9punkt - Die Debattenrundschau

Wo Gewalt wieder ein Ideal ist

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2014. In der FAZ erlebt Swetlana Alexijewitsch die Rückkehr des roten Menschen. Slate fürchtet, dass Europas Sonne lange nicht über der Ukraine scheinen wird. Techcrunch fragt, was Google und Facebook mit Drohnen wollen. Die SZ will nicht an digitale Kultur glauben, höchstens an digitale Geschäftsmodelle. Die NZZ stellt allerdings Eutopia vor, ein Online-Magazin für europäische Debatten. Und Glenn Greenwald, für dessen NSA-Berichte der Guardian jetzt den Pulitzer Preis bekommen hat, will vor dem Untersuchungsausschuss aussagen, wie er auf Zeit Online erklärt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.04.2014 finden Sie hier

Überwachung

Das Wall Street Journal berichtet, dass Google den Drohnen-Hersteller Titan Aerospace gekauft hat, hinter dem auch Facebook her war, bis es sich mit dem britischen Pendant Ascenta zufrieden gab. Bei Techcrunch versucht sich Darrell Etherington einen Reim auf das Geschäft zu machen: "According to the WSJ, Google will be using Titan Aerospace's expertise and tech to contribute to Project Loon, the balloon-based remote Internet delivery project it's currently working on along these lines. That's not all the Titan drones can help Google with, however. The company's robots also take high-quality images in real-time that could help with Maps initiatives, as well as contribute to things like 'disaster relief' and addressing 'deforestation', a Google spokesperson tells WSJ. The main goal, however, is likely spreading the potential reach of Google and its network, which is Facebook's aim, too. When you saturate your market and you're among the world's most wealthy companies, you don't go into maintenance mode; you build new ones."

In Zeit online unterhalten sich Patrick Beuth und Lisa Caspari ausführlich mit Glenn Greenwald, dessen Enthüllungen im Guardian über den NSA-Skandal soeben mit dem Pulitzer Prize prämiert wurden. Greenwald bekundet Interesse, vor dem deutschen NSA-Untersuchungsausschuss als Zeuge aufzutreten: "Ich würde vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagen, solange meine Rechte als Journalist berücksichtigt werden. Über das, was ich berichtet habe, kann ich sprechen. Über das Material, das mir meine Quelle gegeben hat und worüber ich noch nicht berichtet habe, aber nicht. Das Beste, was die Bundesregierung oder das Parlament tun könnten, wäre, Snowden Asyl zu gewähren und in Deutschland zu befragen."
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Europa

Von einem Russland im Rausch der Aggression erzählt Friedenpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in der FAZ: "Wir haben nicht die Krim wiederbekommen, sondern die Sowjetunion. Die Sprache der Gewalt durchtränkt das ganze Leben. Morgens schaltet man den Computer an und liest immer das Gleiche: Die Russen kommen, die Russen haben sich erhoben. Überall, wo Gewalt wieder ein Ideal ist, findet sich auch ein Karadžić, der die Leute davon überzeugt, dass man mit der Maschinenpistole Gutes tun kann. Die roten Fahnen sind wieder da, der "rote" Mensch ist wieder da. Alles erweist sich als quicklebendig. Fünfzehn Jahre hat Putin daran gearbeitet. Tag für Tag reanimierte das Fernsehen die sowjetischen Ideen. Und wir dachten, sie wären tot."

In Slate meint Fred Kaplan, dass Putin die ukrainische Zentralmacht in Kiew schon so zermürbt hat, dass er keine Panzer mehr loszuschicken braucht, um das Land zu zerschlagen: "Wahrscheinlich will Putin gar nicht einmarschieren, wenn er seine Ziele mit anderen Mitteln erreichen kann - und Turtschinows Einverständnis mit einer föderalen Ukraine mag ein großer Schritt hin zu diesem Ziel sein. Ja, es würde wahrscheinlich das Ende - oder zumindest eine sehr lange Verschiebung - der ukrainischen Hoffnungen auf einen Platz in der europäischen Sonne bedeuten. Denn Putin würde seinen Stützpunkt im Osten der Ukraine - dem industriellen Herz des Landes - als einen Hebel benutzen, um die andere Hälfte des Landes daran zu hindern, aus Moskaus Orbit zu treiben."

Die Auseinandersetzung in der Ukraine wird auch mittels unterschiedlicher identitätsstiftender Narrative geführt, erläutert die Historikerin Liliya Berezhnaya in der FR anhand von Kiew, das der Metropolit Aleksandr als "Neues Jerusalem" und Putin als die "Mutter der russischen Städte" bezeichnet: "Die politische Instrumentalisierung von Religion ist an der Tagesordnung - auch durch die Wiederholung der beiden widerstreitenden Kiew-Narrative. Ein sakraler Mythos aus Geschichte und Erinnerung wird in einem säkularen Konflikt instrumentalisiert. Solange dies geschieht, ist kein Ende des Informations- und Propagandakonflikts um die Ukraine zu erwarten."

In der SZ versteht Daniel Brössler nicht, warum Europa so wenig tut, um Putin zu bremsen.
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Kulturpolitik

Cornelia Geissler mokiert sich in der Berliner Zeitung über den designierten Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner, der auf einer Veranstaltung des E-Book-Dienstleisters Readbox vergangene Woche die Verlagsbranche dazu aufforderte, den Aufschwung von E-Books nicht durch hohe Preise und unzeitgemäße Vertriebsformen zu drosseln (der Buchreport berichtete). Trotz wachsender E-Book-Zahlen ist das gedruckte Buch in Deutschland nach wie vor ein höchst attraktives Produkt, meint Geissler: "Die Branche wäre dumm, würde sie in vorauseilendem Gehorsam ihr Engagement für das klassische Produkt vernachlässigen und sich allein auf das digitale konzentrieren. Sie würden sich von den Augen der Leser abwenden."

Andrian Kreye klagt in der SZ, dass es bei den Debatten um digitale Kultur gar nicht um Kultur gehe, sondern um Logistik und Geschäftsmodelle: "Es war der Sieg der Betriebswirtschaft und Bürokratie. Das zeigt sich bei den Siegern", meint Kreye, bei Bill Gates, Jeff Bezos, Sergei Brin und Larry Page.
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Medien

Es gibt ein neues Online-Magazin für europäische Debatten, meldet Roman Bucheli in der NZZ: Eutopia. Finanziert wird es von einem Konsortium europäischer Verlage, darunter S. Fischer und Le Seuil. Die Redaktion ist in Rom, die Leitung liegt in den Händen des Italien-Korrespondenten der Libération, Eric Jozsef: "Man wolle einen Raum schaffen, wo die europäischen Bürgerinnen und Bürger sich über die wichtigsten Fragen ihrer Zukunft informieren lassen können - 'von den hervorragendsten Autoritäten aus jedem Gebiet': Erörtert werden Themen wie Immigration oder Wohlfahrt, das System der politischen Parteien in Europa oder das Verhältnis von Markt und Staat. Historische Essays sollen erscheinen ebenso wie Reflexionen zur Kultur und zu Fragen europäischer Identität."

Außerdem: In der NZZ stellt Tobias Feld Journalisten vor, die nach dem Ende ihrer Regionalzeitung einfach eine eigene neue Regionalzeitung gründeten.

Der Guardian kann stolz auf sich und seine Berichterstattung zu Edward Snowden und der NSA sein. Jetzt hat er dafür zusammen mit der Washington Post den Pulitzer-Preis bekommen, wie er selbst meldet und dabei noch einmal auf die wichtigsten Artikel zur Affäre verlinkt. Hier die weiteren Preise, die zum Beispiel an den Boston Globe und Donna Tartt gingen.
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Geschichte

Die Finnin Elisabeth Rehn war die erste Verteidigungsministerin der Welt. In der taz erzählt sie Anne Haeming von ihrer ungewöhnlichen Karriere: "Sie sagten sich: Wenn wir als erste weltweit eine Frau auf diesen Posten setzen, passt das zu unserem liberalen Parteiimage, das bringt uns Aufmerksamkeit. Außerdem kann sie nicht viel falsch machen, es passiert ja gerade nichts in der Welt. Na ja: Im Juni 1990 wurde ich ernannt, im August marschierte der Irak in Kuwait ein. Wir waren damals Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Also war ich im Nu in einer sehr wichtigen Position. Und konnte mein Wissen und meine Führungsstärke unter Beweis stellen."

Außerdem: Eckhard Fuhr lässt sich für die Welt vom rheinland-pfälzischen Landesarchäologen Ulrich Himmelmann in Speyer den "Barbarenschatz" zeigen, den ein Raubgräber entdeckte. Und Alan Posener blättert für die Welt durch Heinrich Kuhns Fotoband "Armutszeugnisse": Die Bilder waren damals Propaganda für Willy Brandts Abrisspolitik, aber auch "ein Antidot gegen den sentimentalisierenden Blick auf die Berliner Mietskaserne, der seit Erscheinen des Bilderbuchs 'Die gemordete Stadt' von Wolf Jobst Siedler 1964 immer mehr unseren Blick auf die Stadterneuerung der Nachkriegsjahre - nicht nur in Berlin - bestimmt hat", so Posener.
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Weiteres

"Für Unterhaltung war gesorgt" bei der prominent besetzten Tagung über "Politische Romantik" in Frankfurt, berichtet Franz Viohl in der Berliner Zeitung, doch der Erkenntnisgewinn für die Gegenwart war letztlich überschaubar: "Das mag auch daran liegen, dass eine 'Politik der kleinen Schritte', die Rettungsschirme auflegt und Alternativlosigkeit zur Ideologie erhoben hat, mit politischer Leidenschaft schwer vereinbar ist." Sieglinde Geisel war für die NZZ auf der Tagung und stellte fest, dass doch viele Fragen "auf seltsame Weise ins Leere liefen". In der FR schwärmt Christian Thomas indes höchst angeregt von der "famosen Runde", insbesondere von "der Politikerin, nein, exquisiten Goethekennerin Sahra Wagenknecht".

In der taz schreibt Cord Riechelmann den Nachruf auf den politischen Theoretiker Ernesto Laclau, der am Sonntag in Sevilla gestorben ist.
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