Efeu - Die Kulturrundschau

Ballett der verlorenen Illusionen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2018. In der NZZ geht Michael Braun den Weg von der Schwermut in die Anarchie. Die FR folgt Roberto Saviano auf Google Street View durch die Drogenquartiere Neapels. Tex Rubinowitz überlistet in der Standard die Schreibblockade. Der Indiepop-Sänger Sam Vance Law erklärt in der SZ, dass Schwulsein im Pop schwieriger wird, weil in der Branche weniger Geld zu holen ist.  Die FAZ sucht nach einem Design für das reine Menschsein. Und die taz sehnt sich nach Schönheit  in der Baukultur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2018 finden Sie hier

Literatur

Wozu Lyrik-Rezensionen schreiben, fragt sich Michael Braun in der NZZ. Bestimmt nicht zum Gelderwerb, denn die Honorare der Zeitungen sind notorisch niedrig, allein mit Akkordarbeit für den Hörfunk erziele man "ein bescheidenes mittleres Einkommen". Warum dann also? "Es hat mit dem eigenen Existieren zu tun, mit dem Versuch, dem Rätsel des eigenen Daseins auf die Spur zu kommen. Beim Lesen von Gedichten ist man fast immer mit den Fragen nach den letzten Dingen konfrontiert, wir werden unmittelbar und ohne schützende Einleitung in medias res geworfen." Wer Lyrik-Rezensionen schreibt, tue dies, "weil er den Weg von der Schwermut in die Anarchie mitgehen möchte, den einst Günter Eich einschlug."

Mit Lesestrategien und deren Auswirkungen auf die Lektüre befasst sich Arno Widmann: In der FR berichtet er davon, dass er bei der Lektüre von Roberto Savianos Mafia-Roman "Der Clan der Kinder" immer häufiger Google Street View konsultierte und sich dabei in die Straßen und Plätze Neapels regelrecht versenkte - und das, obwohl er ansonsten nicht zur von Straßenplan-Konsultationen flankierten Lektüre neigt. Dass er sich hier anders entschieden hat, hängt "mit der spezifischen Art Realismus des Buches zusammen", schreibt er. "Es ist ein Realismus, der dazu dient, dem Leser Authentizität zu verbürgen. Eine der Methoden ist die genaue Lokalisierbarkeit des Geschehens. Das ist der Geschichte, um die es geht, nicht äußerlich. Beim Drogenhandel geht es um Territorien. Jede Straßenecke muss erobert und verteidigt werden. Jeder Quadratmeter ist Verkaufsfläche. Mein Abtauchen in Google Street View zerstört diesen Zusammenhang. Gleichzeitig erlaubt es mir sofort, mit den von der Fiktion geöffneten Augen auf die Wirklichkeit zu sehen."

Im Standard umtänzelt Tex Rubinowitz unterdessen seine Schreibblockade - wie neue Themen, neue Schreibweisen finden? "Braucht man einen Inhalt, oder reicht erst mal das Gehen (Schreiben)? Folgt der Arsch dem Geist, oder ist es doch umgekehrt? Ich glaube, dass gute Ideen ein Werdeprozess sind, man stößt auf sie, während man sie baut, natürlich gibt es Ideen an jeder Straßenecke, die sehen schön aus, sind nützlich, praktisch, aber man muss sie aufheben, verpacken, kommunizieren, und das geht eben in einer Art Trance, analytisch eher nicht, die Trance macht die Musik. Analytisch wird's zu sterilem Staub."

Weitere Artikel: Elise Graton empfiehlt in der taz den hiesigen Verlagen, doch bitte endlich Marion Montaignes Comics zu übersetzen. Der SWR2 hat einen Radioessay von Ingeborg Bachmann über Marcel Proust online gestellt. Gerrit Bartels gratuliert im Tagesspiegel Philip Roth zum 85. Geburtstag. In der taz schreibt Jan Feddersen zum Tod des Essayisten Michael Rutschky, außerdem ein weiterer Nachruf von Dirk Knipphals (viele weitere Nachrufe im gestrigen Efeu). Deutschlandfunk Kultur hat aus diesem Anlass ein großes Gespräch mit Rutschky von 2015 wieder online gestellt. Birgit Schönau besucht für die Seite 3 der SZ die Villa Massimo.

Besprochen werden Silvia Bovenschens posthum veröffentlichter Roman "Lug & Trug & Rat & Streben" (Tagesspiegel), Nicole Krauss' "Waldes Dunkel" (Zeit), Michael Krügers Gedichtband "Einmal einfach" (NZZ), Richard Fords "Zwischen ihnen" (Standard), Mary Jo Bangs Gedichtband "Elegie" (SZ), Tébos für Erwachsene konzipierter Micky-Maus-Comic "Die jungen Jahre von Micky" (SZ) und Daniel Galeras "So enden wir" (FAZ). Außerdem räumt Arno Widmann für den Perlentaucher wieder zahlreiche Bücher vom Nachttisch, darunter Jakob Augsteins und Martin Walsers Gesprächsband "Das Leben wortwörtlich" und Heinz Budes "Adorno für Ruinenkinder - Eine Geschichte von 1968".
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Bühne


Christoph Marthalers: "Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch". Foto © Matthias Horn

Ganz hingerissen ist Bernd Noack in der NZZ von Christoph Marthalers absurd-pataphysischem Stück "Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch" am Schauspielhaus Hamburg, das er auch als "Ballett der verlorenen Illusionen" beschreibt: "Marthalers wohltönende Nummernrevue, dieses Puzzle aus sehr weit verstreuten Teilen umstösslicher Gewissheiten, wird im Verlauf zu einem dichten poetischen Gesamtkunstwerk. Es ist bis zum romantisch unterkühlten oder unromantisch erwärmenden - beides ist nach den wissenschaftlichen Maßstäben der Pataphysik richtig - Ausklang mit berstendem Cello gleichermassen einnehmend und rätselhaft wie ein sprechendes Gemälde unbefriedigter Lüste; ein klingendes Stillleben der aufgestauten Gefühle, eine akustische Tuschzeichnung zartester Empfindungen, ein schrill tönender Farbklecks letzter verzückter Zuckungen." Weitere Besprechungen gibt es in SZ, Welt und Nachtkritik.

Bei der Tanzplattform in der Essener Zeche Zollverein sind SZ-Kritikerin Dorion Weickmann Hören und Sehen vergangen, so ungeniert wurden männliche und weibliche Körper in Szene gesetzt, das eigentlich vorherrschende Genderneutralitätsgebot schien außer Kraft gesetzt: "Unisono erlag das Publikum dem Bewegungsrausch, den drei strumpfmaskierte Jungmänner in Rafaële Giovanolas 'Momentum'-Arena entfachten."

Besprochen werden außerdem Robert Borgmanns Inszenierung von Rainald Goetz' "Krieg" am Berliner Ensemble ("Kreischnervensägen!", stöhnt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel), Erich Wolfgang Korngolds "Wunder der Heliane" an der Deutschen Oper (Berliner Zeitung, NMZ) Karin Henkels "Rom"-Inszenierung nach John von Düffels und Shakespeare am Deutschen Theater Berlin (SZ), Oliver Frljićs Stück "Gorki - Alternative für Deutschland?" am Gorki Theater in Berlin (taz), Händels Oper "Alcina" mit Cecilia Bartoli und Philippe Jaroussky in Pairs (FAZ).
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Design

Von den Herausforderungen, die sich Grafikdesigner stellen, wenn es darum geht, ein Piktogramm für Unisex-Toiletten zu gestalten, berichtet Niklas Maak in der FAZ. In New York hat man sich nun auf ein Symbol geeinigt, dass an eine Spielfigur aus "Mensch Ärgere Dich Nicht" erinnert, erklärt Maak. Offenbar kann "nur der komplett verhüllte, seiner Extremitäten beraubte Körper" diesen Informations-Transfer garantieren - und dies "offenbar, weil Beine in der Symbolsprache schon als Männlichkeitssymbol verbraucht sind. ... So sieht, zum Symbol geronnen, das reine Menschsein aus: ein Gewicht mit einem Kopf drauf."

Für den Tagesspiegel führt Jens Hinrichsen durch die dem Architekten- und Möbeldesign-Duo Trix & Robert Haussmann gewidmete Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken.
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Film

Die neue Verfilmung des Computerspiels "Tomb Raider" rund um die als eine Art weiblicher Indiana Jones in Szene gesetzte Archäologin Lara Croft wird als feministische Neu-Interpretation der zuvor reichlich sexualisierten Figur annonciert - zumal Hauptdarstellerin Alicia Vikander explizit gegen das bisherige Image der Titelfigur besetzt wurde. Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche bleibt dennoch skeptisch: "Lara Croft bietet außer ihrer brettharten Bauchmuskulatur keine starken Argumente. Als junge Frau mit Vaterkomplex erinnert sie eher an die jugendlichen Heldinnen aus generischen Fantasy-Reihen. ... 'Tomb Raider' wirkt in seiner Vorstellung von Feminismus nicht weniger naiv als die Videospiele aus den Neunzigern."

Weitere Artikel: Die FAS hat Mariam Schaghaghis Gespräch mit Margot Robbie über ihren Film "I, Tonya" über die Eiskunstläuferin Tonya Harding online nachgereicht.

Besprochen werden Sean Bakers "The Florida Project" (Freitag), eine Ausstellung zum analogen Kino im Künstlerhaus Graz (Standard), eine Ausstellung im Filmarchiv Austria über den Stummfilm "Die Stadt ohne Juden" (Standard) und die zweite Staffel der Netflix-Superheldinnen-Serie "Jessica Jones" (FAZ).

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Kunst

In der Kestnergesellschaft in Hannover haben die Guerilla Girls ihre erste Einzelausstellung in Deutschland. Abgesehen von der geringen Quote für Artists of Colour kommt der großbürgerliche Kunstverein aber in der feministischen Kritik ganz gut weg, bestätigt Bettina Maria Brosowsky: In den vergangenen Jahren waren 68 Prozent der Ausstellungen Künstlerinnen gewidmet. Und "seit Mai 2015 hat das Haus, heutzutage glücklicherweise ja keine Ausnahme mehr, eine Direktorin, die schweizerische Kunsthistorikerin Christina Végh. Aber in den 99 Jahren vor ihr gab es eben zehn Männer als Direktoren, die insgesamt rund 700 Ausstellungen verantworteten."

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet, dass Thomas Demand den Großen Berliner Kunstpreis der Akademie der Künste bekommt.

Besprochen werden die Tacita-Dean-Retrospektive in Londons National Portrait Gallery (Guardian), die große Schau von Ganzkörperporträts der "High Siciety" im Amsterdamer Rijksmuseum (FAZ) und eine Schau des Schweizer Architektenduos Trix & Robert Haussmann in den Berliner Kunst-Werken (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Musik

Schier umgehauen berichtet Reinhard J. Brembeck von der Aufführung von Gérard Griseys Avantgarde-Stück "Les espaces acoustiques" durch die BR-Sinfoniker bei der musica viva in München. Das Publikum reagierte "frenetisch", auch weil "Stefan Asbury diesen Wahnsinnsparcours voller Witz dirigiert, er lässt die die Obertonreihe ausleuchtenden Strahlklänge wie selbstverständlich auf- und vergehen. Wieder einmal beweisen sich die 'Espaces acoustiques' als ein ganz großes Meisterwerk, das unmittelbar einleuchtet und emotional überwältigt. Weil es in eine Welt entführt, die fremd sein mag, doch mit Geheimnissen und Glücksversprechen lockt." BR-Klassik sendet das Konzert am 6. April, erfahren wir hier. Im August vergangenen Jahres führte das ORF Radio-Symphonieorchester das Stück unter Maxime Pascal in Salzburg auf. Eine Aufnahme davon steht auf Youtube:



Annett Scheffel unterhält sich für die SZ mit Indiepop-Sänger Sam Vance-Law über den Stand der Dinge in Sachen "Schwulsein im Pop": Früher ging Pop mit Gay- und Queerness provokanter und konfrontativer um. Einen Grund für diesen Wandel sieht Vance-Law darin, "dass in der Musikindustrie nicht mehr so viel Geld steckt. Wenn man seine Musik verkaufen will, zielt man am besten auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. ... Ich glaube, viele gehen auf Nummer Sicher, weil es schwieriger geworden ist, Geld zu verdienen. Aber es liegt bestimmt auch daran, dass Homosexualität nicht mehr der Tabubruch ist, der er einmal war. Queere Ausdrucksformen waren damals auch einfach ein radikaler Gegenentwurf zu dem hypermaskulinen Rollenbild 'Rockstar'." Hier ein aktuelles Video:



Weitere Artikel: In der SZ berichtet Jonathan Fischer, wie das Festival "Sur le Niger" in Mali der wegen Drogenkartelle und Dschihadisten desolaten Lage im Land trotzt. Im Standard spricht Stefan Ender mit Christian Thielemann unter anderem über Puccinis Oper "Tosca", die Thielemann am kommenden Samstag in Salzburg dirigiert. Manuel Brug (Welt) und Jörn Peter Hiekel (Neue Musikzeitung) schreiben über den Komponisten Bernd Alois Zimmermann, der heute vor hundert Jahren geboren wurde. Seine Arbeit "Photoptosis" wurde erst kürzlich beim Berliner Ultraschall-Festival aufgeführt:



Besprochen werden ein Beethoven- und Strawinsky-Abend der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev (Standard), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue Aufnahme der Pianistin Pi-hsien Chen (SZ) und Bettina Zimmermanns ihrem Vater, dem Komponisten Bernd Alois Zimmermann, gewidmetes Collagen-Erinnerungsbuch "con tutta forza" (FAZ).
Archiv: Musik

Architektur

Warum gibt es in deutschen Städten keinen Sinn für Schönheit? Warum ist alles so hässlich? Oder so gestrig? Ronald Berg seufzt in der taz vernehmbar, aber vermutlich vergeblich über die fehlende Baukultur: "Gestaltungssatzungen existieren in Berlin für etliche Stadtquartiere - etwa für die Spandauer Vorstadt, Teile der Karl-Marx-Allee oder den Bereich des ehemaligen Luisenstädtischen Kanals, wovon heute nur noch das Engelbecken geflutet ist. Und stets orientiert man sich dabei an der vermeintlich 'schönen' Vergangenheit. Zeitgenössisch-verbindliche Vorstellungen über das Schöne scheinen zu fehlen. Also das, was Immanuel Kant seinerzeit 'Gemeinsinn' nannte."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Marx, Karl, Kant, Immanuel