Post aus New York

Amerika und der Holocaust

Von Ute Thon
16.02.2001. Vielbesprochen: Ein neues Buch über IBM und den Holocaust und der Hollywoodfilm "Haven", der die Odyssee von rund 1000 Juden beschreibt, die 1944 per Schiff von Italien nach Amerika flohen. Dort wurden sie nicht sehr freundlich aufgenommen.
Am Montag erschien im Crown-Verlag nach langem Munkeln und Geheimnistuerei nun endlich "IBM and the Holocaust", ein Buch von Edwin Black, in dem der Autor die Nazi-Vergangenheit des weltgrößten Computerkonzerns aufdeckt. IBMs deutsche Tochterfirma Dehomag, heute IBM Deutschland, verkaufte seinerzeit nämlich Rechenmaschinen und Lochkarten an die Nazis, die wiederum zur Berechnung von Zwangsarbeiterquoten und KZ-Auslastung äußerst hilfreich waren. Fast größer als die Sensationsmeldung von den dunklen Nazi-Machenschaften des Computermultis war die Veröffentlichung selbst. Crown hatte bis zum Erscheinungstag ein totales Embargo über das Buch verhängt - dessen geschickte Lancierung ("geheim, aber auch nicht zu geheim") die New York Times bewunderte. Es war nicht einmal im Verlagskatalog gelistet, und es wurden keine Rezensionsexemplare im voraus verschickt. Die Taktik sollte die Spannung erhöhen, aber auch eventuelle Rechtsmanöver von Seiten IBMs verhindern, die die Veröffentlichung hätten verzögern können. Der Coup ist soweit gelungen. In der New Yorker Verlagsszene spricht derzeit über kaum etwas anderes. Und aufgrund der von Black zusammengetragenen Erkenntnisse erhoben letzte Woche Anwälte von Naziopfern vor dem Bezirksgericht Brooklyn Schadenersatzklage gegen IBM, weil die Firma deutschen Behörden in den 30er und 40er Jahren Technologien lieferte, die zur "Verfolgung und Ausrottung" ihrer Klienten benutzt wurden. (Siehe zu Blacks Buch auch unsere Magazin-Rundschau, die auf ein Interview mit Black in L'Express verweist.)

Die Amerikaner werden derzeit mit unschmeichelhaften Holocaust-Enthüllungen geradezu bombardiert. Gerade sorgte eine CBS-Miniserie mit dem Titel "Haven" für Aufregung. Der vierstündige Fernsehfilm basiert auf einem bislang relativ unbekannten Buch von Ruth Gruber ("Haven: The Dramatic Story of 1.000 World War II Refugees and How They Came to America", Three Rivers Press) und beschreibt die Odyssee von rund 1000 jüdischen Flüchtlingen, die 1944 per Schiff von Italien nach Amerika gebracht wurden. Eine obskure Hilfsaktion, die Amerika nicht nur als großherzigen Retter, sondern auch als eingefleischten Antisemiten entlarvt.

Gruber, heute 89 und immer noch als Autorin in New York tätig, begleitete damals als Mitarbeiterin des US-Innenministeriums die Holocaust-Überlebenden bei ihrer vermeintlichen Reise in die Sicherheit und wurde dabei Zeugin der Ignoranz und des offenen Rassismus, dem die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Amerika ausgesetzt waren. Dabei war die Rettungsaktion von höchster Stelle, d.h. von Präsident Roosevelt persönlich als Beweis seines guten Willens angeordnet worden. Bis dahin hatte die US-Regierung trotz ihres Wissens um die Existenz von Konzentrationslagern und Hitlers systematischen Völkermord wenig Interesse an der Aufnahme von Holocaustopfern gezeigt. Tatsächlich herrschte in Amerika zu jener Zeit eine ziemlich antisemitische Stimmung. Bis zum Kriegsende gab es strengste Immigrationsquoten, die die Einreise von Tausenden von osteuropäischen Juden verhinderte. Vize-Staatssekretär Breckinridge Long, ein demokratischer Roosevelt-Freund, schickte 1940 ein infames Memo an alle US-Konsulate, in dem er die Behörden aufforderte, die Bearbeitung von Visa möglichst lange hinauszuzögern und den jüdischen Antragstellern so viele Hürden wie möglich in den Weg zu legen.

All das ist in Historikerkreisen zwar längst bekannt und wurde auch gelegentlich einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt. Zuletzt 1994 in dem Dokumentarfilm "America and the Holocaust. Deceit and Indifference", einer Produktion des kommerzfreien Bürgerkanals PBS, der Amerikas Isolationspolitik und restriktive Immigrationsgesetze für das Leid der europäischen Juden mitverantwortlich machte. Doch mit "Haven" wagen sich jetzt erstmals Hollywood-Produzenten an das heikle Thema. Der Film wurde mit Starbesetzung (Natasha Richardson, Martin Landau, Anne Bancroft, Amanda Plummer) für CBS produziert und lief vergangenen Sonntag und Mittwoch zur Prime Time.

Der Film arbeitet mit echten Schockern. US-Offiziere sortieren die ausgehungerten Flüchtlinge aus wie Vieh, Soldaten stoßen antisemitische Flüche aus. Als die geschundenen Flüchtlinge nach 13 unkomfortablen Tagen auf See endlich das Land ihrer Träume erreichen und die Freiheitsstatue bewundern, werden sie vom Pier direkt in Eisenbahnwagons gepfercht und dann bei Dunkelheit in ein mit Stacheldraht, Wachtürmen und bewaffneten Soldaten umstelltes Lager befördert. Regisseur John Gray hat die Szenen überdeutlich als KZ-Assoziation inszeniert. Doch die Wahrheit liegt diesmal nicht all zu weit von der Hollywoodperspektive entfernt. Die echten 982 Flüchtlinge - die einzigen, die offiziell von Amerikanern aus Europa evakuiert wurden - wurden nach ihrer Ankunft in Fort Ontario, einer ehemaligen Kaserne am Eriesee, interniert und verbrachten ähnlich wie Kriegsgefangene eineinhalb Jahre im Lager. Ursprünglich war geplant, sie nach Kriegsende sofort wieder zurück nach Europa zu schicken. Nur dank Ruth Grubers unermüdlichem Lobbying gewährte Amerikas neuer Präsident Truman 1946 den gestrandeten Holocaust-Opfern schließlich doch noch permanentes Asyl.

"Die wussten, was los war, wussten über die Todeslager Bescheid. Wir hätten Hunderttausende retten können, doch es herrschte offener Antisemitismus, ganz klar und deutlich", kritisiert die engagierte Journalistin, die 15 Bücher veröffentlichte, in einem Interview mit der Los Angeles Times die damalige Haltung des State Department. Auch Historiker David S. Wyman, US-Politik- und Holocaust-Experte von der University of Massachusetts, zweifelt am humanistischen Ideal der Roosevelt-Regierung. "Das Thema 'Rettung von Menschenleben' war nur von geringer Wichtigkeit", sagt er in der New York Times anlässlich der Filmpremiere. "Es gab eine ganze Gruppe in der Regierung, die generell gegen Immigration war, weil sie eine starke Abneigung gegen Leute aus Süd- und Osteuropa hegten, besonders gegen Juden."

Die Washington Post vergleicht die Behandlung der Flüchtlinge dagegen mit einer "Kältewelle im Melting Pot" und bemerkt, dass alle US-Zeitungen, einschließlich der New York Times und der Post, die Flüchtlingsstory seinerzeit bewusst heruntergespielt hätten. Doch irgendwann ist offensichtlich jedes unrühmliche Kapitel der US-Geschichte reif für ein Hollywood-Close-up. 1977 fühlte Amerika mit der TV-Serie "Roots" von Alex Haley erstmals die volle Tragödie der Sklaverei. 1994 öffnete David Gutersons Bestseller-Roman "Snow Falling on Cedars" den Amerikanern die Augen für die verfassungswidrige Internierung von Tausenden von US-Bürgern japanischer Abstammung während des 2. Weltkriegs. Jetzt hält CBSs "Haven"-Verfilmung dem breiten US-Publikum den Antisemitismus-Spiegel vor.

Der Film ist nicht nur eine späte Ehrung für Ruth Gruber, sondern dürfte auch den Verein "Safe Haven Inc." in Oswego freuen. Eine Handvoll aktiver Bürger aus dem kleinem Ort in Upstate New York, wo sich einst das Internierungslager der Holocaust-Flüchtlinge befand, bemühen sich seit Jahren um die Gründung eines Museums. Die veranschlagten Mittel für den Erhalt der Baracken und eine Wanderausstellung zum Thema sind mit 750.000 Dollar eher bescheiden. Dennoch tat sich die US-Regierung bisher mit staatlicher Unterstützung schwer. Aber vielleicht springen jetzt, wo das ehemalige Flüchtlingslager durch die Fernsehserie über Nacht berühmt wurde, ja private Sponsoren ein. Zum Beispiel IBM, die dringend ihr schlechtes Holocaust-Karma loswerden müssen.