Heute in den Feuilletons

Wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2012. Die taz ist nicht unzufrieden mit der Documenta, sieht aber noch keine Erdbeeren in der Akademie. Laut FR möchte Heribert Prantl seine Beschreibung der Voßkuhlschen Küche als "gleichnishafte Zusammenfassung" verstanden wissen. In der Basler Zeitung erklärt der Feuilletonchef der NZZ, warum er sich keine Gedanken mehr über seine Zukunft macht, seit er 22 ist. In der SZ propagiert Clay Shirky Open-Source-Ideen für die Demokratie. In der FAZ plädieren Sahra Wagenknecht und Michael Hudson für die Entwertung aller Schulden. Auch Ihrer! Und zwei Videos von Chris Marker.

FR/Berliner, 31.07.2012

Gegenüber Ulrike Simon gibt sich Heribert Prantl, der mit seinem Voßkuhle-Porträt die deutsche Reportagekultur um ein weiteres Glanzstück der Fiktion bereichert hat, nur halb zerknirscht: "'Das war ein Fehler', bekannte Prantl am Montag hörbar angefasst im Telefonat mit dieser Zeitung. Da war die Redaktionskonferenz gerade zu Ende, für die er eigens seinen Urlaub unterbrochen hat. Er wusste, dass es dort seinetwegen hoch hergehen würde. In seiner Stellungnahme sagte Prantl, er sei der Auffassung gewesen, aus dem Text gehe hervor, dass er nicht selbst in Voßkuhles Küche war."

Dorette Deutsch führt in die Welt der afghanischen Musik ein, an deren große Tradition verschiedene Musiker wieder anzuknpüfen versuchen: "Typisch sind die Langhalslauten Rubab, Tanbur, Dotar, Danbura, die gezupft werden, die Streichinstrumente Ghichak und Sarinda, die Bambusquerflöte Tula, die Holztrommeln Zerbaghali, Dhol, Dulak, Doira und die kleinen Becken Tal."

Besprochen werden Pixars Animationsfilm "Merida" und Hyman P. Minskys "Instabilität und Kapitalismus (siehe auch unsere Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Musik, Urlaub, Pixar, Afghanische Musik

Aus den Blogs, 31.07.2012

Bei Facebook können Mitglieder von Gruppen neuerdings sehen, wer einen Beitrag gelesen hat. Solche einfachen Aktivitäten werden anderen immer häufiger angezeigt, ohne dass man selbst es steuern kann. Sowohl bei Facebook als auch bei Google, so Marin Weigert in Netzwertig, werden Nutzer immer mehr gezwungen, "Spuren zu hinterlassen, statt sich lautlos durch die Weiten des Webs bewegen zu können. Wer aus irgendwelchen Gründen im Social Web unsichtbar sein will, muss bereits heute sehr aufpassen - er darf weder versehentlich Chatnachrichten entgegen nehmen, noch bei Skype einen Antwortentwurf schreiben und diesen dann ohne Ersatz löschen, noch sich bei Facebook einloggen, wenn eine neue Benachrichtigung über einen Eintrag in einer abonnierten Gruppe wartet."

A propos Prantl. Richtigstellen ist nicht unbedingt die größte Tugend des deutschen Journalismus. Peter Zangerl erzählt im Blog suedwatch.de, das die Berichterstattung der SZ kritisch begleitet, wie er versuchte, SZ-Feuilletonredakteurin Franziska Augstein auf einen gravierenden Fehler in ihrer Videokolumne hinzuweisen: "Weder ließ man sich bei der SZ dazu herab, dem Schreiber zu antworten... noch, und das ist viel entscheidender, entschloss man sich das Video vom Netz zu nehmen. Jetzt eine unwahre Behauptung wider besseren Wissens, sprich eine Verleumdung, lief das Filmchen munter weiter." (Später entfernte man es, allerdings ohne den Fehler zu korrigieren, so Zangerl.)

Der große Filmessayist Chris Marker ist tot. Auf Youtube haben wir in seinem Film "Sans Soleil" über Tokio (und Afrika) den berühmten Moment gesucht, wo er über das "Action Cooking" spricht. (Hier außerdem der Link zur englischen Version des Films)


Stichwörter: Facebook, Marker, Chris, Tokio, Youtube

NZZ, 31.07.2012

Bettina Spoerri blickt auf das morgen beginnende Filmfestival von Locarno voraus, das Charlotte Rampling und Alain Delon mit ihrem kühlen Charme beehren werden. Joachim Güntner begutachtet die erstplatzierten Entwürfe für das Leipziger Freiheitsdenkmal. Marion Löhndorf berichtet, was London in Zukunft mit seinem Olympiagelände anfangen will.

Auf der Medienseite erzählt Hoo Nam Seelmann, wie erfolgreich Südkorea seine sentimentalen Fernsehserien nach ganz Asien exportiert.

Besprochen werden die Salzburger Inszenierung der "Ariadne auf Naxos" ("Eine Sternstunde", versichert Peter Hagmann), Jabbour Douaihys Libanon-Roman "Morgen des Zorns" (Leseprobe bei "Vorgeblättert), Uwem Akpans Erzählungen "Sag, dass du eine von ihnen bist" und John R. Searles Schrift "Wie wir die soziale Welt machen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 31.07.2012

Hansjörg Müller porträtiert in der Basler Zeitung den unbekanntesten aller Feuilletonfürsten deutscher Sprache, Martin Meyer (Bild mit seiner glamourösen Lebensgefährtin Megan Laehn) von der NZZ: "Kurzum: Es ist etwas Preußisch-Zackiges um diesen Meyer, etwas, das so ganz und gar nicht schweizerisch wirken will. Ein Grandseigneur, in ­dessen Höflichkeit man zumindest ge­legentlich auch eine Art vornehme Herablassung sehen könnte. Seit 38 Jahren arbeitet Meyer nun an der Falkenstraße. Als Student hat er hier angefangen und dafür auf eine akademische Karriere verzichtet, denn wie er selbst sagt: 'Wenn Sie mit 22 eine Stelle bei der Neuen Zürcher Zeitung angeboten bekommen, machen Sie sich keine Gedanken, was sonst noch aus ­Ihnen werden könnte.'"

TAZ, 31.07.2012

Ingo Arend zieht Zwischenbilanz der Documenta und ist alles in allem nicht unzufrieden. Die Werke von William Kentridge, Theaster Gates und Thomas Bayrle werden für ihn bleiben. Mit den antispeziesistischen (Erklärung!) Regungen der Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev kann er sich allerdings nicht so recht anfreunden. Es stehe "nicht zu erwarten, dass Hunden und Erdbeeren nach dieser Documenta das Wahlrecht oder der Zugang zu Kunstakademien eingeräumt werden wird".

Auf der Medienseite sieht Bettina Gaus kaum Gründe, das Dokudrama "Konrad Adenauer - Stunden der Entscheidung"auf Arte und im Ersten zu empfehlen (der eine, den sie dann doch findet, ist Joachim Bißmeier als Bundeskanzler).

Besprochen werden Chandrahas Choudhurys Roman "Der kleine König von Bombay" und das neue Buch von John Searle.

Und Tom.

SZ, 31.07.2012

Der Netz-Theoretiker Clay Shirky schwärmt im Gespräch mit Andrian Kreye von den integrativen Potenzialen, die sich aus der Anwendung von Open-Source-Ideen auf die Demokratie ergeben könnten. Vor allem die positiven Erfahrungen mit dem von Linux-Guru Linus Torvalds entwickelten Tool Git, das es mehreren Programmierern gestattet, zur selben Zeit an einem Quellcode zu arbeiten, und am Ende die Ergebnisse zusammenführt: "So kann man auf mehr gute Ideen von mehr Leuten zugreifen und gleichzeitig das Chaos eindämmen. Das lässt sich auf die Erstellung von Gesetzestexten anwenden. Da sind die Abhängigkeiten von Texten untereinander ganz ähnlich wie die Abhängigkeiten von Softwaremodulen. Es gibt also ein ähnliches Managementproblem und gleichzeitig das demokratische Versprechen der Partizipation. Dafür gab es bisher noch kein Werkzeug." Im TED-Vortrag konkretisiert Shirky seine Vorstellungen, wie sich Social Media auf die Politik auswirken könnte, hier davon ein Video.

Weitere Artikel: "Ein Hauch von Detroit weht durch Rüsselsheim", beobachtet Christoph Schröder beim Besuch der einstigen Opel-Metropole. Wolfgang Schreiber fürchtet, dass im Zuge der Eventisierung des Kulturbetriebs "das Einzelne, Individuelle, Kleinere, gern Versteckte" nicht mehr genügend berücksichtigt wird. Thomas Steinfeld erliegt in Schweden dem Spiel des Gitarristen Janne Schaffer. Wolfgang Schreiber schreibt den Nachruf auf die Theaterintendantin Ulrike Hessler. Willy Hochkeppel gratuliert dem Philosoph John R. Searle zum 80. Geburtstag. Fritz Göttler verabschiedet sich von Chris Marker. Dieser experimentierte in den vergangenen Jahren in seinem anonym geführten Youtube-Kanal in Form von Minifilmen mit den Möglichkeiten digitaler Bild- und Videobearbeitungen - hier ein Beispiel:



Besprochen werden die überarbeitete Wiederaufführung der "Tannhäuser"-Inszenierung in Bayreuth, die Helmut Mauró noch immer nicht recht gefallen will, Ulrich Matthes' Kleist-Lesung in Salzburg und John Greens Roman "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

(Via Marc Thomas Spahl) In Sachen Prantl brachte die SZ ein "In eigener Sache", das wir nur im Print gefunden haben:


FAZ, 31.07.2012

Die beiden Chefs des FAZ-Feuilletons, Frank Schirrmacher und Nils Minkmar, interviewen Sahra Wagenknecht von der Linkspartei und den Occupy-Vordenker Michael Hudson, die sich, obwohl Stalinistin und Trotzkist, in der wissenschaftlichen Analyse der Weltlage einig sind. Wagenknecht empfiehlt eine "Entwertung" aller Schulden (auch der privaten): "Wir haben jetzt über Jahrzehnte ein Schuldenwachstum erlebt, das weit über dem realwirtschaftlichen Wachstum lag. Damit ist ein Schuldenberg entstanden, dessen Zinsansprüche nicht mehr bedient werden können." Hudson sekundiert messerscharf: "Wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation." (Es fehlt ein Serviceteil zu dieser Seite, finden wir. Sollen die Leser dieser Zeitung nun Gold kaufen, ihr Geld in die Schweiz bringen?)

Weitere Artikel: Andreas Rossmann bedauert die Schließung der Kölner WDR-Kantine, die von einer Institution der Stadt, Gigi Campi, geleitet worden war. Erik Wegerhof inspiziert den Anbau des Knauf-Museums in der Stadt Iphofen. Jürg Altwegg berichtet über Streitigkeiten um den Nachlass Jeremias Gotthelfs, der in der Schweiz populärer ist als Gottfried Keller. Verena Lueken schreibt zum Tod des Filmessayisten Chris Marker. Gina Thomas freut sich noch im Nachhinein über die gelungene Inszenierung der Eröffnungsfeier für die Olympischen Spiele in London (die auch nicht durch eine Gedenkminute für die Opfer von 1972 getrübt wurde). Auf der Medienseite empfiehlt Jochen Hieber ein Dokudrama über Konrad Adenauer, das in den nächsten Tagen auf Arte und im Ersten läuft.

Besprechen werden Strauss' "Ariadne" in Salzburg, Wiederaufnahmen in Bayreuth und Bücher, darunter der satirische Roman "72 Jungfrauen" des Londoner Bürgermeisters Boris Johnson (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).