Magazinrundschau

Der Mörder kennt die andere Seite

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
03.11.2015. Der Guardian lernt im Britischen Museum, wie die Religionen sich gegenseitig kopierten. Das Universum ist mindestens so digital wie analog, erklärt der Merkur. In HVG warnt György Dalos davor, die Errungenschaften der ungarischen Revolution zu verwerfen. Himal macht die Blasphemiegesetze in Bangladesch mitverantwortlich für die Morde an säkularen Bloggern. Novinky berichtet vom tschechischen Dokumentarfilm-Festival. Die Public Domain Review erklärt, wie langweiliges Moos im 19. Jahrhundert zur Metapher für verbotenen Sex wurde.

Guardian (UK), 31.10.2015

Neil MacGregor verabschiedet sich vom Britischen Museum mit der großen Schau "Faith After the Pharaohs". Ungeheuer innovativ findet findet Ahdaf Soueif die Ausstellung, die ihm zweierlei verdeutlichte: Wie Juden, Christen und Muslime am Nil zusammenlebten und sich kulturell wie habituell kaum voneinander unterschieden. Und wie die Religionen aufeinander aufbauten. "Das Römische Reich adoptierte Ägyptens Gottheiten: Horus und Anubis posieren in schicken römischen Uniformen. Ein falkenköpfiger Römer zu Pferd mit einer Lanze ist zugleich ein verblassender Horus und der zukünftige Heilige Georg. Christliche Ikonografie eignet sich ein Bild an, das in der ägyptischen Frömmigkeit sehr beliebt war: die Mutter mit dem Kind auf den Knien. Dann abstrahiert der junge Islam das alles, nutzt die überlieferten lebendigen Farben und Motive von Pflanzen und Tiere und entwickelt aus ihnen ein Design, das der Welt ein neues Aussehen geben wird, von den großen Wandteppichen in Cluny bis zu den Fassaden, die Italiens Stadtstaaten dem Mittelmeer zuwenden." (Bild: Der ägyptische Gott Horus in römischer Militäruniform. Ägypten, 1. bis 2. Jh. vor Christus. British Museum)

Gavin Plumley porträtiert den österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas, der Schönberg, Adams und Kubrick zu seinen kreativen Vorfahren zählt und Kontraste mag: "Starre Gegensätze sind Haas' Ding." Hier sein Stück über österreichische Politik, "in vain", zu spielen in Hell und Dunkel:



Außerdem: Euan Cameron trifft Patrick Modiano. Besprochen werden unter anderem Ian Kershaws Geschichte der beiden Weltkriege "To Hell and Back: Europe 1914-1949" und Peter Doggett manisch-obsessive Popgeschichte "Electric Shock".
Archiv: Guardian

Merkur (Deutschland), 01.11.2015

Auch wenn man jetzt ständig höre, die Digitalisierung sei kein neues Phänomen, konstatieren Kathrin Passig und Alex Scholz lakonisch: Nicht nur haben Computer das analoge Stadium vor über 70 Jahren überwunden, es könnte auch gut sein, dass das Digitale dem Universum ebenso eingeschrieben ist wie das Analoge. "Die elektrischen Impulse im Nervensystem werden nach demselben Prinzip behandelt wie die Spannung im Mikroprozessor. Ein Reiz erreicht ein bestimmtes Schwellenpotential. Wie bei der digitalen Verarbeitung gibt es dabei keine klare Trennlinie, sondern einen ungefähren Bereich, der überschritten werden muss. Jetzt entsteht ein Aktionspotential, das eben nicht analog zur Stärke des auslösenden Reizes ist, sondern immer gleich aussieht. Bei der chemischen Informationsübertragung an den Synapsen hingegen kann die Zelle mehr oder weniger Neurotransmitter ausschütten - ein analoger Vorgang, solange man nicht zu genau hinsieht und anfängt, Moleküle abzuzählen. Der Bauplan für all das ist in der DNA digital gespeichert. Der elektrische Strom, mit dem Computer und Gehirn arbeiten, besteht aus einzelnen Elektronen."

Matthias Dell analysiert noch einmal minuziös jene Talkshow, in der Bayerns Innenminister Joachim Herrmann Roberto Blanco als "wunderbaren Neger" bezeichnete: Sprachpolitisches Lassier-faire sei keine Kategorie der Redefreiheit, meint Dell, sondern ungeniertes Abwerten nach unten.
Archiv: Merkur

Magyar Narancs (Ungarn), 15.10.2015

Im Interview mit Szilárd Teczár spricht der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, der selbst aus Siebenbürgen stammt, u.a über die Integrationsdebatte und über die Politikfeindlichkeit in Ungarn, die sich seiner Meinung nach auch unter Intellektuellen immer mehr ausbreitet: "Ich mag sehr, was die Flüchtlingshelfer tun, doch weniger, was sie sagen. Es ist dieselbe dumme Politikfeindlichkeit, die ein Großteil der ungarischen Intellektuellen von sich gibt. Das Liedchen mit der Anfangszeile: 'Die Politik spaltet die Gesellschaft so tief...', gesungen von den meisten Schriftstellern, hören wir überall. Diese Aussage ist nicht falsch, sondern sinnlos. Als wäre Politik das Werk von dreieinhalb Spindoktoren, die sich entschlossen haben, die ungarische Gesellschaft tief zu spalten. (...) Als wären faschistische und demokratische Politiken gleichwertig und ihr Aufeinanderprallen - das Gros unserer Schriftsteller sagt das - lediglich Affektation. Diese Spaltung soll endlich aufhören, niemand soll gegen etwas protestieren, jeder soll alles gutheißen, Gulag und der Sommerurlaub am Plattensee sind Einerlei. Und das kommt von ungarischen Intellektuellen."
Archiv: Magyar Narancs

New Yorker (USA), 09.11.2015

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker rekapituliert Nathan Heller die Haysom-Morde in Virginia im Jahr 1985. Der Fall bleibt rätselhaft. Jens Söring, der den grausamen Doppelmord an den Eltern seiner damaligen Freundin Elizabeth Haysom zunächst gestanden hatte und dafür verurteilt wurde, beteuert inzwischen seine Unschuld und gibt Haysom die Schuld. Er habe sie schützen wollen. Was ist Fakt, was Fiktion? "Keins der Szenarien scheint plausibel. Eins hat wohl tatsächlich stattgefunden. ... Einer hat gelogen. Der Mörder kennt die andere Seite dieses Glaubens. Und er wusste, wie er mit der richtigen Dramaturgie und den richtigen Motiven die Erwartungen und das Rechtsempfinden der Leute manipulieren konnte. Mit dem Fehlurteil-Motiv etwa. Oder mit der Geschichte vom zerstreuten, verletzlichen Collegemädchens. Einer der Beteiligten versteckt die Wahrheit - mit der Fantasie eines Schriftstellers."

Außerdem: Alexis Okeowo stellt das Orchestre Symphonique Kimbanguiste in Kinshasa vor (das Claus Wischmann 2008 in einem Dokumentarfilm verewigt hat, mehr hier). George Packer beschreibt die halbherzigen Versuche moderater Republikaner, die Mittelklasse zurückzugewinnen. Nick Paumgarten ist mit Rettungskräften unterwegs in Islands riskanter Natur. Peter Schjeldahl besucht die Frank-Stella-Retrospektive im Whitney Museum. Anthony Lane sah im Kino Tom McCarthys Film über den Boston Globe "Spotlight" und Jay Roachs "Trumbo", ein Biopic über den Drehbuchautor Dalton Trumbo.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 05.11.2015

Allein seit Juli sind in China mehr als 300 Anwälte und Bürgerrechtler verhaftet worden, berichtet die seit dem Massaker auf dem Tienanmen Platz in den USA lebende Aktivistin und Literaturwissenschaftlerin Chaohua Wang. Dabei gehe Peking nicht unbedingt gegen Regimekritiker vor, sondern vor allem gegen Anwälte, die sich öffentlich für Solidarität mit den Armen und Entrechteten einsetzen - vor allem wenn die Geschäftsinteressen der Behörden im Spiel sind: "Die vom Regime unterdrückten 'Vorfälle' werden in der Regel durch Enteignungen von Bauern ausgelöst, durch Vertreibungen aus den Städten und schlechte Behandlung durch Behörden, aber auch Streiks und Proteste wegen nicht gezahlter Löhne sind ein häufiger Grund. Die lokalen Behörden sind fast immer direkt oder indirekt involviert. Heute kommen nicht nur Fälle des Straf- oder bürgerlichen Rechts vor Gericht, sondern auch des Öffentlichen Rechts - das heißt nicht die Verfolgung von Bürger durch den Staat oder Streitigkeiten zwischen Bürgern, sondern Streitigkeiten zwischen Bürgern und Staat."

Patrick Cockburn zeichnet ein sehr eindrückliches Bild von der ungemein verfahrenen Lage in Syrien, wo die russischen Luftschläge den Rückzug der syrischen Armee gestoppt, aber den Status quo noch nicht ernsthaft verändert haben. Dann kommt Cockburn zu einem erstaunlichen Schluss: "Die USA haben niemals den IS anzugreifen gewagt, wenn er die syrische Armee bekämpfte, weil sich Washington nicht vorwerfen lassen wollte, Assad an der Macht zu halten. Diese Vorgehensweise hat die Amerikaner ohne Verbündete am Boden gelassen, abgesehen von den Kurden, deren Stärke außerhalb ihres Gebiets begrenzt ist. Die große Schwäche der amerikanischen Strategie sowohl im Irak wie in Syrien bestand darin vorzugeben, dass eine 'moderate sunnitische Opposition' existiert oder geschaffen werden kann."

Besprochen werden Oliver Hilmes' ins Englische übersetzte Alma-Mahler-Biografie "Malevolent Muse" und Marlon James' Bob-Marley-Roman "A Brief History of Seven Killings".

Espresso (Italien), 02.11.2015



Massimo Sestinis von oben geschossenes Foto eines Boots, das bis auf den letzten Quadratzentimenter mit Flüchtlingen besetzt ist, wurde berühmt und mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. Nun stellt es der Fotograf auf seine Website und fragt: "Wo seid ihr? Wenn du dich auf diesem Foto wiedererkennst, kontaktiere uns, wir wollen deine Gechichte hören." Sestini hat das Foto für den Espresso geschossen, und Fabrizio Gatti wendet sich in dem Magazin an all jene, die das Foto als Inbild einer bedrohlichen und gesichtlosen Masseneinwanderung wahrnehmen und rät ihnen erstmal, das Foto im Vergrößerungsausschnitt heranzuzoomen, bis man in die hoffnungsfroh lachenden Gesichter der Flüchtlinge blickt: "Europa hat zwei Weltkriege, die Nazis und den Faschismus, interne Spannungen und ökonomische Krisen überwunden. Aber es hat sich nie ernstlich mit den Konsequenzen seines Kolonialismus auseinandergesetzt. Vielleicht weil der Kolonialismus nie wirklich gestorben ist, sondern nur seine Form verändert hat. Wenn das Foto böse Gefühle in Ihnen auslöst, die viele von Ihnen in den Kommentaren artikulieren, zeigen Sie auch mal, dass Sie fähig sind, über all das nachzudenken."
Archiv: Espresso

HVG (Ungarn), 21.10.2015

Am 4. November 1956 wurde die Revolution in Ungarn mit Hilfe sowjetischer Panzern blutig niedergeschlagen. Der Historiker und Schriftsteller György Dalos hebt die Errungenschaften in der Niederlage hervor, warnt aber auch - kurz vor dem kommenden sechzigsten Jahrestag der Revolution - vor ihrem Verlust: "Was die meisten damals positiv wollten - eine Neutralität nach österreichischem Muster - war natürlich Tagträumerei. Nicht nur Moskaus Dominanz, sondern die ganze internationale Weltordnung, der kalte Krieg als kalten Frieden ließen dies nicht zu. Etwas Anderes wurde aber dennoch erreicht: Trotz des Terrors und der Restauration nach dem 4. November entstand ein moderneres, komplizierteres, ambivalenteres Ungarn, zwischen kleinlichem Opportunismus in den Tiefen der Seelen und Resignation aber mit gehütetem Freiheitswunsch und einer unauslöschlichen Nostalgie an Europa. Nicht dass wir dies sechzig Jahre später widerlegen."
Archiv: HVG

Himal (Nepal), 01.11.2015

Salil Tripathi erzählt den komplizierten Hintergrund der Morde an den Bloggern in Bangladesch, der nicht nur mit der religiösen, sondern auch mit der politischen Geschichte des Landes zu tun hat. So kommt es, dass die Blogger auch in der Politik des offiziell säkularen Staates keinen Rückhalt haben, der unscharfe Bestimmungen zu religiösem Respekt mit scharfen Sanktionen verbindet. Diese Gesetze, so Tripathi, gehen zurück auf den britischen Kolonialismus, aber viele Commonwelth-Länder "haben Gesetze erlassen, die die Meinungsfreiheit noch ein weiteres Mal eingrenzen. In Bangladesch sind laut Gesetz eine 'Beleidigung religiöser Gefühle' durch 'sichtbare Zeichen' oder 'Versuche, einen Glauben herabzuwürdigen' mit bis zu zwei Jahren Gefängnis zu bestrafen, mit einem zusätzlichen Jahr hinter Gittern für jeden, der 'in der Absicht handelt, die religiösen Gefühle eines anderen wissentlich zu verletzen', indem er entsprechende 'Worte oder Töne in Hörweite dieser Person ausstößt oder Gesten in Sichtweite dieser Person macht'."
Archiv: Himal

Novinky.cz (Tschechien), 30.10.2015

Novinky liefert Eindrücke vom diesjährigen Internationalen Dokumentarfilm-Festival von Jihlava, darunter viel Politisches: Gast war unter anderem Maria Wladimirowna Aljochina von Pussy Riot, die im Gespräch mit Alex Švamberk ihre Anerkennung für die tschechische Künstlergruppe Ztohoven äußert, die kürzlich auf der Prager Burg die Präsidentenflagge gegen eine flatternde rote Riesenunterhose austauschte. "Ich glaube, euer Präsident ist mit Putins Regime verbunden." Auf die Frage, warum sie damals ihre Art des Protests gewählt habe, antwortet Aljochina: "Zu jedem Protest gehört Musik. Das ist eine alte Tradition." Ob der Gerichtsprozess nach ihrer Performance in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2012 von Putin ausging oder von der Kirche?: "Ich denke, Sie können diese beiden Themen nicht voneinander trennen. Wir haben diese Kathedrale gewählt, weil Putin sie als einen der Hauptorte für die Verbreitung seiner Ideen nutzte. Es ging damals also nicht um die Kirche, sondern darum, dass die Kirche als politische Plattform genutzt wurde."

Auf dem Festival konnte das Publikum via Internet auch mit Julian Assange von WikiLeaks sprechen, der versicherte: "Es stimmt nicht, dass wir uns nur auf die westliche Welt konzentrieren. Ja, wir sprechen vor allem Englisch, in den anderen Sprachen ist unser Wirken nicht so einfach. Aber wir haben zum Beispiel hundertzwanzigtausend Dokumente über Russland veröffentlicht, eine Menge Material auf Chinesisch, etwa das Protokoll von Festlichkeiten der dortigen kommunistischen Partei, und es heißt, wir hätten mit unseren Enthüllungen die Wahlen in Peru beeinflusst."

Ferner wurde der Dokumentarfilm "Matrix AB" über den tschechischen Oligarchen und Finanzminister Andrej Babiš gezeigt, dessen Regisseur Vít Klusák sagt: "Ich bin überzeugt, dass Babiš eine Bedrohung der tschechischen Demokratie darstellt. Es fragt sich sogar, ob wir überhaupt noch eine Demokratie haben in einem Moment, da der Finanzminister jemand ist, der gleichzeitig die meistgelesenen seriösen Zeitungen kontrolliert und außerdem noch unseren tagtäglichen Konsum beeinflusst. Wenn Sie sich morgens etwas zum Frühstücken kaufen gehen, ist es fast unmöglich, dabei Produkten zu entgehen, an deren Herstellung die Firma Agrofert beteiligt war."
Archiv: Novinky.cz

New Republic (USA), 23.10.2015

In einem Auszug aus seiner neuen Essaysammlung "Censorship Now!!" erzählt der im musikalischen Underground von Bands wie Nation of Ulysses oder The Make Up bekannte Post-Punk-Musiker Ian F. Svenonius die Geschichte, wie der in den frühen 80ern dank der Graswurzelarbeit von Campus-Radios popularisierte College Rock im Laufe des Jahrzehnts von einer aggressiven Frequenzpolitik des National Public Radio verdrängt wurde. Frei wurde damit der Weg für generischen Indie-Rock - mit weitreichenden Folgen für das Outcast-Reservat der Punks: "Während die Yuppies sich in einem Langzeit-Projekt daran machten, die amerikanischen Städte zu 'gentrifizieren' und diese nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten, machten es die Sprößlinge der NPR-Zuhörer (wohlhabend, anständig, weiß) zu ihrer Mission, Punk zu 'gentrifizieren'. Mit Indie wurde das unabhängig geführte Plattenlabel - eine von Emotionen getriebene, rebellische Punkgeste gegen die Konglomerate der Majorlabels, die als ahnungslos, ausbeuterisch und böse angesehen wurden - zu einer Art 'do it yourself'-Hobby (...) Und als sich das Indielabel vom Hobby zum Geschäft wandelte, spiegelte es selbstbewusst die Taktiken und Geschäftspraktiken von Majorlabels, versah beides aber mit der Behaglichkeit und Vollwertigkeit von Martha Stewarts Kochstunde."
Archiv: New Republic

Public Domain Review (UK), 14.10.2015

Elaine Ayers erzählt in einem wie stets auf Public Domain Review opulent illustrierten Artikel die Geschichte des heute kaum mehr bekannten Botanikers Richard Spruce, der sich im 19. Jahrhundert mit enormer Leidenschaft der Welt und Wissenschaft der Moose - der Bryologie - widmete. Dass Spruce heute nahezu in Vergessenheit geraten ist, mag auch daran liegen, dass Moose schon damals nicht als sonderlich prestigeträchtiges Forschungsgebiet galten. Dafür regten die sonderbaren Pflanze die Literaten und Ästheten des 19. Jahrhunderts durchaus an, wie Ayers in einem kurzen kulturhistorische Exkurs erklärt: "Moose konnten sich als Symbole für Abgeschiedenheit und Geheimnis etablieren. Ganz im Gegensatz zu seinem wissenschaftlichen Ruf als schlicht langweilig, diente Moos dazu, auf botanisch-ästhetische Weise ein Setting für verbotene sexuelle Begegnungen und Ursehnsüchte zu grundieren. Die Gründe für diese sonderbare duale Identität von Moosen als profan, aber auch ursprünglich, liegen auf der Hand: In der Wirklichkeit war Moos ein weiches Bett für jene sexuellen Abenteuer, die außerhalb spießiger viktorianischer Haushalte stattfinden mussten. Moos, ein Slangbegriff für Schamhaar, galt als beständig feucht und glitzerte juwelenartig, wie eine Kolonie von Smaragden unter dem Licht. ... Obwohl Gärten und Wälder als Szenerie für sexuelle Begegnungen literarisch wie real schon lange vor dem 19. Jahrhundert bekannt waren, beschwor eine verborgene Mooshöhlen ein halb-religiöses Bild, einen geheimen Rückzugsort von den Herausforderungen des städtischen Lebens."

Huffington Post fr (Frankreich), 02.11.2015

Kann Filmmusiker heute überhaupt noch ein Beruf sein? Das Berufsbild, das vor dreißig Jahren noch fest umrissen war, hat sich jedenfalls grundlegend gewandelt, schreibt Patrick Sigwalt, Komponist und Generalsekretär der Union des Compositeurs de Musique de Films. "Wie damals ist es heute nur noch bei Großproduktionen. Bei allen anderen Filmen sind der künstlerische Leiter, der Tonmeister, der Tonmischer, die Assistenten und Musiker meist verschwunden. Ein Komponist von Filmmusik findet sich heute von einem Computer unterstützt, ist aber mutterseelenallein. Er muss nun Zuständigkeiten und Fähigkeiten auf sich vereinigen, die früher auf ein gutes Dutzend anderer Berufe entfielen."
Stichwörter: Filmmusik, Huffington Post

New York Times (USA), 01.11.2015

Das Magazin der New York Times widmet sich dem Essen und seinem Wandel. Ferris Jabr erkundet jüngste Bemühungen, das gute alte Weizenkorn wiederzubeleben. Dazu gehört die Reversion moderner Mahltechniken: "Die Stahlwalzenmühle von 1839 brachte einen einschneidenden Wandel, da sie den Kern des Weizens ausschied. Ein Weizenkern besteht aus drei Hauptkomponenten: einem faserigen, nährstoffreichen äußeren Mantel, der Kleie; dem geschmackvollen, aromatischen Keim und einem Körper aus Stärke, dem Endosperm, das den größten Teil des Kerns ausmacht. Vor der Verwendung der Walzenmühle wurden alle drei Teile zusammengemischt, das Mehl war nicht weiß wie heute, sondern kräftig und golden gesprenkelt, weil es Keimöle und Kleieanteile enthielt. Wegen des Öls war das Mehl allerdings leicht verderblich. Die Walzenmühle löste dieses Problem. Ihre rotierenden Zylinder sondern die Kleie und den Keim vom Endosperm ab und produzieren reinweißes Mehl aus nichts als Stärke. Für die Mehlindustrie war es ein Segen. Sie konnte nun Mehl aus verschiedenen Quellen miteinander mischen und es durchs Land schicken, ohne sich um Haltbarkeit zu sorgen. Eine Haltbarkeit, deren Kosten allerdings enorm waren, weil sie den Geschmack und den Nährwert des Korns opferte. Seit den 1940ern wird dem Mehl daher Eisen und Vitamin B zugesetzt. Der Siegeszug der Walzenmühle und der industriellen Brotfertigung setzte außerdem die Pflanzenzüchter unter Druck, den Weizen den neuen Technologien noch besser anzupassen. Reinheit, Härte und Einförmigkeit siegten über Geschmack und Nährwert."

Außerdem: Tamar Adler erinnert an die Küche des Atomzeitalters, bestens repräsentiert in Betty Crockers legendärer "Recipe Card Library" mit ihren anämischen Fotos. Und Francis Lam sucht nach den schwarzen Wurzeln amerikanischer Kochkultur. Und Karl-Ove Knausgard widmet in der Sunday Book Review Michel Houellebecqs "Unterwerfung" eine epische Besprechung.
Archiv: New York Times