Im Kino

Neurosen verfeinern

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
29.04.2015. Annekatrin Hendels Porträtfilm "Fassbinder" erweist sich trotz Youtube-tauglichem Interviewmaterial als Schnellschuss mit Rammstein-Musik. Marjane Satrapis "The Voices" identifiziert sich mit der Schizophrenie seines Protagonisten und ist am interessantesten, wenn seine Protagonisten versuchen zu kommunizieren.


"Hier kommt die Sonne", dröhnt es laut. Rammstein also. Dazu hochfrequente Montagen prägnanter Momente aus den Filmen Rainer Werner Fassbinders. Es sind gewissermaßen verdichtete Schaffenspassagen, die Annekatrin Hendels Porträt- und Gesprächsfilm über den großen Filmemacher strukturieren. Und worin bestand gleich nochmal der Zusammenhang zwischen der teutonisch alles wegfegenden Brachial-Wucht der Ostberliner Auch-nicht-mehr-ganz-Kontrovers-Metaller und den eben doch ästhetisch oft spröde reduzierten, konzentrierten, sehr westdeutschen Filmen Fassbinders? Man kann sich über solche ästhetischen Entscheidungen lange den Kopf zerbrechen, die nächstliegende Antwort fällt relativ simpel aus: Bereits 2011 hat Hendel einen Film über Christian "Flake" Lorenz gedreht, seines Zeichens Rammstein-Keyboarder. Warum also nicht gleich die eh schon bestehenden Connections belasten? Nicht zuletzt kommt das auch der Tantiemenkasse der Band zugute.

Wenn an einem im Sektor des filmvermittelnden Films hierzulande kein Mangel besteht, so sind es Dokumentarfilme über Rainer Werner Fassbinder. Nicht zu verwechseln ist Hendels verführerisch ähnlich betitelter Film mit Christian Braad Thomsens "Fassbinder - Lieben ohne zu fordern", der dieses Jahr auf der Berlinale Premiere feierte. Wie man von Diedrich Diederichsen in der taz erfährt, liegt Thomsens Film ein 30 Jahre währender Reflexionsprozess zu Grunde. Demgegenüber ist Hendels von der (nicht unumstrittenen) Fassbinder Foundation produzierter Film nicht nur deutlich als Schnellschnuss zu erkennen, sondern auch relativ lieblos oder wenigstens einigermaßen aus dem Bauch heraus runtergedreht: Wozu Hendel auf einer Theaterbühne eine Licht- und Neonkammer aufgebaut hat, die an die kristallin verspiegelten Bildwelten aus Fassbinders großartigem Fernseh-Klassiker "Welt am Draht" erinnern soll und in der beispielsweise Volker Schlöndorff sich an die gemeinsame Zeit mit "dem Rainer" erinnern darf, bleibt im Dunkeln. Sieht halt irgendwie cool aus, irgendwie nach Theater, Kunst und Videoinstallation, multimedial und so.



Okay, also gut, es soll nicht nur gemosert werden: Von solchen gestalterischen Gags abgesehen, folgt "Fassbinder" den üblichen Porträtfilmvorgaben, sprich: Archivmaterial, einstige Weggefährten, die in teils pseudo-privaten Situationen über die alte Zeit sprechen, alles im Hinblick auf eine peu à peu durchschrittene Schaffensbiografie, was zwar als Konzept wenig originell ist und zuweilen ins Berieselnde abdriftet, aber in der Regel einen guten Steinbruch abgibt. Sprich: Spätestens nach der Fernsehausstrahlung (fünf Sender haben mitproduziert) dürften einige hübsche Ausschnitte aus dem Archiv auf Youtube auftauchen, insbesondere aus der frühen Theaterphase. Und wenn Hanna Schygulla (beim Malen von Fassbinder-Bildern), Irm Hermann (natürlich auf einer Theaterbühne), Margit Carstensen (im etwas kargen Privatsetting) und Harry Baer (im nicht ganz so kargen Privatsetting) als einstige Insider der Fassbinder-Familie von den bewegten Zeiten ihres alternativen Lebensentwurfs, in dem sich Privatleben und die gemeinsame Kunst eng verzahnten, erzählen, hört man tatsächlich gerne zu. Dass dabei nicht nur "Ich bin dabei gewesen"-Sprüche fallen, die postum noch einen Abglanz vom Ruhm des Filmemachers für sich beanspruchen, sondern tatsächlich etwas greifbar wird von dem Schmerz, der damit einher geht, wenn man aufs engste mit einem - darüber sind sich ja alle einig - ausgewiesenen Manipulator zusammenarbeitet, der so verführerisch warmherzig wie brutal kaltherzig sein konnte, rückt den Film deutlich ab vom üblichen "Einer von den Größten"-Sermon, der im Genre des Künstlerporträts gerne zum Besten gegeben wird. Dass Fassbinder dennoch einer der Größten war, darüber sind sich freilich alle einig - warum schließlich auch nicht?

Dass der Film trotzdem nicht ganz aus seiner Andachtshaltung herauskommt, ist schade. Das liegt auch daran, dass "Fassbinder" seine Fühler so wenig neugierig ausstreckt: Fassbinders filmische Schaffensphase dauerte von 1969 bis zu seinem Tod im Sommer 1982 und begleitete damit die sozialdemokratische Phase der alten BRD, eine entscheidende Umbruchphase - politisch, kulturell, sozial. Ohne diesen Kontext sind entscheidende Positionierungen, Interventionen und rhetorische Strategien heute kaum mehr nachzuvollziehen. Vieles von dem, was Fassbinder in kernigen Statements zum Besten gibt, wirkt isoliert von heute aus betrachtet wie die kuriose Folklore einiger Berufsbewegter, die sich sektengleich vor der Gesellschaft verschlossen. Dabei war es aus der Riege des einstmals Jungen Deutschen Films ja vor allem Fassbinder, der die Öffentlichkeit suchte. "Fassbinder" spart das zwar nicht völlig aus, dennoch wirkt der Film zuweilen sehr privatistisch, bis hin zu jecken, eigentlich schon boulevardesken Momenten: Angefangen von den diversen schwierigen Liebesbeziehungen zu Männern (für die flugs illustrierende Szenen aus Fassbinders Filmen als Quasi-Beleg herangezogen werden) und seiner gescheiterten Ehe mit Ingrid Caven bis hin zu Fassbinders Tod, dessen Umstände der Film mit einiger Faszination sogar unter Rückgriff auf eine Art "Tatort-Zeichnung" zu rekonstruieren versucht ("Ich war hier und der Rainer lag dort"). Mitunter wirkt das sanft indiskret - oder eben so, als hätte sich da jemand einfach nicht allzu viele Gedanken gemacht.

Thomas Groh


Fassbinder - Deutschland 2015 - Regie: Annekatrin Hendel - Laufzeit: 90 Minuten.

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Ein Serienkillerfilm über Schizophrenie - und zwar einer, der sich nicht auf eine kühle Beobachterposition oder auf ein sanft humanistisches Mitfühlen zurückzieht, sondern der sich sowohl mit der psychischen Störung als auch mit ihrer blutigen Ausfaltung identifiziert. Und der bei der Identifikation mit Jerry Hickfang (Ryan Reynolds), einem allein mit Hund und Katze über einer Bowlingbahn lebenden Angestellten eines Versandunternehmens, erfreulich weit geht. Der Film belässt es nicht dabei, die "Stimmen im Kopf" Jerrys auf der Tonspur zu objektivieren und den Haustieren in den Mund zu legen (die cool und unbarmherzig über die Schulter in die Kamera blickende Katze setzt sich dabei logischerweise gegen den träge vor sich hin schlabbernde Hund noch fast jedes Mal durch); er partizipiert schon in inszenatorischen Details wie den knallrosafarbenen Klebestreifen (überhaupt: ein angenehm farbiger Film), mit denen Jerry und seine Kollegen Pakete verschließen, an der Psychose seines Protagonisten. Noch besser: In zwar wenigen, dafür aber umso effektiveren Szenen lässt die Regisseurin Marjane Satrapi jeden Realismus der Darstellung sausen und schließt sich gemeinsam mit dem Protagonisten in dessen Privatwelt ein - am radikalsten ganz am Ende, in einer sozusagen rein kognitiven, und auch tatsächlich nicht unoriginellen Musicalsequenz.



Weniger originell leider: Wie der Film, wie Reynolds" Spiel, aber auch Ausstattung und Maske diesen Jerry anlegen. Korrekt frisiert, ein wenig altmodisch, gerne ins Pastellfarbene spielend gekleidet und natürlich dauergrinsend läuft Reynolds durch den Film. Absehbarerweise wird das Grinsen immer schiefer und irgendwann hält er urplötzlich ein Messer in der Hand. Das ist mal wieder der Typ "überkontrollierter Verzichter", auf den psychisch Kranke unabhängig von der konkreten Diagnose in Film und Fernsehen schon seit "Psycho" festgelegt zu sein scheinen; wobei in diesem Fall schon wegen Reynolds" Statur Michael C. Halls Fernsehserienkiller Dexter - der diesen Typus mindestens an einen logischen Endpunkt, vielleicht sogar über sich selbst hinaus geführt hat - als Vorbild wahrscheinlicher ist. Reynolds agiert freilich deutlich manierierter als Hall, legt seine Figur um einige Grade derangierter und nervöser an, übertreibt es gelegentlich auch mit dem Linkischen. Flöten geht dadurch die tief sitzende Melancholie Dexters, die weit über einzelne depressive Episoden hinaus reicht. Und erst recht bleibt jene Ahnung auf der Strecke, die "Dexter" zu einer so nachhaltig verstörenden Serie gemacht hatte: Die Ahnung davon, dass ein auf Dauer gestelltes artifizielles Verhältnis zum eigenen Selbst am Ende interessanter und vielleicht sogar lebenswerter ist als die Fetischisierung von Authentizität. Anders ausgedrückt (und Sitcoms wie "Seinfeld" wissen das selbstverständlich schon lange): Es ist um einiges interessanter, Neurosen zu verfeinern, als sie zu bekämpfen.

Vielleicht deshalb sind Psycho-Serienkillerfilme oft interessanter, wenn sie sich auf die Seite der dann plötzlich gar nicht mehr normalen Normalität schlagen, anstatt auf die der fast zwangsläufig in Genreklischees normalisierten Devianz. Bei Satrapi geht es leider doch wieder nur um die wahre Natur, die unter der Maske lauert und schließlich hervorbrechen muss (auch wenn diesmal zur Abwechslung eine Perspektive hinter der Maske eingenommen wird). Das immerhin einigermaßen lustvoll zelebrierte Krankheitsbild der Hauptfigur verkommt zum Brandbeschleuniger einer ihrerseits lustlos durchexerzierten Dezimierungsdramaturgie.



Am stärksten ist der Film, wenn er nicht verschrobene Charaktere, sondern verschrobene kommunikative Situationen zeigt. Selbst die Gespräche Jerrys mit seiner Therapeutin sind aus einer sozialen Perspektive interessanter denn aus einer medizinischen: Sie ist offensichtlich von ihm als Mann angetan, während er umgekehrt gerade nach einer Möglichkeit sucht, einmal fern aller erotischen Interessen mit einem anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Besonders schön ist ein anderes Gespräch, das zunächst von wechselseitigem Unbehagen geprägt scheint, dann aber trotzdem funktioniert: Als Jerry mit seiner Kollegin Lisa (im ansonsten eher unausgeglichenen, beziehungsweise von der Regie nicht so recht unter Kontrolle gebrachten Cast ein Highlight: Anna Kendrick) ausgeht, wirken beide zunächst unsicher, wissen nicht nur nicht, was sie vom anderen erwarten können, sondern auch nicht, was sie selbst vom anderen wollen; sind deshalb, wenn alles plötzlich ganz schnell geht und sie miteinander im Bett landen, nicht nur vom anderen, sondern auch von sich selbst überrascht (der Kaffee am Morgen danach ist die schönste Szene von "The Voices"). Überhaupt findet der Film immer dann einen eigenen Tonfall, wenn er sich darauf beschränkt, das Soziotop der Firma, bei der Jerry und auch fast alle anderen Figuren der Handlung angestellt sind, zu erkunden - als eine Ansammlung von Außenseitern, die sexuell und auch anderweitig offensichtlich meist zu kurz kommen, aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Beim gemeinsamen Karaoke-Ausflug jedenfalls singen und rappen sie sich regelrecht die Seele aus dem Leib.

Lukas Foerster


The Voices - USA 2014 - Regie: Marjane Satrapi - Darsteller: Ryan Reynolds, Gemma Arterton, Anna Kendrick, Kacki Weaver, Ella Smith, Paul Chahidi - Laufzeit: 103 Minuten.