Vorgeblättert

Lawrence Weiner: Gefragt und gesagt. Teil 3

29.11.2004.
LW: Ich bin auch nach Los Angeles gereist - oft auf komplizierten Wegen, aber Kanada, der Mittlere Westen, das ist für mich ehrlich gesagt alles dasselbe. Wo ich lebe, ist meine persönliche Entscheidung, aber ich glaube an keine provinzielle Kultur, und ich lehne die Idee einer provinziellen Kultur im Grunde ab. Das ist sehr wichtig. Aber es ist eine gesellschaftliche Verpflichtung, und das akzeptiere ich. Ich komme aus keiner institutionellen Situation - weil ich merkte, daß ich Künstler sein muß, das ist meine logische Struktur. Und Bücher präsentieren eine logische Struktur in einer Mise-en-scene; das ist es, weshalb ich anfing, Bücher zu machen. Weil die Bücher Arbeiten präsentierten, die nicht in die bestehende Gesellschaft paßten und die trotzdem schon ein Publikum gefunden hatten, hatten sie offensichtlich einen Nutzen. Ein Buch stellte die Arbeiten in einen Kontext, in dem keine andere Autorität hinter ihnen stand als das, was sie selbst waren, und wenn es möglich war, einen Nutzen dafür zu finden, würde man ihn finden. Siehst du, alle diese Bücher errichten ihre eigene Struktur und bestimmen selbst, was präsentiert wird. Ohne das würden sie nicht funktionieren. Dann werden sie zu Katalogen. Wenn man einen Catalogue raisonne nimmt und versucht, daraus etwas anderes zu machen - wie bei dem Buch The Films and Videos von 1992*, - wenn du das nimmst, ist es tatsächlich ein Catalogue raisonne, aber es präsentiert sich nicht als solcher. Zu dem Catalogue raisonne der Bücher** gibt es eine komische kleine Anekdote; er wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angegriffen, weil er angeblich kein echter "raisonne" war. Und dann wurde er völlig überraschend in derselben Zeitung in einem netten Artikel von einem Bibliographen verteidigt, der erklärte, daß der Katalog alles enthielt, was er wissen mußte. Nirgendwo steht geschrieben, wie ein Catalogue raisonne auszusehen hat; es gibt keine festgelegte Form, aber alle gehen davon aus, daß es eine feststehende Form gibt. Es gibt keine Regeln, niemand weiß, wie ein Catalogue raisonne aussehen muß, und trotzdem sehen alle Catalogues raisonnes genau gleich aus.

JH: Da du dich schon immer mit dem Kodex auseinandergesetzt hast, war das die Struktur, die zu deiner Wahrnehmung davon paßt, was ein Buch bewirkt?

LW: Ich weiß überhaupt nicht, was dieser "Kodex" ist. Seine inhärente Form ist im Westen von links nach rechts zu lesen, im Osten von rechts nach links. Aber tatsächlich ist das dasselbe. Der Katalog, den ich gerade für eine Ausstellung in einer Synagoge in Stommeln bei Köln mache, geht visuell und in der Leserichtung andersherum, weil es in einer Synagoge ist. Wenn ich mich mit einer Struktur beschäftige, die von links nach rechts verläuft, dann mache ich das eben so herum. Für mich ist es dasselbe. Die meisten Leute auf der Welt sind überzeugt, daß jeder weiß, was eine gerade Linie ist, aber das stimmt tatsächlich nicht. Die meisten Menschen verstehen nicht, was gerade Linien sind. Aber sie verstehen Sachen und sie kommunizieren miteinander, und darum ist dieser sogenannte Kodex ein Phantom, ein absolutes Phantom. Warum sieht also ein Buch so aus, wenn in manchen Teilen der Welt Bücher von oben nach unten gelesen werden und in anderen Teilen wieder anders herum und es noch andere Teile der Welt gibt, die eine Form von Literatur und eine Form von Kommunikation haben, die auf einem Würfel, auf einem Kubus geschieht. Die Leute dort können das lesen, weil sie wissen, wo es anfängt und wo es aufhört. Wir wissen das nicht, aber Leute, die kein Englisch sprechen, wissen auch nicht, wo etwas anfängt und wo es aufhört. Wir freuen uns so, wenn wir glauben, etwas verstanden zu haben, daß wir es in eine Kategorie stecken, damit wir verstehen können, was wir geleistet haben, weil es ja eine große Sache ist. Für mich ist das wirklich eine wichtige Sache, denn die logischen Schemata, die ich mir von Materialien gemacht habe sind anders als die logischen Schemata von manchen der jungen Leute an der UCLA (University of California, Los Angeles), die sie beispielsweise in der Schule gelernt haben. Ich habe eine andere Auffassung als viele der Leute, von denen sie das gelernt haben. Wenn sie es schaffen, wenigstens den einen Schritt zu tun, daß sie mein logisches Schema in ihre Gedanken einbeziehen, um entweder dafür oder dagegen zu sein, ist das wirklich eine große Sache.
Was den Zweck von Büchern betrifft, weiß ich nicht, ob ich mit den Büchern irgendein Ziel verfolgte, als ich sie machte. Ich hatte das Ziel, daß man die Arbeiten, die ich machte, sehen konnte, und damals haben die Strukturen sich abgeschottet. Und wegen dieser verschlossenen Strukturen gab es keine andere Möglichkeit, die Arbeiten zu plazieren, ohne daß sie an eine dominante kulturelle Struktur angepaßt werden mußten. Dabei war ich nicht einmal unbedingt gegen die dominante kulturelle Struktur, denn sie ermöglichte es mir, einen Barnett Newman zu sehen und viele andere Dinge zu sehen. Darum war ich nicht dagegen. Aber ich habe versucht, eine andere Struktur aufzubauen, die weniger an der Autorität jener Leute hing, und dafür diesen Leuten mehr Autorität verlieh. Ich glaube, das ist, was du mit dem Kodex des Künstlerbuchs meintest.

JH: Ich frage mich aber auch, wenn du deine Blätter und Plakate draußen auf der Straße aufgehängt hast, bei unsicheren Wetterlagen, wo sie von Regen oder Schnee zerstört werden konnten, oder wo jemand sie von der Wand oder dem Laternenmast abreißen und mit nach Hause nehmen konnte - war dieser ephemere Zustand etwas, das du berücksichtigt hattest?

LW: Nein, sie sind nicht unsicher. Tatsächlich wird es heute mit der digitalisierten Information, eigentlich schon angefangen seit dem UNIVAC, offensichtlich, daß diese Sachen wirklich eine zeitliche Existenz haben. Bücher haben eine Tendenz (seit dem zweiten Weltkrieg - wenn er uns irgendetwas gelehrt hat), daß man vielleicht nicht jedes Buch finden kann, aber dann taucht es plötzlich irgendwo auf, man findet es auf einem Dachboden, man findet es im Badezimmer, man findet Teile davon, die als Toilettenpapier benutzt werden, aber es wird gelesen. Bücher sind sehr viel substantieller als alles andere, was wir haben, genauso wie Vinyl substantieller ist, denn man kann von einem Stück Vinyl immer noch etwas ablesen, aber nicht von einem Tonband.
Wenn ein Tonband einmal zerstört ist, bleibt nichts übrig. Wenn man dagegen Bruchstücke von Vinyl hat, ist es technisch möglich, sie wieder zusammenzukleben. Es wird nicht mehr richtig klingen, aber das Essentielle bekommt man mit. Und ein Buch ist da sehr ähnlich.

JH: Ich erinnere mich allerdings noch an das Mantra der sechziger und siebziger Jahre, daß das Künstlerbuch nicht gemacht ist, um zu überdauern, daß es etwas Ephemeres ist.

LW: Das war nie mein Mantra. Das war ein Mißverständnis von Büchern; es war das Mantra von Leuten, die "Ephemeres machten", die es aber zugleich auch ordneten, archivierten, aufbewahrten und es anderen Leuten als "Ephemera" verkauften. Das ist wie der Firmenchef, der seinen Kindern zu Gefallen jeden Sonntag für die Aktion Save Willie auf die Straße geht und dann am Montag morgen wieder die Thunfischkonservenfabrik leitet. Das ist Unaufrichtigkeit. Ein Standardproblem.
Wie Lenny Bruce sagte: "Wenn es gebogen ist, ist es okay, wenn es gebrochen ist, dann nicht." Aber ein Buch - der Buchrücken kann brechen, aber das Buch selbst zerbricht nicht. Und wenn ich diese Dinge erfahre, weiß ich jetzt nicht ? Ich denke, Bücher sind Bücher, und ich glaube nicht, daß es so etwas wie ein "Künstlerbuch" gibt. Woher will man wissen, ob der Autor ein Künstler ist, wenn es ein Buch ist? Warum sollte jemand etwas machen, was er nicht machen will? Man macht einen Katalog zu einer Ausstellung, weil man die Leute auffordert, mit dem Auto oder der U-Bahn irgendwohin zu fahren, und wenn sie da hingehen, ist das etwas, was sie mit nach Hause nehmen können. Wenn jemand da ist, um die Sachen zu erklären, oder wenn man selbst da ist, können sie das akzeptieren oder es ablehnen. Ein Buch ist dagegen etwas, das nichts benötigt, außer daß jemand es findet. Darum versuche ich, Bücher zu machen, die keine Metapher haben. Dann kann es von Menschen hier zu Menschen dort weiterwandern, ohne daß es irgendwelchen Ballast mit sich tragen muß. Das Buch ist im Grunde Null. Mir gefällt Anne Moeglin-Delcroix' Argument, daß die Verwendung eines Buchs nicht absolut neutral, ein Nullwert ist.*** Es ist eine interessante Ansicht, aber es ist ein Standpunkt.
Das haben wir von Barthes**** und von anderen gelernt. Tatsächlich ist es ja nicht Null, es ist ein Buch. Es gibt vor, einen tieferen Sinn zu haben, aber nach dem ersten Buch hat das zweite keine Bedeutung mehr. Dieselbe Diskussion hatte ich einmal mit Heinz Gappmayr.

JH: Ich habe sehr viele Bücher von jungen Künstlern gesehen, die glauben, sie hätten das Rad neu erfunden, aber ihre Bücher sind für mich oft wie ein Deja-vu. Dank der Technologie, weil es nicht nur zusammengeheftete Blätter, sondern richtig gebundene Bücher sind, sind sie gut gemacht, aber das Problem ist, daß sie in vieler Hinsicht Bücher der sechziger und frühen siebziger Jahre widerspiegeln. Diese jungen Leute haben keine Geschichte dessen, was vor ihnen geschah - nicht, weil es keine Geschichte gibt (es gibt viele Geschichten), sondern weil sie keinen Bezug darauf nehmen.

LW: Und der Grund, weshalb wir nicht so viele Geschichten haben, liegt darin, daß die meisten Leute, die Bücher machten, etwas Besonderes sein wollten und nicht glaubten, daß sie ihre Bücher in Bibliotheken und Buchhandlungen unterbringen könnten. Ich weiß noch, wie Seth Siegelaub versuchte, dem Eighth Street Bookshop Bücher zum Verkauf anzubieten, der damals das Mekka aller Buchläden war, und sie sagten ihm nur: "Das ist kein Buch" und haben sie nicht genommen. Es war ein Mißverständnis, daß manche Leute meinten, sie müßten sie "Künstlerbücher" nennen und sie in einer eigenen Abteilung plazieren, wie die Kategorie "World Music". Ich denke noch heute, daß das ein großer Fehler war - aber wir leben damit - und es wird sich nicht mehr ändern. Ich dachte damals, und ich habe das klar und deutlich gesagt, daß das ein wirklich schwerer Fehler war. Es waren Bücher, und sie enthielten Informationen, die für andere Menschen in Bezug zu sich selbst nützlich waren, und sie hätten einfach eingegliedert werden sollen. Dann hätte es Menschen gegeben, die in Bibliotheken gehen und dort auf sie stoßen. Man sagt immer: "You can?t judge a book by its cover", und dann nimmt jemand ein Buch aus dem Regal und findet es interessant, und so geht es in das ganze schöne Durcheinander ein. Irgendwie waren sich alle zu gut für dieses Durcheinander. Sie waren sich zu gut für eine Ablehnung. Und sie übersahen, daß die Mehrzahl der Bücher, die von irgendjemandem in irgendeinem Bereich, in irgendeiner Richtung, in irgendeiner Sprache veröffentlicht werden, daß die Mehrzahl aller Bücher unbeachtet bleiben, bis irgendjemand sie findet und in die Hand nimmt.

JH: Und das ist eine Epiphanie, mit diesem Gefühl, etwas zu entdecken!

LW: Warum mache ich Bücher? Das ist der Grund, weshalb ich immer noch Bücher mache. Es ist eine zeitaufwendige Sache, Bücher zu machen. Ich mache Kunst und setze sie in Bücher.
Und dann gibt es Komplikationen. Man geht zu einem Drucker und versucht, ihm zu erklären, was man tatsächlich will. Heute kann ich ihm eine vollständige Datei geben, aber dann bleibt immer noch einige Arbeit mit dem Drucker. Man muß berücksichtigen, daß der Drucker nicht weiß, was man machen will, aber er weiß, wie man etwas macht. Das Buch selbst muß sich dem Material anpassen, das präsentiert wird. Und ein Buch ist ein sehr flexibles Medium. Wenn du von einem Kodex sprichst, könntest du genauso gut sagen, daß Menschen, weil sie nicht fliegen können, einem Kodex unterworfen sind. Sie können nicht fliegen, darum müssen sie sich eine Maschine bauen, um zu fliegen. Bei einem Buch muß man die Struktur dessen, was in ein Buch hineinkommen kann, anpassen und muß vergessen, was andere für nötig halten, und muß daran denken, daß man ein Publikum hat, das intelligenter ist, als die meisten kommerziellen Institutionen annehmen dürfen, weil sie ein Massenpublikum brauchen, um die enormen Produktionskosten bezahlen zu können. Die Kunstwelt, wie wir sie kennen, ist aufmerksamer als das allgemeine Publikum, aber sie ist kleiner. Es gibt nicht so viele Leute, die sich für Feldhockey interessieren. Trotzdem wird Feldhockey im großen und ganzen in fast allen Ländern gespielt, aber es ist nicht Baseball, es ist nicht Football, es ist nicht Fußball. Das Material, mit dem ich mich beschäftige - die Beziehungen von Menschen zu Gegenständen - ist allgemein und über alle Klassengrenzen hinweg verbreitet, aber es ist nicht für ein sehr zahlreiches Publikum, von dem ein kommerzieller Verlag leben könnte.

JH: Ja, das haben wir gemerkt ?
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* SHOW (&) TELL. THE FILMS & VIDEOS OF LAWRENCE WEINER. A CATALOGUE RAISONNE, hrsg. v. Bartomeu Mari mit Alice Weiner, Gent: Imschoot uitgevers, 1992.

** LAWRENCE WEINER. BOOKS 1968-1989. CATALOGUE RAISONNE, hrsg. v. Dieter Schwarz, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König / Villeurbanne: Le Nouveau Musee, 1989.

*** Anne Moeglin-Delcroix, L'Esthetique du livre d'artiste. 1960-1980, Paris: Jean-Michel Place, 1997.

**** Roland Barthes, Le Degre zero de l'ecriture, Paris: Seuil, 1953; dt.: Am Nullpunkt der Literatur, übers. v. Helmut Scheffel, Hamburg: Claasen, 1959.

Teil 4