Im Kino

Schinkenbrot, Marmeladenbrot

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Fabian Tietke
11.05.2016. Franz Müller schickt in seinem neuen kommunikativen Experimentalfilm "Happy Hour" drei Deutsche Männer in irische Kneipen. Tomer Heymann porträtiert in seinem begeisternden Tanzfilm den israelischen Choreografen Ohad Naharin.


In Irland gibt es noch jede Menge Kneipen, in denen alle Alters- und (sonstwie differenzierte) Bevölkerungsgruppen zusammenfinden, sich einigermaßen voraussetzungslos begegnen - das ewige Halbdunkel ihrer oft weit ausladenden, dank getönter Fensterscheiben phobisch jede Spur von Tageslicht bannenden Räumlichkeiten macht im Verbund mit dunklen, dickflüssigen Biersorten alle gleich. Und auch: alle zumindest ein bisschen neugierig aufeinander. Selbst Sprachdifferenzen sind unter diesen Voraussetzungen kaum unüberwindbar, ganz im Gegenteil können sie einen produktiven Widerstand bilden, der erst ein Gespräch, ein Kennenlernen, einen Flirt in Gang bringt.

Drei deutsche Männer, HC (Alexander Hörbe), Wolfgang (Thomas Licht) und Nic (Mehdi Nebbou), schickt Franz Müller in seinem neuen Film "Happy Hour" auf einen Irlandtrip. An einem ihrer ersten Abende landen sie in einer Kneipe, und kaum dass sie sich niedergelassen haben, erhalten sie Gesellschaft von drei Irinnen, die sie erst zur gemeinsamen Teilnahme am Pub Quiz und später in eine Wohnung einladen. Allerdings bleibt ausgerechnet HC, der beim Quiz alle Fragen richtig beantwortet und wegen dessen Beziehungsende die Gruppe die Reise überhaupt unternommen hatte, am Ende der Nacht alleine auf dem Sessel zurück.

Die Machtverhältnisse und zentralen Konfliktlinien der Dreiergruppe sind schnell klar. Wolfgang (der einem phänomenal schnell auf die Nerven geht) ist der selbsterklärte und vorderhand reichlich autoritäre Anführer der Gruppe; der einzige der drei außerdem, der einen Begriff von Männlichkeit hat, und zwar keinen besonders sympathischen. Im ersten Satz, der überhaupt im Film gesprochen wird, meint er zu HC: Ich hätte an Deiner Stelle meiner Frau einfach eine runtergehauen. Nic (der einem nicht ganz so schnell, irgendwann aber ziemlich gründlich auf die Nerven geht) ist das Gegenbild: ein ewiger Scherzkeks und Frauenheld, der sich durchs Leben mogelt, ohne zu bemerken, dass andere unter seinem Leichtsinn zu leiden haben. Dazwischen der rundliche, sanfte, weiche HC, der sich, während sich seine Kumpels in einem erotischen Dreieck verhaken, manchmal fast komplett aus dem Film zurückzieht, seine Aktivitäten darauf beschränkt, mal ein Schinkenbrot, mal ein Marmeladenbrot zu essen.



Wohliges Befindlichkeitskino wird daraus nie auch nur ein bisschen, verquältes Seelenstriptease zum Glück ebenfalls nicht (obwohl einmal durchaus alle Hüllen fallen). Überhaupt ist die Irlandreise der drei Männer im knapp mittleren Alter für "Happy Hour" mehr Mittel als Zweck, beziehungsweise mehr Prämisse als Plot; sie stellt einen eher lose skizzierten denn auserzählten Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen sich eine Reihe kommunikativer Situationen ergeben. Die werden nicht stringent, auf einen narrativen Endpunkt hin durchgearbeitet, sondern locker nebeneinander gestellt: Eifersuchtszenen, diverse Formen gekränkter Eitelkeit, überhaupt viel Streit, wenig Versöhnung, viel passive, gelegentliche aktive Aggression. Zwei Blicke, die sich hinter dem Rücken eines Dritten Treffen. Angespannte Autofahrten. Enthemmte Autofahrten. Viele Kneipenszenen. Den Kitt bilden schöne Gitarrenmusik und umwerfend grüne, manchmal regelrecht feucht-dampfende Irlandbilder.

In seinen besten Momenten - und diese besten Momente machen glücklicherweise einen Großteil des Films aus - funktioniert Franz Müllers Film selbst wie ein Abend in einer irischen Kneipe. "Happy Hour" ist ein Film, der es sich immer wieder leistet, Dinge einfach mal auszuprobieren. Improvisation ist in Müllers Filmen stets zentral; es geht dabei freilich nie um den bloßen Eindruck von Authentizität, sondern um ein neugieriges, großzügiges, fast schon experimentelles Verhältnis der Regie zu den Darstellern: Die Szenen, in denen Müller es zulässt, dass Gespräche in gefühlt minutenlange Lachanfälle ausarten, oder in denen er den Schauspielern gleich mehrmals tatsächlich minutenlang beim Singen zuhört, sind keine bloßen Abschweifungen, sondern der eigentliche Kern des Films; weil sich in ihnen ein genuin filmischer Überschuss artikuliert, der sich allen Kontrollinstanzen der Kinoapparatur entzieht.

Aus dieser Perspektive ist "Happy Hour" vielleicht nicht ganz so wagemutig wie Müllers letzter Film "Worst Case Scenario". Beim fragileren Vorgänger war der Rahmen selbst instabil geworden, die Darsteller mussten ihre Rollen immer wieder selbst neu erfinden, und neue erotische Konstellationen ergaben sich fast im Minutentakt. In (dem dabei freilich durchweg angenehm relaxten) "Happy Hour" gibt es ein deutlich engeres figurenpsychologisches Korsett, und eine vielleicht etwas zu eindimensionale Geschlechteranordnung: auf der einen Seite die deutschen Männer, auf der anderen die irischen Frauen. Beziehungsweise vor allem eine irische Frau, die blonde Kat (Susan Swanton), der es freilich mit ihrer leicht distanzierten, gelegentlich spöttischen Art wunderbar gelingt, die Routinen des Männertrios aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Lukas Foerster

Happy Hour - Deutschland, Irland 2015 - Regie: Franz Müller - Darsteller: Mehdi Nebbou, Simon Licht, Alexander Hörbe, Susan Swanton, Christine Deady - Laufzeit: 95 Minuten.


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Ein verletzter Knöchel brachte Ohad Naharin zur Unterhaltungstruppe der israelischen Armee. Es sollte die erste Station sein, in der Naharin nicht nur privat, sondern öffentlich und zudem nicht nur selbst tanzte, sondern Choreografien für eine ganze Truppe entwarf. In den Filmaufnahmen aus jener Zeit, die "Mr Gaga", Tomer Heymanns filmisches Porträt von Naharin, zeigt, sieht man fünf junge Männer in karierten Jacketts auf der Bühne herumhüpfen. Fünf lustige Tanzsoldaten - ein seltsamer Einstieg für einen der wichtigsten Tänzer und Choreografen des zeitgenössischen Tanzes.

Nach dem Ausscheiden aus der Armee organisierte Naharins Mutter ein Vortanzen bei der Batsheva Dance Company. Bei einem Gastspiel in Israel entdeckte ihn die Choreografin Martha Graham und Naharin ging mit ihr und ihrem Ensemble nach New York. Naharins Suche nach einer Ausbildung jenseits der klassischen Tanztechniken führte über mehrere Stationen zu einem eigenen Ensemble, das er für einzelne Projekte zusammentelefonierte.

Tomer Heymanns "Mr Gaga" ist mehr als ein Porträt Naharins. Anhand von dessen Werdegang als Tänzer und Choreograf gibt der Film einen Abriss der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes in Israel und den USA von den 1970er Jahren bis heute und arbeitet zugleich Naharins Sonderstellung heraus. 1990 kehrte Naharin als künstlerischer Leiter der Batsheva Dance Company nach Israel zurück und entwickelte mit dem Ensemble eine eigene Bewegungssprache - genannt Gaga. Gaga unterscheidet sich von den bis dahin üblichen Tanzformen vor allem dadurch, dass es keine wirkliche Technik, sondern eher eine Sprache oder Methode ist, bei der die Tänzer_innen Bewegungen aus Bildern entwickeln.



Tomer Heymanns Film beginnt mit Aufnahmen einer Probe, bei der eine Tänzerin sich als Teil einer Choreografie fallen lassen soll. Immer wieder korrigiert Naharin Details, bis die Bewegung nicht mehr nach kontrolliertem Ablegen, sondern nach Fallen aussieht. Neben Tanzszenen und Interviews mit Naharin selbst, seinen Eltern und Weggefährten verwendet Heymann für "Mr Gaga" private Filmaufnahmen und Filmmaterial aus dem Archiv der Batsheva Dance Company. Heymann nutzt den Kontrast zwischen den Materialien geschickt als strukturierendes Element: die nüchterne Ästhetik der privaten Filmaufnahmen kontrastiert mit den beeindruckenden Ausschnitten aus aktuellen Choreografien Naharins, die sich schon durch ihre Textur und die hohe Auflösung von den Archivaufnahmen unterscheiden.

Anders als Wim Wenders' Film über Pina Bausch zielt "Mr Gaga" weniger auf das schwelgende Eintauchen in die Choreografien Naharins, als dass er versucht, die Ideen Naharins und die Faszination des Regisseurs für dessen Arbeit im Wechselspiel der Materialien verständlich zu machen. Im Pressetext berichtet Heymann, dass der Film über mehr als acht Jahre hinweg entstand und einige der Materialien lange vor dem konkreten Filmprojekt aufgenommen wurden. Die zwei schwierigsten Dinge bei der Arbeit an dem Film seien gewesen, Naharins Vertrauen zu gewinnen, damit dieser seine privaten Filmaufnahmen zur Verfügung stellt und dessen Erlaubnis zu bekommen, mit der Kamera bei den Proben dabei sein zu dürfen.

Die Mühen haben sich gelohnt: die Aufnahmen von den Proben, die Heymann und der Kameramann Itai Raziel gelungen sind, geben einen Eindruck von der Präzision und Intimität der Arbeit Naharins und der Tänzer_innen. In einer der schönsten Tanzszenen des Films (einem Ausschnitt aus der Choreographie "Naharin's Virus") stehen sechzehn Tänzer_innen verteilt auf einer Bühne. Zu Breakcore entwickelt die Choreographie eine Spannung zwischen Gruppenkonstellationen und Soli, lässt die Tänzer_innen fließend zwischen Vor- und Hintergründen wechseln.

Die Erinnerungen Naharins an seine Kindheit im Kibbuz und an seine Zeit in der Unterhaltungstruppe der Armee erden das Porträt durch das Spannungsverhältnis zwischen internationaler Tanzszene und den spezifischen Erfahrungen Naharins in Israel. Der Film überwindet scheinbar spielerisch die Distanz und Strenge, die Tanzaufführungen oft prägt, und macht gerade darin seine Wertschätzung vor der Leistung des Ensembles und seines Choreographen deutlich. Heymann ist mit "Mr Gaga" einer der mitreißendsten Tanzfilme der letzten 20 Jahre gelungen.

Fabian Tietke

Mr. Gaga - Israel 2015 - Regie: Tomer Heymann - Laufzeit: 100 Minuten.