Vorgeblättert

Marcia Pally: Lob der Krtik, Teil 2

26.02.2003.
Aus Kapitel 5:
Das unausgeglichene Selbst: Narzissmus, Religiosität, Faschismus, Neurose.


Erster Abschnitt, worin die "elementare Angst vor Übergriffen" sich auf die Suche nach Gott begibt und im Narzissmus endet.

Es reicht nicht, den Menschen für aufbrausend, unvernünftig und fetischistisch zu erklären und das eigene Schicksal als Ausfluss internationaler Torheiten zu akzeptieren. Wie ist die Unvernunft beschaffen, und wie funktioniert sie? Die oben beschriebenen Auswege nahmen ihren Ausgang in einer Zwangslage, die panische Angst vor einer Bedrohung der eigenen Lebensweise, ein Gefühl der Wehrlosigkeit und der Ungerechtigkeit auslöste, weil man dieses Schicksal nicht verdient zu haben glaubte. Es handelt sich um eine Krise der Verunsicherung hinsichtlich des Selbst und der Welt, und sie ließ in der Neuzeit nicht lange auf sich warten. Hobbes und Spinoza gehörten zu den Ersten, die darüber nachdachten. Kierkegaard tat es in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts dann ausführlicher. Vierzig Jahre später beschrieb Nietzsche den Weg von der Demütigung zur Selbstverstümmelung durch Ressentiment und Selbstgerechtigkeit, wie sie in den verschiedenen Formen einer Flucht vor dem kritischen Denken sichtbar werden. In modernerer Sprache hat Jason Epstein diese Krise als "elementare Angst vor Übergriffen" charakterisiert, als Angst vor "eingebildeten Ungeheuern, die draußen im Dunkeln lauern".

      Die Lösungen müssen zu den Ängsten und Erniedrigungen passen. Sie müssen das Geschehen verständlich machen, ohne dass die Betroffenen sich selbst verantwortlich fühlten; und die widerwärtige, mächtige, aber besiegbare Quelle der Ungerechtigkeit muss sichtbar werden. So rechtfertigt man seine Ängste und seinen Zorn (der Feind ist widerwärtig und mächtig), entwickelt Stolz und Zuversicht (der Feind ist erkennbar und besiegbar) und findet zum inneren Frieden der Selbstgerechtigkeit. Da man keine Verantwortung trägt, ist man unschuldig; man hat Unrecht erlitten und darf zurückschlagen. Die Flucht vor dem kritischen Denken ist manichäisch, simplifizierend, gewollt und ebenso häufig wie populär. Und sie ist insofern narzisstisch, als die Betroffenen sich damit das Leben erleichtern wollen, statt sich den Problemen zu stellen. Sie neigt zum Absolutismus oder zumindest zu der von Eco beschriebenen synkretistischen Ablehnung kritischer Analyse, die den Unterschied ängstlich meidet, eine konspirative Sicht des Anderen fördert und Männlichkeit mit Körperkraft gleichsetzt. Und sie ist religiös. Im 17. Jahrhundert glaubte Spinoza, der Mensch mache sich eine Vorstellung von Gott, die seinen eigenen emotionalen und spirituellen Bedürfnissen entspreche. Der Mensch sehe in der Natur ganz selbstverständlich einen für seine Zwecke nutzbaren Rohstoff, doch da er wisse, dass er sie nicht geschaffen hat, sei er sich nicht sicher, ob er sie sich aneignen dürfe. Um diese existenzielle Unsicherheit zu beheben, setze der Mensch einen Gott, der die Welt geschaffen habe, damit der Mensch sie nutze. Spinoza hatte keinen Zweifel an der Existenz Gottes, aber er meinte nicht den Gott, an den die meisten Menschen dachten und dessen eigentliche Funktion es ist, eine beruhigende Erklärung zu liefern. Spinoza glaubte, dass der Mensch auch bei anderen Ungewissheiten nach beruhigenden Erklärungen suche. Und den meisten hafte etwas Religiöses an, etwa den überkommenen Wahrheiten, der Liturgie, der Gemeinschaft und dem Gruppenhandeln.Dieses Moment zieht sich durch alle in diesem Buch angeführten Beispiele. Man hat den Eindruck, das eigene Leben sei unecht, die eigenen Vorlieben seien Kitsch, und man sucht die Schuld bei den Medien, der Technik und der Globalisierung, obwohl das Gefühl der Entwurzelung seinen Ursprung gerade in den beiden am meisten geschätzten Merkmalen der Moderne hat: in der Mobilität und der ständigen Neuerfindung des Selbst. Unter diesen Umständen ist nur schwer zu erkennen, wie das Problem sich lösen lässt. Doch statt sich der unangenehmen Aussicht zu stellen, sucht man einen sichtbaren, boshaften Feind, den man schlagen kann und dem man nicht nur wegen seiner Bosheit entgegen tritt, sondern auch, weil er anders ist als man selbst. Außerdem hat man so nicht mehr das Gefühl, wehrlos zu sein, denn der Feind erscheint schlagbar. Weil die Technik vom Menschen gemacht ist, behält er die Herrschaft darüber und kann sie letztlich auch zerstören, falls er es will. Unangenehmer ist es da schon, wenn das Elend tiefere Wurzeln hat wie die Grundlagen der Moderne, die nicht so leicht zu steuern sind und zudem in uns selbst liegen.

      Man fürchtet die Gewalt im Leben und schiebt die Schuld den Medien zu, obwohl die Gewalt auch in Zeiten florierte, als es noch gar kein Fernsehen gab. Statt der menschlichen Lust auf Grausamkeit ins Auge zu schauen oder den komplexen ökonomischen und familiären Bedingungen, die zu Gewalt führen, suchen wir uns etwas, das sich leichter bekämpfen lässt, einen hinreichend auffälligen und gemeinen Übeltäter, der wiederum ein anderer ist als wir selbst. (Ich frage mich, wer all die abstoßenden Videos kauft, mit denen die Filmproduzenten so saftige Gewinne machen.) Ein Sieg über die Medien verlangt umfangreiche Kontrollen, weil sie überall von all den verdächtigen Anderen gesehen werden (die auch ihre Kinder zuschauen lassen). Doch ein Sieg ist möglich, weil ein Verbot oder eine Begrenzung der Gewaltdarstellungen in den Medien leichter fällt als die Beseitigung der vielfältigen Ursachen realer Gewalt, die in jedem Fall schwer zu verstehen sind und selbst die Forscher durch ihre Unvorhersagbarkeit irritieren. So fühlt man sich unschuldig, gerecht und effizient. Darin hat die Medienschelte denselben Reiz wie die von ihr beklagten Horrorfilme. Sie beschwört ein erschreckendes, aber besiegbares Ungeheuer, das in die Hirne der Menschen eindringt und sich dort vermehrt, so dass die Menschen ebenso grausam und gewalttätig werden wie es selbst. Kurz gesagt, eine Invasion der Körperfresser. Die Medienschelte verspricht aber auch ein Happyend, weil sie das Verderben mit der Aussicht auf Erlösung verknüpft. Auf das Verderben durch die Nutzung der Medien folgt die sichere Erlösung, da der Mensch die Medien wie alle Technologien zu kontrollieren und nach seinem Belieben zu gestalten vermag. Er kann Medieninhalte verkaufen, und er kann sie verbieten. So können wir uns über die abstoßenden Darstellungen in den Medien aufregen und wissen doch zugleich, dass wir die Kontrolle darüber haben. Wir erschaffen und töten. Die Menschheit siegt. Der Mensch ist Gott. Einem Spinoza wäre das zu weit gegangen, doch der Autor des Willens zur Macht wäre enttäuscht gewesen, nicht weil der Mensch sich zu Gott erklärte, sondern weil er dafür eine so lächerliche Arena wählte.

      Die meisten von uns verstehen kaum etwas von Gentechnik, doch statt unsere Unwissenheit einzugestehen, konzentrieren wir uns auf wenige ausgewählte Gefahren. Wir sind gegen die Stammzellenforschung, aber für Abtreibung oder umgekehrt. Wir protestieren gegen die Gefahren von Nahrungsmittelzusätzen, aber nicht gegen die Krebsgefahr beim Grillen; gegen das Rauchen, aber nicht gegen Alkohol; und nur wenige sagen etwas gegen den Verkehr auf den Autobahnen, obwohl das Risiko, dort ums Leben zu kommen, 26-mal so groß ist wie im Luftverkehr. Wir machen aus diesen wenigen Problemen moralische Fragen, weil wir sie - anders als die Wissenschaft - verstehen und kontrollieren können. Nur wenige von uns können sich intelligent zur Stammzellenforschung äußern, aber zur "Selektion" und zu "Ungeborenen" haben wir alle eine Meinung. Statt sich von der Biochemie überwältigt zu fühlen, bringt man allerlei Teufel und Erlöser auf die Bühne und bezieht unverrückbare Positionen im Kampf um das moralisch Rechte.

      Auch von den wirtschaftlichen Grundlagen unseres Daseins verstehen wir nur wenig. Der kulturelle Wandel schürt die "elementare Angst vor Übergriffen" noch hinterhältiger. Statt uns mit komplexen Fragen wie internationalen Handelsabkommen, der Geschäftspolitik von Großunternehmen, menschlicher Habgier und politischer Korruption zu befassen, suchen wir uns einfachere Dinge, gegen die wir kämpfen können. Europäische und amerikanische Arbeiter protestieren, wenn ihre Arbeitgeber Fabriken in die Dritte Welt verlegen, nicht aber, wenn andere Arbeitgeber ihnen Billigprodukte aus solchen Fabriken anbieten. Ein Beobachter schrieb einmal über die Betgewohnheiten in Pakistan: "In Moscheen, auf Feldern, an Straßenrändern sieht man Männer auf die Knie fallen und ihre täglichen Gebete verrichten. So leer ihre Taschen auch sein mögen, in diesem Kniefall vor Gott sind sie alle gleich." Nach christlicher Vorstellung gehört den Sanftmütigen die Erde.

      Die Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit reicht weit in die Vergangenheit zurück. Das Buch Exodus schildert die Verzweiflung der Israeliten, die nach der Befreiung vom Joch des Pharaos nun mit sich allein und mit Gott durch die Wüste ziehen. Die Angst vor dem Ungewissen (Wovon werden wir leben, und wohin sollen wir gehen?) ist größer als ihr Gottvertrauen, und so sagen sie zu Moses, sie wollten lieber zurück in die Knechtschaft gehen, wo ihnen immerhin die nächste Mahlzeit und die nächsten Schläge sicher waren. Stabilität im Elend ist besser als gar keine Stabilität, bemerken die Verfasser der Bibel, und weit besser als die Verantwortung für eine Zukunft, von der man nicht weiß, wie man sie erreichen soll. Moses muss sich sehr anstrengen, um den Israeliten wieder Zuversicht einzuflößen, aber auch dann bleiben sie recht wankelmütig. Auch die beiden folgenden Bücher des Pentateuch berichten von diesem Misstrauen hinsichtlich der Zukunft, und während die Vergangenheit versinkt, erscheint sie in immer rosigeren Farben. Die Israeliten sehnen sich nach der Sicherheit jener Götter, deren steinerne, mit Edelsteinen verzierte Gesichter sie wenigstens sehen können. Der Glaube an den körperlosen Jahwe erforderte eine größere innere Stärke, als die meisten Juden aufzubringen vermochten, und so finden sich auch in den folgenden Jahrzehnten oder Jahrhunderten in den Büchern der Könige und der Propheten noch Berichte über Rückfälle in den Götzendienst. Schließlich gab Paulus dem Monotheismus erfinderisch einen anschaulichen Gott, und abgesehen von den wenigen, die an der jüdischen Vorliebe für Abstraktion und Zweifel festhielten, war Jesus für alle eine Erleichterung. Das war fünfzehnhundert Jahre, bevor die Protestanten den Schwerpunkt vom konkreten wieder auf den unbeschreiblichen Gott legten. Sie hängten die blutrünstigen Bilder in den Kirchen ab und kehrten zurück zu der alttestamentarischen Bürde, auf einen abwesenden Gott vertrauen zu müssen.

Teil 3