Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2003. Der "Kerneuropa"-Streit wird fortgesetzt. In der FAZ wirft Hans-Ulrich Wehler seinem Kollegen Jürgen Habermas arge Verharmlosungen vor. In der Welt fragt Ulrike Ackermann, ob Habermas und Derrida schon mal was von Osteuropa gehört haben. Die NZZ bewundert die Karriere der chinesischstämmigen Amerikaner. Die FR porträtiert Neapel. Die taz hört Schmerzmusik. In der SZ warnt Gianni Vattimo vor EU-Präsident Berlusconi.

FAZ, 27.06.2003

Auch der Historiker Hans-Ulrich Wehler ist für eine "Erneuerung" Europas, doch argumentiert er dabei sympathischerweise weniger mit abstrakten Werten als mit unserem Eigeninteresse. Dieses habe Jürgen Habermas im "Höhenflug" seines Plädoyers vernachlässigt. Drei Kritikpunkte stellt Wehler auf: 1. Die Frage nach den Grenzen Europas. Für Wehler besitzt nur das "historisch gewachsene Europa der derzeitigen EU, in absehbarer Zeit wohl noch ergänzt durch einige Balkan-Staaten" die für eine "gemeineuropäische Identität" nötige Basis. "Die abschreckende Alternative wäre eine riesige Freihandelszone vom Atlantik bis Wladiwostok, von Lappland bis zur türkisch-irakischen Grenze. Sie bedeutete den Verzicht, pointierter gesagt: den Verrat an dem großen Projekt der politischen Einheit Europas, die ja auch aus der avantgardistischen Vorarbeit von 'Kerneuropa' allmählich hervorgehen soll. Sie bedeutete den Verlust eigener politischer Handlungsfähigkeit, eigener Interessenverflechtung, eigener konkurrenzfähiger Währung, glaubwürdiger Ausstrahlungskraft." 2. erteilt Wehler dem Pazifismus als "Legitimationsressource" für eine "europäische Interessenpolitik" eine Absage: "Konsequenter pazifistischer Dauerprotest - auch im Fall eines neuen Srebrenica? - lähmte die EU bis zur Bedeutungslosigkeit." Und 3. rät Wehler dringend davon ab, die politische Einigung Europa aus einem "Dauerkonflikt mit den Vereinigten Staaten" zu kreieren: "Diese bleiben auf absehbare Zeit, bis China und vielleicht Indien als regionale Hegemonialmächte aufsteigen und Russland sich wieder erholt hat, die einzige Weltmacht. Mit ihr sind die Europäer glücklicherweise durch Tradition und Herkunft, Sprache und Kultur, Werte und politische Institutionen eng verbunden. Deshalb ist es atemberaubend kurzsichtig, auf ein halbautoritäres System wie in Russland und einen verblassenden Staatskommunismus in China als Partner gegen Amerika zu setzen."

Weitere Artikel: Martin Halter hat zugehört, als Susan Sontag in Tübingen über das Schreiben sprach. Aro. meldet, dass Detmold seinen Interndanten Heinz-Rudolf Müller rauswirft.

Auf der Medienseite beschreibt Michael Martens, wie in Serbien nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Zoran Djindjic die Presse gegängelt und bedroht wird. Hans-Dieter Seidel singt eine Hymne auf den an Faßbinder erinnernden Film "Scherbentanz" von Chris Kraus (mit Margit Carstensen und Jürgen Vogel), der heute um 20.40 Uhr bei Arte läuft. Auf der letzten Seite zündet Ernst Horst dem Deutschen Museum zum hundertsten Geburtstag eine "hundertkerzige Glühbirne". Dietmar Polaczek skizziert das schwierige Leben der Direktoren der italienischen Kulturinstitute. Joseph Anton Kruse meldet das Auftauchen eines verschollenen Briefes von Heinrich Heine.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Sinatra-Fotos von Bob Willoughby (Bilder) im Ernst-Barlach-Haus in Wedel, die Zarzuela "Luisa Fernanda" in Mailand (eine Zarzuela ist ein Zweiakter mit Musikeinlagen, der im 17. Jahrhundert populär war, erklärt uns Dietmar Polaczek), eine Ausstellung russischer Kubisten und ihrer westeuropäischen Vorbilder im Sprengel-Museum Hannover, die Aufführung von Gesine Danckwarts "Täglich Brot" im Münchner Schauspiel, Paul Harathers Film "Adam und Eva", die Ausstellung "Territories", die analysiert wie Stadtplanung und Architektur als politische Waffe eingesetzt werden, in den Berliner Kunst-Werken und Bücher, darunter Joachim Eibachs "Frankfurter Verhöre", eine Studie über städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 27.06.2003

In der Welt wirft Ulrike Ackermann (mehr hier und hierJürgen Habermas' und Jacques Derridas "Kerneuropa"-Initiative eine schmähliche Ignoranz der Wende und der ostmitteleuropäischen Länder vor: "In ihrer Vision eines antiamerikanischen Kerneuropas spalten Habermas und Derrida nicht nur den Westen, sondern akklamieren die noch längst nicht überwundene Kluft zwischen West- und Osteuropa. Der Epochenbruch von 1989 ist den beiden Intellektuellen keine Silbe wert. Ihre Vision von Kerneuropa, in dem die unartigen Ostmitteleuropäer allenfalls am Katzentisch Platz nehmen dürfen, ist deckungsgleich mit der besitzstandswahrenden westeuropäischen Realpolitik seit 1989." Und ausnahmsweise mal ein Veranstaltungshinweis: Habermas diskutiert heute in der Berliner Akademie der Künste über die Frage "Europa wohin?" mit Jutta Limbach, Janusz Rajter, Wolfgang Schäuble, Gianni Vattimo und Adolf Muschg, dem kerneuropäischen Präsidenten der Akademie.

NZZ, 27.06.2003

In der NZZ berichtet Matthias Messmer heute über die chinesischstämmige Minderheit in den USA. Viele Angehörige dieser Minorität machen entgegengesetzt zur wirtschaftlichen Entwicklung Karriere, was bei vielen weißen Amerikanern Unbehagen weckt: "Anfangs diskriminiert und ausgegrenzt, haben sich die Chinesen zu einem wichtigen Bestandteil der US-Gesellschaft entwickelt. Mischehen gelten nicht mehr als Seltenheit, doch weckt die Tüchtigkeit von chinesischstämmigen Studenten und Geschäftsleuten angesichts der herrschenden Wirtschaftsflaute Unbehagen."

Marta Kijowska schreibt zur Rückkehr des Dichters Adam Zagajewskis (mehr hier) nach Krakau aus seinem Pariser Exil: "Als wären zwei Nobelpreisträger, Czeslaw Milosz (mehr hier) und Wislawa Szymborska (mehr hier), für eine mittelgroße Stadt nicht genug, hat auch er (der ebenfalls bereits als Nobelpreis-Kandidat gehandelt wird) sich den Krakauer Dichtern angeschlossen, was der Stadt endgültig den Nimbus einer Literatenhochburg verliehen hat."

Weitere Artikel: Christine Wolter stellt das neue Teatro Stabile in Neapel und seine Leitung vor. Und Paul Jandl berichtet über schmerzhafte Umstrukutierungen beim Österreichischen Bundesverlag. Die Filmseite freut sich, dass sich das Schweizer Festival für Animationsfilm "Fantoche" nach vier Jahren zurückmeldet. Besprochen werden zwei Ausstellungen in Paris, welche sich mit dem Werk Henri Cartier-Bressons und anderer namhafter Photographen befassen (mehr hier).

Microsoft will Google Konkurrenz machen, meldet Detlef Borchers auf der Medien- und Informatikseite: "Einen ersten Hinweis, dass Microsoft in diesem Bereich Ambitionen hat, lieferte Vizepräsident Jim Allchin, der vor zwei Monaten die Suchmaschine Google als 'ganz nett, doch ziemlich einfach gestrickt' abwertete." In der vergangenen Woche stellten dann Fachleute fest, dass ein 'MSNBot' die Websites vieler Internet-Anbieter in der ganzen Welt durchsuchte. "Im Zusammenhang mit den Aktivitäten des MSNBot wurde bekannt, dass bei Microsoft 50 Programmierer mit dem Aufbau einer Suchmaschine beschäftigt sind. Die Suchfunktionen sollen so tief in die nächste Version des Windows-Betriebssystems integriert werden, dass es den Benutzern schwer fallen wird, andere Suchdienste zu benutzen." Same procedure as every time...

Weiteres: "H. Sf." stellt die neuen Zeitschriften Voss und Neon vor. Hans Beat Stadler widmet sich dem Typus des "Nasslesers", also jener kleinen Minderheit, die ihre Zeiung in der Badewanne liest. "Die Badewannenleser haben ganz spezifische Bedürfnisse, die von vielen Verlagen ignoriert, ja mit Füßen getreten werden. Es ist kein Witz: Die Interessen der Nassleser gehen baden." Dominik Landwehr liest ein amerikanisches Lesebuch zu Medientheorie und Computergeschichte - Noah Wardrip-Fruins und Nick Montforts "The New Media Reader". Und Peter Stucki vom Multimedia Labor der Uni Zürich fragt: "Multimedia - Modebegriff oder seriöse Wissenschaft?"

FR, 27.06.2003

In einem kleinen Porträt von Neapel beschreibt Gabriella Vitiello, wie sich die Stadt in den vergangenen Jahren aus dem "Labyrinth aus Armut, Schattenwirtschaft und Camorra weitgehend befreit" und einen "Neuanfang" gewagt habe. Viele Linksintellektuelle kritisierten die kulturellen und städtebaulichen Maßnahmen dennoch als "oberflächliche Verschönerungen". "Die Eigenheiten der Volksschicht, seine Geschichte, seine Kultur und sein Gemeinschaftssinn werden im neuen Stadtbild kaum repräsentiert. Es hat eine Trennung zwischen dem 'Bauch Neapels', der kruden Realität der Volksviertel, stattgefunden und dem 'Salon', dem Viertel der Bürger Neapels - stellt die Stadtintelligenz missmutig fest und fordert die Erhaltung der 'Kultur der Armut', die Bild und Wesen Neapels für Jahrhunderte prägte. Mit ihrer Kritik greift diese Kulturelite einen literarischen Topos auf, der Neapel in zwei Städte einteilt: die des Volkes mit seinem Dialekt und die der Herrschenden mit der italienischen Hochsprache."

Weitere Artikel: Ralf-Carl Langhals resümiert die Mannheimer Schillertage als "großen Erfolg", Sandra Danicke informiert über eine Initiative für ein Ernst-May-Museum in Frankfurt, und in der Kolumne Times mager gibt Alexander Kluy Hinweise, wie man der Mobbingfalle entkommt.

Besprochen werden Ken Loachs Doku-Drama "Sweet Sixteen", eine Ausstellung über den Mythos John F. Kennedy am Deutschen Historischen Museum in Berlin, die Kunstschau "Auf eigene Gefahr" in der Frankfurter Schirn und die CDs der Woche, darunter ein "extravagantes" Album mit Finnischem Tango (hier).

TAZ, 27.06.2003

In einem komplexen Essay beschäftigt sich Klaus Walter mit dem Phänomen schmerzhaften Hörens oder eben: "Krankheit als Metapher der neuen elektronischen Musik". Die Ursache ist offenbar eine Art ungewohnter oder -verstandener, ja, Krach. Offizielle US-Folter in Bagdad mit Musik von Metallica ("Glauben Sie mir, es funktioniert, diese Leute haben noch nie Heavy Metal gehört, sie halten das nicht aus"), Musikredakteure mit Hörstürzen, das bedarf allerdings der Erläuterung. Doch das, was manche einfach für Krach halten, seien oft gezielt kalkulierte und theoretisch untermauerte "Störsound-Strategien". So zitiert Walter in seiner Analyse unter anderem ein Begleitschreiben zur Platte der Gruppe Echokrank: "Während sich eine elektronische Musik durchgesetzt hat, in die sich jedes Umweltgeräusch problemlos integrieren lässt, so ist bei Echokrank jeder zusätzliche Ton störend. Musik ist nur ein anderes Wort für den Krach in dieser Welt. Go see the doctor."

Auf der Meinungsseite kritisiert die globalisierungsgegnerische Publizistin Naomi Klein ("No Logo!") die "rücksichtslose Öffnung des Irak für den Welthandel" durch die USA. So habe sich der an die Spitze der irakischen Zivilverwaltung gestellte Paul Bremer zumindest in einer Hinsicht "als Glücksgriff erwiesen: Den US-amerikanischen Multis wird in Bagdad der rote Teppich ausgerollt."

Tobias Rapp huldigt dem Schauspieler Chow Yun-Fat (auch laut Los Angeles Times der "coolste Schauspieler der Welt"), der sein Talent derzeit noch an Filme wie "Bulletproof Monk" verschwenden müsse. "Tatsächlich sind es die ganz großen Namen der schweigsamen Coolness-Darsteller, die einem sonst noch als Vergleich einfallen: Steve McQueen, Clint Eastwood, Alain Delon." Hier eine Website über den Mann.

Auf der Medienseite erklärt Steffen Grimberg, was auch der Nichtnutzer einer Nachrichtenagentur über dpa wissen muss und vor allem, warum ein Boykott derselben letztlich "paradox" ist.

Besprochen werden die neue CD von Steely Dan ("Schlussverkauf"), der Film "Bollywood/Hollywood" von Depa Mehta, der nämliche aufeinander treffen lässt, und im Aufmachertext wird der "geheimnisvolle" schwedische Krimiautor Bo Balderson (Pseudonym!) vorgestellt.

Und hier Tom.

SZ, 27.06.2003

Berlusconi ante portas - der Turiner Philosoph Gianni Vattimo warnt schon einmal vorsorglich vor der italienischen EU-Präsidentschaft. "Das Risiko besteht darin, dass sich unser Premier - genau wie es seine Verlage und Fernsehsender gerade in der italienischen Öffentlichkeit verbreiten - ohne die absorbierenden Justizprobleme tatsächlich mit der ihm zugeschriebenen Eifrigkeit und Effizienz der Entwicklung der Europäischen Union widmen könnte. Was das heißt, kann man an den Zuständen in Italien ablesen. Besitzt Europa genügend Antikörper, um im kommenden Halbjahr nicht von dem Virus einer erodierenden Demokratie wie in Italien angesteckt zu werden?" Vattimo hat eine eigene Homepage.

Der Schriftsteller Robert Menasse (mehr hier) bekennt, warum er "den Terrorismus lieben muss", weil er "nicht lieben kann, was ihn davor schützt." Der Berliner Kultursenator Thomas Flierl gibt sich optimistisch und behauptet, die Stadt sei "aufgewacht". Die SZ druckt Auszüge aus seiner als "Blut-und-Tränen-Rede" apostrophierten Ansprache vor dem SPD-Kulturforum. ( ist ja zugegebenermaßen leicht gesagt, aber auf eine Brot-und-Rosen-Rede hätte man auch mal wieder Lust). "Schönheit im Detail" verspricht jedenfalls Ira Mazzoni aus der Münchner Antikensammlung, die nach dreijähriger Sanierung jetzt wieder geöffnet ist. Till Briegleb informiert über Pläne, wonach das Architekturbüro Herzog & de Meuron im Hamburger Hafen eine Philharmonie bauen soll. Und "cris" räsoniert über das Böse bei Internet-Tauschbörsen. Bilanziert wird außerdem die Evaluierung des ersten Jahres "Juniorprofessuren" durch die "Junge Akademie" Brandenburg.

In einem kleinen Opernschwerpunkt erklärt Reinhard J. Brembeck, warum die Oper niemals wirklich ausgestorben ist, Jens Malte Fischer schwärmt vom "Shootingstar der Festivals", der russischen Sopranistin Anna Netrebko, und "etho" vermeldet, dass es für einzelne Veranstaltungen der Münchner Opernfestspiele noch Karten gibt.

Besprochen werden die Uraufführung von Ingrid Lausunds Stück "Das Leben - ein Hobby" am Kölner Schauspiel, eine Ausstellung der Requisiten und Skizzen von Laurie Anderson im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, der Film "Was Mädchen wollen" von Dennie Gordon, die Uraufführung der Sprachoper "Unser Oskar" nach O.Maria Graf im Cuvillies-Theater München und Jörg Widmanns Oper "Das Gesicht im Spiegel" (wir schwören: es geht aus dem Artikel nicht hervor, wo man die Oper sehen kann/konnte oder auch nicht). Und Bücher, darunter eine Abrechnung mit dem "Stutenbiss" von Rachel Simmons, eine "lobende" Studie über Kaiser Ferdinand I und ein Wörterbuch zur Gartenkunst. (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).