Künstlern werden und nunmehr Gedichte statt Berichte abliefern. Bernd Noack findet das Ganze in der NZZ zwar recht harmlos geraten, sieht aber den Wert der Inszenierung für die Seele der Stadt: "Mit Lust beschwört sie den vergangenen, immer noch herumwabernden Geist und lässt spüren, dass die Berliner Kulturszene keine andere Institution so nötig hat wie diese. Nur hier darf es noch einmal aufleben, das rebellische, durchaus ostalgische Lebensgefühl, lässt sich das kratzige Odeur des auch schon etwas ranzigen Prenzlauer-Berg-Parfums schnuppern, gehen Kunst und Politik eine Symbiose ein, die auf keinem Wahlzettel zu finden ist."

Im Tagesspiegel bemerkt Rüdiger Schaper zwar auch einen leichtet Hang zur Verklärung, gesteht dem Osten aber gern die Entertainerhoheit zu: "Grand Guignol und mörderische Feydeau'sche Bürgerlichkeit, es war vielleicht spannend damals, jedenfalls unterhaltsam! Da haben die Westler echt was verpasst!" In der Nachtkritik gibt sich Christian Rakow als Fan zu erkennen: "Haußmann gibt dem Affen Zucker, ach was, er haut Zucker raus, dass es den Affen fast umhaut. Irre." In der Berliner Zeitung lässt Ulrich Seidler das als gutgelaunten Heimatabend durchgehen. FAZ-Kritikerin Irene Bazinger winkt ab: Im alten Ost-Kabarett "Distel" seien die DDR-Witze weniger schal.

Im Standard-Interview mit Renate Graber sinniert Regisseur Claus Peymann über seine Zeit an der Burg, das unaufhaltbare Theater und Österreich als böse Avantgarde. Schon 1988 saß Heinz-Christian Strache immer ganz vorn in der Loge des Burgtheaters: "In der Auseinandersetzung um mich und Bernhards 'Heldenplatz' versammelten sich diese rechten Lümmel. Begann das Heute damals schon? Komischerweise ist eben dieses Österreich heute Spitzenreiter sehr konservativer Politik, man baut hohe Mauern gegen die Flüchtlinge. Sonst hinkt Ihr Österreicher doch lieber ein bissl hinterher." Trotzdem sollte das Theater keinesfalls vernünftig werden: "Theater ist immer unvernünftig. Ich wüsste nicht, wie man heute im Theater auf einen Donald Trump reagieren kann. Ein neuer Shakespeare müsste her, um diese böse Missgeburt eines Alptraums zu fassen."

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Dostojewskis Spekulationsklassiker "Der Spieler" im Münchner Residenztheater ("Viel Leerlauf ist da im Getriebe", moniert SZ-Kritikerin Christine Dössel, in der FAZ fühlt sich Teresa Grenzmann von einem "Fest der Gleichzeitigkeiten" schön gefordert), René Polleschs Manzini-Studien "Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis" am Zürcher Schauspielhaus (NZZ), Jonathan Doves Oper "Marx in London" in Bonn (FAZ).
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Kunst

Martha Rosler: Cleaning the Drapes. Aus der Serie: House Beautiful: Bringing the War Home, c. 1967-72. © Martha Rosler.

Ein echtes Aha-Erlebnis hat Welt-Kritikerin Gesine Borcherdt in Martha Roslers Schau "Irrespectiv" im Jewish Museum in New York. Denn die Ausstellung zeigt ihr nicht nur die Werke einer großen feministischen Konzept-Künstlerin, nein sie ist viel mehr, insistiert Borcherdt: "Sie ist Zeugnis eines grandiosen Scheiterns der Kunst angesichts einer knallharten Realität - und zugleich Beweis für ihre unbändige Kraft, immer wieder aufzustehen. Seit den frühen Sechzigerjahren seziert Rosler Konsum, Krieg, Medien, Rassismus und Sexismus in messerscharf pointierten Collagen, Filmen und Installationen. Das Amerika von Donald Trump: Es war nicht ahnbar, als sie damit begann, Fotos von Opfern des Vietnamkrieges in die sauberen Wohnzimmer-Werbebilder der weißen Mittelschicht zu kleben. Und doch ist es heute, als hätte sich nichts geändert."

Weiteres: In Berlin hat das Guangdong Times Museum auf der Potsdamer Straße eine Dependance eröffnet, das im aus dem südchinesischen Guangzhou von Times Property betrieben wird, einem der größten chinesischen Immobilienentwickler, berichtet Julia Gwendoly Schneider in der taz. Aber die chinesischen Käufer scheinen noch nicht in Berlin zu sein: Christiane Meixner berichtet im Tagesspiegel von der Abschiedsaustellung "The Times they are A-Changing" der Galerie Bastian, die von Berlin nach London zieht: "Trotz oder wegen des Brexits, so ganz mag sich Aeneas Bastian da nicht festlegen."

Besprochen werden des Schweizer Malers Cuno Amiet im Kunstmuseum Solothurn (NZZ) und Nives Widauers Ausstellung "Blanche" im Weißen Haus in Wien (Standard).
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Literatur

Wolfgang Schneider hat für die FAZ das Berliner Hörspielstudio des Deutschlandradios besucht, wo Klaus Buhlert derzeit Thomas Pynchons postmodern-psychedelisches Paranoia-Epos "Die Enden der Parabel" fürs Radio umsetzt. So muss der Schauspieler Golo Eulert als Tyrone Slothrop den Gebrauch seiner Stimme auch beim Erbrechen sehr genau akzentuieren: Über eine Kloschüssel gebeugt, listet er auf, "was ihm alles hochkommt: 'Salat nach Art des Hauses mit French Dressing ...noch 'ne halbe Flasche Moxie und die nach dem Essen gelutschten Pfefferminzbonbons.' ... Wie wird das technisch gemacht, dass die Hörer gleich merken: Das ist jetzt keine Rede, sondern Slothrops innere Stimme? Wenn akustischer Raum um die Figur ist, wirkt es so, als würde sie sprechen. Also nimmt man Raum weg. Die 'innere Stimme' wird aufgenommen in einem mit Absorbern ausgestatteten Raum, in dem es keine Schallreflexion von den Wänden gibt. 'Geh mal in den Schalltoten!', heißt es dann."

In einem melancholisch mäandernden Essay für den Standard umkreist die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig Utopie und Dystopie: "Der Garten liegt um uns und in uns. Lasst uns garteln gehen, heißt es bei Candide. Eden ist verloren, und es bleibt die trostvolle Ablenkung im Garten. Ermüdung und Melancholie. Weil es den guten Ort nicht gibt, der in unseren hochkommunikativen Zeiten Übersicht und Sicherheit bedeuten würde. Solange der Mensch lieber auf Kosten der Leben der Mitmenschen existiert und seine Tätigkeit deshalb ins Unheil fortsetzt, gibt es kein gutes Leben."

Weitere Artikel: Die FAZ hat Ulrich Raulffs Abschiedsrede als scheidender Leiter des Literaturarchivs Marbach online nachgereicht. Im Standard spricht Mia Eidlhuber mit Matias Feldbakken über dessen neuen Roman "The Hills". Für die FR beugt sich Martin Oehlen über die in einem Band und in einem Online-Archiv gesammelten, "keineswegs leicht lesbaren" Goethe-Handschriften zum "Faust". Martin Reeh schreibt in der taz einen Nachruf auf den Schriftsteller Wilhelm Genazino (weitere Nachrufe hier). Im Freitag räumt Andreas Merkel Bücher vom Nachttisch, darunter Annie Ernaux' "Erinnerungen eines Mädchens".

Besprochen werden unter anderem Maria Stepanovas "Nach dem Gedächtnis" (SZ), journalistische Recherche-Comics von Correctiv.org (Tagesspiegel), Oleg Jurjews Gedichtband "Von Arten und Weisen" (Tagesspiegel), Davit Gabunias "Farben der Nacht" (Tagesspiegel) und neue Hörbücher, darunter Gert Heidenreichs Lesung von Kenzuo Ishiguros "Der begrabene Riese" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Andreas Platthaus über das Basho zugeschriebene Gedicht "Matsushima", dessen Wortlaut Erinnerungen an einen berühmten Song von Queen wachruft:

"Matsushima, ah!
A-ah, Matsushima, ah!
Matsushima, ah!"

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Design

Besprochen wird die Ausstellung "Gegen die Unsichtbarkeit - Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau 1898 bis 1938" im Japanischen Palais in Dresden (FAZ).
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Film

Ikone an ihrem Arbeitspatz: Ruth Bader Ginsburg (Koch Films)

Die 85-jährige Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg ist die Ikone der jungen Linksliberalen in den USA und eine der letzten liberalen Stimmen im Obersten Gericht. Jetzt kommt Betsy Wests und Julie Cohens Kino-Porträt der Juristin in die Kinos: Eine "liebevolle Hommage", die auf kritische Ausführungen allerdings auch "weitgehend verzichtet", hat Jungle-World-Kritikerin Heike Karen Runge gesehen. Porträtiert wird Ginsburg "als Ikone der Frauenbewegung und brillante Strategin", erklärt Andreas Busche im Tagesspiegel, "vor allem aber als Stimme der Vernunft." Von vielen "historischen Gänsehautmomenten" berichtet Swantje Karich in der Welt, so etwa diesem: "Ginsburg sitzt wie eingefroren am Mikrofon, Kopf, Hals, Oberkörper steif, in ihrem Rücken werfen Zuschauer ernste Blicke. 'Ich erwarte in meiner Lebenszeit drei oder vier Richterinnen auf der High-Court-Bank, Frauen mit ganz unterschiedlichen Werdegängen und Hautfarben', sagt sie selbstbewusst, klar, selbstverständlich. Dann ein Kameraschwenk - entlang einer Bank mit Männern in grauen Anzügen."

Auch tazlerin Silvia Hallensleben würdigt Ginsburg, findet den Film mitunter aber auch etwas nervig geraten: Er ist "so sehr von einem Horror Vacui getrieben, dass keine der vielen befragten Personen über einen Satz lang im Bild zu sehen ist, kein unbewegtes Bild länger als eine Sekunde im Fokus bleibt und hinter (fast) jedem verbalen Statement mindestens noch ein Piano mitklimpert. Das ist technisch professionell und kunstvoll gemacht, führt aber beim Zuschauen schnell zu einem Gefühl von medialer Besoffenheit." In den USA war der Film im übrigen ein Riesenerfolg, erklärt Susanne Lenz in der FR: "Das sagt auch etwas aus über die Sehnsucht nach anderen Identifikationsfiguren, als sie die Politik dort derzeit anbietet.

Weitere Artikel: Andreas Busche (Tagesspiegel) und Jenni Zylka (taz) berichten vom Europäischen Filmpreises, dessen wichtigste Kategorien in diesem Jahr fast ausschließlich an Pawel Pawlikowksis "Cold War" gingen. Für die Welt plaudert Elmar Krekeler mit Schauspieler Matthias Brandt (der in der Zeit über seine Leidenschaft für Archie Sheep schreibt) über dessen letzten Auftritt als Kommissar Hanns von Meufels im Münchner "Polizeiruf". Mit dessen Regisseur Christian Petzold hat sich Caroline Ströbele für ZeitOnline getroffen (mehr zum letzten Meufels-"Polizeiruf" hier). Im ZeitMagazin träumt Peter Jackson.

Besprochen werden Benedikt Erlingssons "Gegen den Strom" (Freitag, FR), Christian Rivers' SF-Spektakel "Mortal Engines" (SZ), Romain Gavras' auf Heimmedien veröffentlicher Film "Die Welt gehört dir" (SZ) und Rosa von Praunheims Goethe-Film "Männerfreundschaften" (FAZ).
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Musik

Mit "Equinoxe Infinity" hat Jean-Michel Jarre ein Album für das Streaming-Zeitalter gegen das Streaming-Zeitalter veröffentlicht, jubelt Max Dax analog-selig in der SZ. Hier "klingt seine Musik gleichzeitig retrofuturistisch wie versöhnlich, da Jarre auf eine geradezu provozierende Art am angeblich überkommenen Konzept des Albums festhält. ... Diese Veröffentlichung verweigert sich offensiv der Logik des Streams und somit der neuen Zeit, es funktioniert als Album mit einem expliziten Spannungsbogen, und ganz besonders funktioniert es in seinem Kontrastreichtum zwischen einer ruhigen A-Seite und einer aufgedrehteren B-Seite (wenn man das Album in seiner Vinylversion hört). Dass dieses Werk eines Auteurs die Musik der Zukunft sein soll, ist natürlich ein Treppenwitz. Ein guter allerdings." Insbesondere das Stück "Mouvement #10" entzückt Dax:



Weitere Artikel: Nantke Garrelts porträtiert im Tagesspiegel die Rapperin Akua Naru. Für die FR hat Stefan Michalzik einen Vortrag von Rainer Moritz über den Schlager besucht. Besprochen werden das Geburtstagskonzert des Duos GrauSchumacher zu Ehren von Bernd Alois Zimmermann (SZ), ein Konzert der Geigerin Janine Jansen (NZZ), das von Mitgliedern von The Notwist kuratierte Alien-Disko-Festival an den Münchner Kammerspielen (taz, SZ) und die umfangreiche CD-Edition mit dem Gesamtwerk der Ärzte (Berliner Zeitung).

Außerdem präsentiert Charlie Rigden auf The Quietus die besten Film-Soundtracks des Jahres. Auf Platz Eins: Jonny Greenwoods Musik zu Lynne Ramsays "You Were Never Really Here".


Archiv: Musik