Im Kino

Passant der Weltgeschichte

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
29.08.2007. Christoph Hübner macht in "Thomas Harlan - Wandersplitter" Weltgeschichte lebendig - indem er den Zeitzeugen Thomas Harlan einfach erzählen lässt. Und in Mika Ninagawas Spielfilmdebüt "Sakuran" üben schöne Menschen in schönen Kleidern in schönen Bild-Tableaus die Kunst des distinguierten Vögelns.
Es ist das Jahr 1953 in Moskau. Thomas Harlan verlässt, getrieben von etwas, das er nicht benennen kann, sein Hotel, setzt sich in einen Bus, fährt vom Zentrum in die Außenbezirke, beobachtet die Menschen, die einsteigen und aussteigen, stundenlang fährt er in dem Bus, bis dieser wieder zurückkehrt ins Innere Moskaus. Harlan steigt aus dem Bus, da packt ihn ein Mann am Arm, nicht sehr aggressiv, aber bestimmt, Harlan beschließt, dem Mann dorthin zu folgen, wohin dieser ihn zieht. Ein Haus irgendwo, eine Wohnung, Harlan wird auf das Sofa gesetzt, der Mann und seine Frau schleppen eine Truhe ins Zimmer, öffnen sie und breiten vor Harlan aus, was sich darin befindet: vergilbte deutsche Zeitungen aus dem Jahr 1929. Das war das Jahr, erklärt Harlan, indem sowjetische Schriftsteller und Intellektuelle in großer Zahl in Berlin waren, eine letzte Chance, bevor die stalinistischen Säuberungen begannen. Harlan spricht nicht mit dem Mann, der ihn auf der Straße aufgelesen hat, und seiner Frau, er verlässt die Wohnung, aber er hat dies Ereignis nicht vergessen, bis heute.

Er erzählt davon in Christoph Hübners Dokumentarfilm "Thomas Harlan - Wandersplitter" und er legt Wert darauf, dass dies eine "Geschichte ohne Ich" sei, bei der die Tatsache, dass er es war, dem sie widerfuhr, keine Rolle spielt. Er wäre damit nicht mehr als bloß Zeuge, ein Passant im strengsten Sinne, einer, der sieht, erlebt, tradiert und passiv bleibt. Es ist diese Passivität, die Harlan immer wieder herausstreicht: Zufälle, Unfälle seien es gewesen, die sein Leben bestimmten, Zufälle, denen er sich, sie nicht unbedingt suchend, aber gern akzeptierend, überließ. Von einer Begegnung mit einem Mann in einem Zug berichtet er, später im Leben, mit dem er einfach weiterfuhr, obwohl er längst hätte aussteigen müssen.

Und noch das Lebensthema des Thomas Harlan, das Nazi-Verbrechen und seine Täter, ist eines, sagt er, das ihn heimsucht eher als dass er es aus eigenem Antrieb verfolgt hat. Thomas Harlan ist der Sohn des berüchtigten Nazi-Filmers Veit Harlan, Regisseur des infamen Propaganda-Werks "Jud Süß". Mit acht Jahren, erinnert er sich, saß er an einem Nachmittag mit Hitler und anderen Größen des Dritten Reichs zu Tisch, das Gespräch drehte sich um den Volkswagen. Harlan war als Kind Nazi mit Haut und Haar, er musste, durch den Krieg geprägt, was Moral ist und damit das, was unter all den Dingen, die man tun kann, die sind, die man tun soll und lassen muss, mühsam erst lernen im nachhinein.

Harlan wird Kommunist, er zündet Kinos an, erzählt er, in denen nach dem Krieg Filme seines Vaters laufen, er kann ihm nicht verzeihen, dass dieser einfach weiterdreht, als sei nichts gewesen. Später sucht er in Archiven in Polen nach Dokumenten für Nazi-Verbrechen, er kann nicht fassen, wie die Täter von einst längst wieder Rang haben und Namen, von den unter den Teppich gekehrten Taten ganz unberührt. Er gräbt, jahrelang, mit einem Team von Mitarbeitern, er bringt ans Licht - und hört dann plötzlich auf, aus Angst, sagt er heute, in diesem Sumpf zu ertrinken. Um Strafe sei es ihm nie gegangen, versichert er, nur um die Wahrheit, darum, noch genauer gesagt, dass die Mörder und Täter ihre Taten bekennen.

Seit den siebziger Jahren ist Harlan, dessen vom linken italienischen Verleger Feltrinelli mit Blankoscheck gefördertes Buch über die Nazi-Verbrechen niemals erschien, als Filmemacher hervorgetreten, in den letzten Jahren erst als Autor der hervorragend besprochenen Romane "Rosa" (2000) und "Heldenfriedhof" (2006), über die Bert Rebhandl in der taz schrieb: "Es gibt aber eben auch Werke, hinter die 'das Wissen' nicht mehr zurückkann: Die Dokumentarfilme von Claude Lanzmann zählen dazu, und nun auch die Romane von Thomas Harlan, in denen 'das Eine' zu einem Datum der Erdgeschichte wird."

Auch als Person ist Thomas Harlan außerordentlich beeindruckend. Seit 2001 lebt er, lungenkrank, in einem Sanatorium bei Berchtesgaden, den Obersalzberg, Hitlers Feriendomizil, vor dem Fenster. Hier hat ihn der Filmemacher Christoph Hübner besucht und man sieht nichts als in Nahaufnahmen den mächtigen, weißhaarigen, sprachgewaltigen Mann in seinem Zimmer und gelegentlich Zwischenschnitte, hinaus in die Natur, hinein in den Raum, auch auf Flure des Sanatoriums. Schwarzblenden dazwischen, Zwischentitel, darunter der schwere Atem des sonst alles andere als gebrechlich wirkenden Mannes. Harlan ist, im Dialog mit dem Filmemacher, der seine Präsenz und die der Kamera nicht verschweigt, eher Subjekt als Objekt der Dokumentation. Der Film lässt ihm, seinem Blicken und Sprechen und Denken, den Raum, den er braucht. Ein Durchatmen in den Zwischenschnitten. Man schaut, hört, denkt, von der ersten bis zur letzten Sekunde gebannt.

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Entschieden mehr Augenschmaus als Denkstück ist dagegen "Sakuran", das auf einem Manga basierende Spielfilmdebüt der renommierten japanischen Fotografin Mika Ninagawa (Fotografien). Sie siedelt ihre Geschichte in der Edo-Zeit an, also der Epoche vor der Öffnung Japans zum Westen und erzählt die Erfolgsgeschichte von Kiyoha (gespielt von Pop-Idol Anna Tsuchiya), die als Mädchen an ein Edelbordell verkauft wird und dort zur Star-Prostituierten (einer sogenannten "Oiran") aufsteigt. Ninagawa macht aus dieser Geschichte, die nicht sonderlich kompliziert wird durch interne Konkurrenzen unter den Prostituierten und eine Liebe, die nicht da hinfällt, wo sie hinfallen sollte, vor allem ein knallbuntes Spektakel.

In mancherlei Hinsicht ist das Projekt mit Sofia Coppolas "Marie Antoinette" vergleichbar, so sehr sogar, dass der Hinweis in kaum einer Kritik dazu ausbleibt. Nicht zuletzt, weil auch die Musik alles andere historisiert, denn sie bewegt sich, komponiert und gesungen vom japanischen Popmusikstar Ringo Shiina, variantenreich zwischen Swing und Björk. Diese Form des Anachronismus ist freilich eine Geste, hinter der, anders als bei Coppolas Postpunkkontrapunktierungen, kein präziserer Gedanke steht als der einer einfachen postmodernen Verpoppung. Überhaupt kommt es auf historische Korrektheit an keiner Stelle an, die Kostüme sind prächtiger als einst im wahren Leben, von sozialrealistischer Beschreibung des Bordelllebens kann auch keine Rede sein. Die Regisseurin zeigt sich verliebt in die Farbe rot und, als Kontrast, auch in kirschblütenweiß. Ein aus ihrer fotografischen Arbeit vertrautes Motiv - Goldfische - kehrt auch im Film immer wieder, gelegentlich füllen die Fische, durchs Aquarium schwimmend, den Bildvordergrund, während dahinter distinguiert gevögelt wird. Der prächtige Fisch im Glas ist mutmaßlich eine Metapher für die Gefangenschaft der jungen Frau im Bordell, aber Ninagawa geraten noch die Metaphern fürs Düstere schön und bunt.

Im Grunde lässt sich "Sakuran" in einem Satz resümieren: Schöne Menschen in schönen Kleidern tun in schönen Bild-Tableaus schöne, gelegentlich freilich auch unschöne Dinge. Kiyoha ist eine selbstbewusste junge Frau, mit Anfällen von Renitenz, aber ernst gemeinte Konflikte, psychologische Genauigkeit oder auch nur den Anschein von Tiefenbeschreibung vermeidet der Film gekonnt. Man kann sich das ansehen, knapp zwei Stunden lang, wie ein mit exotischen Fischen gefülltes Edel-Aquarium und hat, ohne weiteren Anspruch, vielleicht seine Freude daran. Wer aber hofft, dass sich irgendwas tut, das andere Regionen von Körper und Geist als nur den Augensinn in Bewegung oder Erregung versetzt: den wird "Sakuran" entäuscht zurücklassen.

Thomas Harlan - Wandersplitter. Deutschland 2007 - Regie: Christoph Hübner - Darsteller: (Mitwirkende) Thomas Harlan - Länge: 96 min

Sakuran - Wilde Kirschblüte. Japan 2006 - Originaltitel: Sakuran - Regie: Mika Ninagawa - Darsteller: Anna Tsuchiya, Masanobu Ando, Kippei Shiina, Hiroki Narimiya, Yoshino Kimura, Miho Kanno, Masatoshi Nagase, Renji Ishibashi, Mari Natsuki - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 111 min.