Post aus Borneo

In den Urwald im Minutentakt

Von Doris Klein
24.07.2002. Warum eine Bärenforscherin aus dem Urwald zwischen Samarinda und Balikpapan schneller an ihren Arbeitsplatz kommt als eine Philosophenforscherin aus Frankfurt.
Eine Bekannte von mir, die Biologin und Bärenforscherin Gabrielle F., lebt in einem vergrauten Holzhaus an einem kleinen Fluss in einem kleinen Forschungscamp mitten im Urwald zwischen Samarinda und Balikpapan. Für diejenigen, die nicht wissen, wo das ist, sei gesagt, dass die beiden Städte etwa drei Autostunden voneinander entfernt im Osten der indonesischen Insel Borneo liegen. Verbunden sind sie durch den sogenannten Ostkalimantan-Highway; eine kühne Schlaglochpiste, die in den achtziger Jahren aus Loggingroads, also Pisten im Urwald, über die Maschinen hinein und das geschlagene Holz aus dem Wald hinaustransportiert wurde, herausgespachtelt worden ist, damit man die frisch gepflückten Urwaldriesen besser von Samarinda ins weiter südlich gelegene Balikpapan und das Erdöl, die Maschinen und Lebensmittel besser von Balikpapan in die nördliche - und einzige - Nachbarstadt würde bringen können.

Bevor es diese Straße gab, musste man stundenlange Bootsfahrten an der Küste entlang auf sich nehmen um von einem Ort zum anderen und wieder zurück zu kommen. Nun, da es diese Straße gibt, rumpeln die mit Tonnen von Bananen, illegal geschlagenem Holz, Dachziegeln, Menschen, Maschinenteilen, Stinkfrüchten, Hühnern und so fort beladenen Lastwagen nur so hin und her zwischen den beiden Städten. Der Asphalt, eine Mischung aus unterschlagenem Zement, unterschlagenem Sand und unterschlagener Arbeitszeit, die anderweitig gegen doppeltes Geld verbraucht wurden, wird dabei täglich dünner und etwa jeden Monat einmal bricht die Straßendecke irgendwo ein. Mal einen Meter, mal nur einen halben. Manchmal steht man auch an einem fadenscheinigen Asphaltufer und schaut aufs gegenüberliegende, das zwanzig oder auch hundert Meter entfernt sein kann.

Die Menschen, die von Nord nach Süd wollten winken jenen zu, die von Süd nach Nord wollten. In diesen Zeiten fahren die Reisenden dann wieder mit dem Boot zwischen Samarinda und Balikpapan, genauso wie damals, als es die Straße noch nicht gab. Wenn jemand genügend Zeit hatte, zum Beispiel jener, der zuerst nicht mehr weiter kommt, steckt am Straßenrand ein Stöckchen in der Erde, an dessen einem Ende dann, wenn jener Passant auch noch Muße hatte, ein kleiner Wedel weht. Aus einem Bananenblatt, einem Stückchen fleischfarbenem Bast oder auch mal ein Fitzelchen vom eigenen Hemd. Es soll die in der Nacht ankommenden Auto- und Mopedfahrer vor der Gefahr warnen.

Abgesehen aber von jenen Zeiten und um wieder auf meine Bekannte, die Bärenforscherin zurückzukommen, kommt man wundersamerweise auf dieser Insel beinahe überall hin. Auch auf anderen Inseln und beinahe überall dort, wo man die Länder neben ihren offiziellen Bezeichnungen wie Ecuador, Ghana, Indonesien und so fort auch noch Entwicklungsländer nennt, ist das ähnlich. Auch wenn man nicht über ein eigenes Fahrzeug verfügt, was ja gewissermaßen bezeichnend für eben jene Länder zu sein scheint. Was man von den sogenannten schon entwickelten Ländern nicht behaupten kann. Das funktioniert folgendermaßen: Man stellt sich, zum Beispiel in Samarinda, einer Stadt mit ebensovielen Einwohnern wie Frankfurt, an irgendeinen Straßenrand (vorsicht Linksverkehr !) und tut gar nichts, außer nach rechts, links oder geradeaus zu schauen.

Im ungünstigsten Fall ist einem nach zwei, meist aber erst nach drei Minuten die Sicht versperrt, weil direkt vor der eigenen Nase ein kleiner grüner gelber, roter, blauer oder weißer Bus angehalten hat. Dieser Bus bringt einen dann entweder in die entsprechenden grünen, gelben, blauen oder weißen Stadtviertel oder zu einem Platz, dem Markt etwa, wo man in einen andersfarbigen Bus umsteigt; so lange, bis man dort ist wo man hin möchte. Zum Beispiel am Fluss, um mit einem öffentlichen Taxiboot von Südost nach Nordwest zu fahren, dahin, wo es keine Straßen mehr gibt. Dahinter gibt es auch keine Menschen mehr. Zumindest keine, die Geschäfte in der Stadt hätten. Umgekehrt funktioniert das natürlich genauso. Die Busse sind klein, wendig, fahren im Minutentakt und auch mal einen Umweg, wenn man schwer zu tragen hat. Der Fahrpreis ist erschwinglich. Wenn man am Ende der Buslinie immer noch nicht da ist, wo man hinwollte, steigt man an der Bus-Endstation auf eines der wartenden Mopeds um, das einen so weit bringt, wie es einen im weitesten Sinne befahrbaren Untergrund gibt.

Hat man mehr als sagen wir mal einen Zentner Frühlingszwiebeln zu transportieren, eine Küche etwa, braucht man entsprechend mehr Mopeds und ausreichend Kordel. Meist ist man dann auch schon am Ziel. Soweit zur Regel. Anders sieht es aus, wenn wenn die Straße weggebrochen ist oder ein Lastwagen quer liegt oder man Bärenforscherin im Busch ist. Denn dann kann es passieren, dass man am Ende aller Wege und alles Befahrbaren noch drei Stunden zu Fuß gehen muss. Aber nur dann. Und dennoch schafft man es, zum Beispiel als Bärenforscherin im Busch, leicht, am Abend in der Stadthalle von Balikpapan einen Vortrag über malaiische Sonnenbären (mehr hier und hier), brennende Kohleflöze, absinkende Wasserspiegel oder Waldfeuer zu halten und erst nach dem Mittagessen das Haus zu verlassen: drei Stunden Fußweg durch den Busch, in Sungai Wain, dem ersten Ort hinter dem Wald, aufs wartende Moped bis zum 40 Minuten entfernten Ostkalimantan-Highway, dann auf ein anderes (Langstrecken-) Moped und am späten Nachmittag, noch vor Einbruch der Dunkelheit gegen 18 Uhr, könnte man geduscht, umgezogen und schon wieder präsentabel sein.

Ich erwähne das nur deshalb, weil ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln für eine vergleichbare Strecke von einem Ort bei Friedberg mit ordentlicher Asphaltstraße, vielen Schildern, Bus-Wartehäuschen mit kleinen Schaukästen, auf denen man die Abfahrts- und Ankunftszeiten ablesen kann, bis zu einem kleinen Ort im hessischen Ried beinahe einen ganzen Tag gebraucht habe. Alle Straßen waren intakt, kein umgefallener Lastwagen darauf und die Bekannte, die ich besucht habe, war ganz verzweifelt, weil gerade ihr Auto kaputtgegangen war und sie partout nicht wusste, wie sie am nächsten Tag beizeiten nach Frankfurt kommen sollte, wo sie über einen Philosophen forscht. Ich erwähne das auch nur Ihnen gegenüber; hier, auf Borneo, kann ich das nicht erzählen, das glaubt mir kein Mensch! Obwohl ich gelegentlich versucht bin, damit zu protzen, denn es beweist ja nicht weniger, als dass es sich beim Rhein-Main-Gebiet im weitesten Sinne um eine höchst entwickelte Region handelt.
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