Magazinrundschau

Im Knochenraum

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.10.2017. Anne Applebaum in der New York Review of Books über die Zukunft Europas, Gábor Schein in Elet es Irodalom über die Post-Orbán-Zeit, Wayne Bell in Quietus über seine Musique Concrète für das "Texas Chain Saw Massacre", Jiri Pehe in Novinky über den Geist Mitteleuropas und GQ über den Mord an Kim Jong-nam.

Gentlemen's Quarterly (USA), 04.10.2017

In der aktuellen Ausgabe des Magazins arbeitet Doug Bock Clark die Ermorderung von Kim Jong-uns in seiner Heimat in Ungnade gefallenem Bruder Kim Jong-nam am Flughafen von Malaysia auf. Demnach sollen die beiden Prostituierten, die Kim Jong-nam auf Geheiß das Nervengift VX ins Gesicht schmierten, geglaubt haben, bei einem Gag mitzuwirken. Die wahren Beweggründe liegen tiefer: "Wie der koreanische Gelehrte Nam erklärte, könnte Pjöngjang mit dieser grauhaften Tat in aller Öffentlichkeit eine Nachricht verbunden haben. Lange wurde vermutet, Jong-nam habe unter dem Schutz Chinas gestanden, um ihn im Fall einer Entthronung seines Bruders einzusetzen, um Chinas Interessen zu vertreten. Demnach wollte Pjöngjang die Welt schockieren und zugleich seine Grenzen abstecken, indem es das Gift in einem Airport, einem Ort der globalen Gemeinschaft versprühte. Nam: 'Kim Jong-un will so lange wie möglich regieren und als Supermacht wahrgenommen werden. Zu diesem Zweck muss er die Welt in Angst und Schrecken versetzen und mit seinen Waffen das Fürchten lehren. Das alles ist Teil eines großangelegten Plans.' Pjöngjang hat wegen des Attentats keine Konsequenzen zu befürchten. Die beiden in Malaysia auf ihr Todesurteil wartenden Frauen, sind unschuldig, glaubt Nam."

Novinky.cz (Tschechien), 27.09.2017

Der Publizist und Politologe Jiři Pehe spürt in einem großen Essay dem kulturellen und politischen Geist Mitteleuropas nach - in der Geschichte Österreich-Ungarns und in den Theorien deutscher Hegemonie. In der Literatur spielte es bei Kafka, Stefan Zweig, Bruno Schulz oder Gregor von Rezzori keine Rolle, ob der Verfasser aus österreichischer, galizischer, böhmischer oder ungarischer Region stammte. Auch die moderne Literatur und die Essayistik der Dissidenten  - Václav Havel Sławomir Mrożek, Milan Kundera und György Konrád und Adam Michnik - sei von einem gemeinsam Stil und Denken geprägt gewesen. "Warum jedoch", fragt Pehe schließlich, "ist von diesem mitteleuropäischen Geist und der natürlichen regionalen Zusammenarbeit so wenig übrig geblieben in der gegenwärtigen vierten Inkarnation Mitteleuropas? Warum hat sich das 'zurückgeschenkte' Mitteleuropa auf eine Kooperation im Rahmen der Visegrád-Gruppe beschränkt? Warum - obwohl Tschechen, Slowaken, Ungarn und Polen heute ganz frei zusammenarbeiten können - strahlt diese Region so wenig von dem aus, was sie vor hundert Jahren und während des Totalitarismus verbunden hat?" Und Pehe gibt selbst eine ernüchterte Antwort: "Es zeigt sich, dass die intellektuelle, kulturelle, aber auch politische Produktion in Mitteleuropa viel mehr in dem Modus 'gegen etwas sein' beziehungsweise gar in offener oder verhohlener Subversion verankert ist als in einer positiven Zusammenarbeit und der gemeinsamen Suche nach produktiven Lösungen."
Archiv: Novinky.cz

Quietus (UK), 29.09.2017

Die Wirkungsmacht des Horrorklassikers "Texas Chain Saw Massacre" liegt nicht nur in den grobkörnigen, verstörenden Bildern, sondern vor allem in der Tonspur, sagt im Interview Wayne Bell, der gemeinsam mit dem Regisseur, dem vor einem Monat verstorbenen Tobe Hooper, für den Soundtrack des Films verantwortlich war. Bell sieht seine Arbeit ästhetisch in der Nähe der Musique Concrète: "Erstens, weil die Musik abstrakt war, aber auch, weil sich der Soundtrack auf der Grenze zwischen Musik und Geräusch bewegt. Eine weitere, wichtige Gemeinsamkeit ist der instrumentelle Gebrauch der Montage für die Komposition. ... Wir legten mehrere Sessions hin und spielten Dinge, die für uns richtig klangen. Im wesentlichen erstellten wir eine Klangbibliothek. Wir spielte nicht Musik zu Bildern ein, sondern gingen eher so vor, dass wir sagten 'Jetzt wird es spannend', "jetzt befinden wir uns im Knochenraum' oder 'jetzt findet die Hatz statt'.' Die Textur der Musikspur fühlt sich unbehaglich an, was mit den verschiedenen Instrumenten zusammenhängt, die dafür genutzt wurden. ... 'Das manipulierte Piano ist so ein Beispiel dafür, wie man ein Musikinstrument einfach völlig gegen den Strich nutzen kann, um ihm andere Töne zu entlocken. Zumindest war das in etwa das, was wir da taten. Wir hatten ein Dulcimer, das wir einfach nur gefoltert haben. Wir haben es förmlich traktiert, so nach der Art, wie man es dehnen kann, damit es neue Klänge von sich gibt, die es üblicherweise überhaupt nicht von sich geben würde.'" Das Resultat klingt auch ohne Bilder beeindruckend:


Archiv: Quietus

European Council of Foreign Relations (Europa), 22.09.2017

In einem Essay für den Thinktank European Council of Forein Relations legt Francisco de Borja Lasheras dar, warum das katalanische Referendum nicht den internationalen Mindestanforderungen für eine Nationenbildung gehorcht. Weder der Vergleich mit den baltischen Ländern, den die katalanischen Sezessionisten gern bemühen, noch mit dem Kosovo oder auch mit Schottland verfängt: "Die katalanische Frage ist kein David-versus-Goliath-Konflikt, sondern eine komplexe Verschachtelung demokratischer Legitimität: Gegeneinander stehen die aktuelle Mehrheit im katalanischen Parlament und die aktuelle Mehrheit im spanischen Parlament. Viele Katalanen (wenn auch nach den meisten Umfragen nicht die Mehrheit) wollen ganz klar Unabhängigkeit, aber viele Spanier wollen über die Zukunft ihres Landes mitbestimmen. Auch wenn der legalistische Ansatz in Madrid auf starke Kritik stößt (zum Teil zurecht), so bleibt er doch unfehlbar demokratisch begründet: Rajoy hat kein Mandat, eine Abstimmung über Selbstbestimmung in Katalonien zuzulassen, ohne dass die spanische Verfassung von Grund auf reformiert wird - und dafür ist die Unterstützung der Spanier vonnöten."

Linkiesta (Italien), 02.10.2017

Ganz anders sieht es Michele Boldrin in Linkiesta, der daran erinnert, dass ein bereits einmal gefundener Kompromiss mit Katalonien, das 2006 ausgehandelte Autonomiestatut, das auch für andere spanische Regionen galt, durch Obstruktion des Partido Popular und eine Verfassungsgerichtsentscheidung rückgängig gemacht wurde. Sowohl das spanische, als auch das katalanische Parlament hatten diesem Kompromiss zugestimmt, der beispielhaft für den Status von Regionen hätte stehen können: "Aber so kam es nicht... Das Projekt der Unabhängigket wurde als Reaktion auf diesen Bruch mit dem Pakt von 2006 geboren und führte zu dem Referendum. Legitimiert das das Votum für die Unabhängigkeit? Ich glaube nicht, aber wesentlicher ist..., dass es dafür die politische Begründung liefert. Dabei gilt heute wie 1934 und nach den Jahren der post-franquistischen Verfassung, was Ortega y Gasset schon 1932 unterstrich: dass es sich um ein politisches, kulturelles und soziales Problem handelt, das beide Seiten 'aushalten' und in seiner historischen Entwicklung politisch angehen müssen."
Archiv: Linkiesta

New York Review of Books (USA), 12.10.2017

Schön, dass alle genau wissen, wie Europa zu helfen wäre, meint Anne Applebaum nach Lektüre von James Kirchick, Ivan Krastev, Giles Merritt und Loukas Tsoukalis. Aber hat jemand auch einen Plan, wie all die Ideen umgesetzt werden können? "Um eine parlamentarische Reform durchzudrücken, eine echte europäische Armee aufzubauen, Unterstützung für ein größeres Budget oder eine Zentralbank zu gewinnen, braucht Europa Institutionen, denen gegenüber die Leute loyal und gebunden sind. Kleine europäische Nationen mit genug Vertrauen auszustatten, dass sie in einer globalen Welt gut bestehen können, genug Wachstum zu erzeugen, damit es auch den Menschen im ländlichen Spanien und Bulgarien gut geht, eine richtige Grenzbehörde aufzubauen, mit der sich die Leute sicher fühlen, die Südeuropäer zu überzeugen, dass sie die russische Bedrohung ernst nehmen, und die Osteuropäer die Flüchtlingskrise - all das erfordert einen Grad an politischer Energie, der auf europäischer Ebene komplett fehlt, und in vielen europäischen Ländern auch auf nationaler."

Weiteres: Linda Greenhouse lässt sich von der Historikerin Marjorie J. Spruill daran erinnern, wie Ende der siebziger Jahre das von der National Women's Conference unter der großen Bella Abzug in die Wege geleitete Equal Rights Amendment gekippt wurde: Obwohl beide Parteien im Kongress dafür waren, tyranniserte die Christian Coalition den Kongress so lange, bis er einknickte. James Fento widmet sich dem mexikanischen Barockmaler Cristóbal de Villalpando. Hayden Pelliccia liest Übersetzungen von Homers "Ilias".

168 ora (Ungarn), 04.10.2017

Der Schauspieler Gergely Bánki spricht im Interview mit Péter Cseri über die Aufgaben des Theaters in der heutigen Zeit: "Wir leben in aufregenden Zeiten. Das herrschende Regime machte die ungarische Gesellschaft zu einem Versuchslabor. Wir können Entwicklungen in Echtzeit studieren, die wir bisher nur aus Geschichtsbüchern kannten. Einerseits ist es bitter, andererseits ist es sehr inspirierend zu beobachten, wie ein neues System entsteht und wie die Menschen darauf reagieren. (...) Die Klassiker der Dramenliteratur sind alle solche Werke, die sehr scharf auf die Probleme ihrer Zeit reagierten. Man muss diese sich nur auf unserer Zeit reimen lassen. (...) Ich mag die feinen Verweise sehr, kann es aber nicht ausstehen, wenn sie den Zuschauer nicht erreichen. Gegenwärtig ist die Situation immer weniger fein und immer weniger differenziert. Eine Inszenierung muss sich dieser schwarz-weißen Welt anpassen. Sich zu bestimmten Werten zu bekennen und andere in Frage zu stellen, ist nicht Politisieren. Das ist die Grundaufgabe des Theaters."
Archiv: 168 ora

BBC Magazine (UK), 02.10.2017

Die BBC porträtiert in einer Reportage die fünfzehn Bewohner des 21. Stock im Londoner Grenfell Tower. Eine fünfköpfige Familie aus Marokko und eine achtzigjährige Frau von den Philippinen kamen bei dem Brand im Juli ums Leben, die anderen überlebten: "Das Feuer im Grenfell Tower tötete zig Menschen und machte aus dem Haus eine verschmorte Ruine. Es erinnert an einen der dunkelsten Tage in der Geschichte des modernen England. Jedes der Stockwerke erzählt eine andere Geschichte - von London und seinen Einwohnern, von Migration und Gentrifizierung, von Leben die gelebt wurden und unter tragischen Umständen zu Ende gingen. Der Grenfell Tower war ein sehr lebendiger Mikrokosmos in der englischen Hauptstadt."

Mehr dazu: Laut dem Guardian liegt die Zahl der identifizierten Opfer mittlerweile bei 68, darunter 18 Kindern - Schätzungen zufolge gibt es noch mindestens 13 nicht identifizierte Tote. In einem weiteren Artikel beleuchtet der Guardian die politischen Hintergründe und offenen Fragen um den Brand.
Archiv: BBC Magazine

Pitchfork (USA), 25.09.2017

Um finanziell ertragreich zu sein, orientierten sich Ästhetik und Struktur von Popmusik schon immer stark an den medialen Bedingungen des Rahmens, in dem sie primär Wirkung entfalten sollte. Im Streaming-Zeitalter, in dem nervöse, rasch gelangweilte Hörer mit wenigen Fingerbewegungen in den endlos gefüllten Archiven einfach - schwupps - zum nächsten Song wechseln können, gilt dies ganz besonders, erklärt Marc Hogan. "Damit ein Stream für die Chartauswetung und, Berichten zufolge, auch für die Tantiemenausschüttung in Frage kommt, muss der jeweilige Song mindestens 30 Sekunden lang gespielt werden. Zwar war der Anfang eines Popsongs schon immer wichtig. Doch beim Streamen ist er wichtiger denn je. Die mitreißenden Parts kommen rasch und in hoher Frequenz. Häufig hören wir eine beeindruckende Einführung, gefolgt von einer den Suspense steigernden Abfolge wiederholter Hooks. Einige Songs, wie die Originalversion von 'Despacito' vertrauen darauf, dass die Erwartungshaltung der Zuhörer sind langsam steigert. Andere Songs, wie der 'Despacito'-Remix mit Justin Bieber, der seinen Gaststar ziemlich schnell einführt, legen sofort los."
Archiv: Pitchfork
Stichwörter: Streaming, Popmusik, Remix

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.10.2017

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Gábor Schein meldet sich nach langer Krankheit wieder zurück mit Überlegungen, wie das öffentliche Leben - inspiriert durch die Künste - in einer Post-Orbán-Zeit aussehen sollte: "Einen möglichen Weg für die Politik können die Künste aufzeigen, denn Fiktion gehört am ehesten zum Bereich der Künste. Sie waren sich immer darüber im Klaren, dass sie mit Schwindel arbeiten, dass der König nackt ist. Denn der König ist immer nackt. Die Logik einer der Wahrheit verpflichteten Kunst bedeutet, dass sie das zeigt, was in der extremsten Fiktion der Wahrheit verborgen bleibt, was um jeden Preis versteckt werden sollte. Dies ist das Verlassen-Sein selbst, die Armut. (...) Jene Politik, die Gemeinschaft und Republik will, muss die Armen in den Raum der Tat und Repräsentation bringen, sie muss ihnen helfen, ihre eigene politische Anerkennung zu erlangen. Jene Politik, die ein gemeinsames Land will, muss sowohl in sozialer als auch in kultureller Hinsicht emanzipatorisch sein. Es bedarf wahrer Emanzipation, frei von jeglichem Moralisieren, die den Armen hilft, sich zu organisieren, so dass auch sie in den Raum der Öffentlichkeit eintreten können."

New Yorker (USA), 09.10.2017

Wie geht Mexiko um mit einem amerikanischen Präsidenten, der dem Land eine Mauer vorsetzen möchte? Für eine Antwort blickt Jon Lee Anderson im neuen Heft zurück auf das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, USA und Mexiko (NAFTA): "Der landwirtschaftliche Sektor im Süden Mexikos wurde zerstört. Dörfer und Städte, die auf den Absatz ihrer Waren angewiesen sind, mussten zusehen, wie ihre Märkte zusammenbrachen und durch Drogenkartelle ersetzt wurden. Zugleich wurde Mexiko von den USA abhängig wie nie. Obwohl die Landwirtschaft ihre Ware nicht los wird, wird amerikanisches Getreide importiert … Als Ergebnis der wirtschaftlichen Abhängigkeit (zu der auch gehört, dass Mexikaner massenhaft in die USA emigrieren und die Löhne nach Hause senden, d. Red.) nahm der Antiamerikanismus aber in den letzten Jahren ab. Nun haben Trumps Deportations- und Steuerdrohungen die Arbeitsmigranten und ihre Familien zu Hause in Angst versetzt. Der Historiker Enrique Krauze: 'Die Popkultur macht sich mit Trump-Piñatas und -Masken lustig, aber der Normalbürger hat Angst. Trumps Aggression war ein Schock.'"

Weiteres: Kelefa Sanneh denkt über die Grenzen der Diversität nach. Janet Malcolm porträtiert die Fernsehmoderatorin Rachel Maddow vor, in deren TV-Show Liberale sich so frei fühlen dürfen wie nirgends in Trumpworld. Anthony Lane sah im Kino Sean Bakers Film "The Florida Project" und Ritesh Batras "Our Souls at Night" auf Netflix. Dan Chiasson liest David Yaffes neue Joni-Mitchell-Biografie "Reckless Daughter". Lesen dürfen wir außerdem Sarah Shun-lien Bynums Erzählung "Likes".
Archiv: New Yorker