Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Kristian Ditlev Jensen: Leibspeise. Teil 1

07.08.2006.
LE MARCHE

Punto


Schmecken handelt davon, die eigenen Vorstellungen zu durchbrechen. Das Gegenteil dessen zu suchen, was man eigentlich suchen würde. Was den eigenen Erwartungen ganz und gar entgegensteht. Carpe diem!
Salz hat auch etwas Süßes. Saures hat auch etwas Bitteres. Zitrone kann zuckrig sein. Kandis einen bittren Beigeschmack haben. Roher Tintenfisch fühlt sich im Mund an wie Grüner Speck. Aubergine wie auf Fleisch zu kauen. Menschenblut schmeckt nach Metall. Die kognitiven Kategorien des Bewußtseins aufzubrechen ist meine Spezialität. Die konforme Erwartung, der wir uns im allgemeinen unterwerfen, demontieren. Ich lebe davon, die Eindrücke, die mein Geschmackssinn auffängt, an der Sprache vorbei direkt ins Gehirn zu schleusen. Damit das Geschmeckte dort in Worte gefaßt werden kann, so als handele es sich um eine Delikatesse, die ich bisher nie gekostet und nie formuliert habe. Selbst wenn es etwas so Bekanntes ist wie Olivenöl, serviert in kleinen kobaltblauen Weingläsern bei einer langweiligen Verkostung wie jetzt in Urbino in Le Marche.
Ich biege zu einer Agip-Tankstelle ab. Tanke voll. Die Zahlen auf den kleinen Rollen der Zapfsäule schnurren wie die Gebetsrollen in einem japanischen Tempel. Beim Anblick der Zahlen in der Zapfsäule denke ich einen Moment lang, daß eigentlich das ganze Leben ein einziger großer Verbrauch ist. Binnen kurzem muß wieder nachgefüllt werden. Und jetzt schon wieder.
Zurück im Leihwagen lege ich die neue CD mit den Drei Tenören ein. Ich habe sie auf dem Flughafen Kastrup gekauft - dem Copenhagen Airport, wie ihn die Ausländer nennen -, ehe ich an Bord der Alitalia-Maschine nach Milano ging. Um vor meiner Ankunft in die richtige Stimmung zu kommen, brauchte ich einfach ein Klischee von Italien.
Schmecken handelt davon, die eigenen Vorstellungen zu durchbrechen. Das Gegenteil dessen zu suchen, was man eigentlich suchen würde. Was den eigenen Erwartungen ganz und gar entgegensteht. Carpe diem!
Hm. Ich versuche es, und wühle dabei in der portugiesischen Tasche auf dem Beifahrersitz nach der amerikanischen Sonnenbrille. Schiebe sie auf die Nase. Mal sehen, ob es funktioniert. Ich höre genau hin, bleibe deshalb hinter einem Lastwagen mit Schokolade aus Deutschland, obwohl der nur kriecht.
Pavarotti klingt wie ein dünner kleiner Mann und überhaupt nicht wie dieses große Stück Fleisch, das er im Grunde doch ist. Domingo will um alles in der Welt wie ein raf nierter Italiener klingen, ist und bleibt aber ein gewöhnlicher spanischer Bauer, der dasteht und blökt wie ein Schaf. Die Stimme des kleinen Carreras' ist gewaltig. Beinahe donnernd.
Die kognitiven Kategorien des Bewußtseins zu durchbrechen ist meine Spezialität. Die konforme Erwartung, der wir uns im allgemeinen unterwerfen, demontieren. Ich lebe davon ... Grrr, ich hasse es, Vorträge zu halten.
Psychisch habe ich damit inzwischen kein Problem mehr. Ich weiß genau, was in den Topf geworfen, wann und womit gewürzt werden muß und wie das Ganze serviert werden soll. Aber rein physisch kann es mich ziemlich nervös machen. Ich bekomme regelmäßig Bauchweh. Und mein Gehirn fängt an zu rotieren, als wäre es auf Speed. Immer wieder gehe ich in Gedanken den Text durch. Ich höre nicht eher auf, bis er total feingemahlen ist, ich zerdrücke ihn in feine Stücke, ich mahle ihn zu Sprachmehl. Und dann versuche ich es sofort noch einmal von vorn.
Autofahren in Italien, in einem schwarzen Fiat Punto durch diese wahnwitzigen Haarnadelkurven rasen, so daß man sich wie Lakritz fühlt, das durch das komplizierte Darmsystem saust, oder wie eine Fliege in einer Flasche zwischen Millionen klappernder Flaschen in Carlsbergs riesiger Abfüllhalle, das ist das eine. Aber vor Hunderten hungriger Augen und Ohren und Nasen und Münder zu stehen, die erwarten, daß man sie mit alldem füllt, was es zu lernen gibt von der Anatomie der Zunge, den besten Trauben des letzten Jahres, dem tieferen Sinn von Kalorientabellen, plus einer Unmenge von Geschmacks- und Geruchseindrücken, das ist etwas ganz anderes.
Das liegt weniger daran, daß es auf italienisch sein soll, daran habe ich mich längst gewöhnt, und solange ich nur das Manuskript dabeihabe, so wie heute, ist es unproblematisch. Es liegt eher daran, seine privatesten Erlebnisse mit so vielen Menschen auf einmal teilen zu müssen. Schmecken, das ist individuelles Erleben. Das ist die Begegnung des individuellen Körpers mit einem kleinen Stück der Welt in einem einmaligen Augenblick. Essen ist intim.
Verkostungen in Italien finden normalerweise in Gruppen statt, mehrere Verkoster erörtern ihre jeweiligen individuellen Erlebnisse im Plenum. Heute muß ich bei einer Demonstration, einer gemeinsamen Verkostung mit Forschern, Köchen, Kellnern und außerdem einigen Kollegen von italienischen Zeitungen den Vorsitz führen. Mir wurde mitgeteilt, daß sich über zweihundert Menschen zu meinem Vortrag eingeschrieben haben.
Ich werde über Bier sprechen. Nicht nur über dänisches und englisches Bier, wie man es erwarten könnte, weil ich die Essenskultur beider Länder gewissermaßen im Gepäck habe, sondern tatsächlich auch über die meisten anderen Sorten. Ich werde ausführen, wie wir Schaum, Farbe, Körper, Fülle, Nase, Geschmack und so weiter vergleichen und bewerten können, wenn wir "schmecken", was insofern etwas ganz anderes ist, als Sachen einfach in den Mund zu nehmen. Ich werde die speziellen Schmeck- und Riechtechniken erklären, die für sensorische Analysen von Bier nötig sind. Ich werde auf die unterschiedlichen Herstellungsweisen in den diversen bierproduzierenden Ländern zu sprechen kommen. An dieser Stelle werde ich besonders auf die etwas unterschiedlichen japanischen, chinesischen und koreanischen Produktionsmethoden eingehen. Ich werde die Haupttypen durchgehen und die wichtigeren Varianten. Ich habe eine Karte zur Geographie des Weizenbiers vorbereitet, und außerdem habe ich ein großes Schema über Malzfarben dabei, das als Hand-out an alle ausgeteilt wird, damit wir einen Maßstab haben, damit wir uns einigen können, was genau wir meinen, wenn wir sagen, der Malz sei Kastanie, Karamel oder Mokka. Zum Schluß werde ich etwas zum Essen sagen, dazu, was zu welchem Bier paßt. Wenn ich mit meinem eigenen Bierzirkus fertig bin, steht es mir frei, den Kursen all der anderen Experten dieser großen Slow-food- Konferenz zu folgen.
Es gibt Kuchen- und Dessertdemonstrationen mit Fokus auf italienischem Honig, auf Kuchen, auf Konfitüre und Schokoladen. Es heißt, ein Repräsentant von Amadei aus der Toskana werde kommen. Ihn will ich sehr gern hören. Bei Il Mondo dei Distillati, der "Welt der Destillate", kann ich mehr über die Klassifikationen unserer destillierten Getränke und die zugehörige Terminologie erfahren. Darüber müßte ich selbst mal etwas mehr arbeiten, finde ich.
Es gibt "Käse für Anfänger", meinem Gefühl nach muß ich dem nicht unbedingt beiwohnen. Da geht es nur um Geschichte, Rinderrassen, etwas Mikrobiologie, etwas zur Rechtslage bei Rohmilch, Herkunftskontrolle und Vergiftungsfälle, und dann noch ein bißchen um die Rolle von Käse bei der Essenszubereitung. Den Ölkurs nehme ich auf jeden Fall mit, aber das tue ich im Grunde genommen, wann immer sich mir die Gelegenheit bietet. Dieses Mal vor allem wegen der Klassi kationen, der Festlegung biologischer und ernährungsmäßiger Standards - abgesehen von den Besonderheiten der regionalen Produkte, worauf ich mich am meisten freue.
Es gibt auch einen Kurs über "Aromen, Gewürze und Essig"; den anzuhören, könnte Spaß machen, unter anderem, weil ihn kein Geringerer als Marcello d Amato geben wird, den ich im letzten Jahr kennengelernt habe. Marcello erwies sich als unglaublich stark im Datieren von Essig, nicht zuletzt von balsamischem.
Zu meinen musts gehört der Vortrag über die Geschichte der europäischen Gastronomie seit ihren Anfängen bis zur endgültigen Demarkation der italienischen Küche durch Artusi, da, wo er den entscheidenden Schnitt macht und sagt, dies ist italienisches Essen -
basta. Im zweiten Teil wird der Vortragende mit seinen Ausführungen über die "französische Revolution" bis hin zum modernen Geschmack fortfahren, also von Pellegrino Artusi bis heute. Ich rechne damit, daß er mein Überblickswissen festigen kann, und - wer weiß - vielleicht gibt es ja in meinen Kenntnissen noch die eine oder andere Lücke, die sich so füllen ließe - mit etwas, woran ich bisher noch nicht einmal geschnuppert habe, einer seltenen Olive oder einem besonderen Stück Käse.
Die Weinkurse sehen gut aus, sogar richtig gut, aber ich habe das Gefühl, daß ich es dieses Mal nicht verantworten kann, daran teilzunehmen. Ich muß bereits am Abend weiter nach Triest zu dem seit langem erwarteten Treffen mit den Leuten von Illy Caffe wegen der Übersetzung von Chemie des Kaffees, über die wir schon ziemlich lange verhandeln, finde ich, ohne daß tatsächlich etwas geschieht. Und die Promille, die ich allein vom Verkosten bekomme - selbst wenn ich ausspucke, gelangt durch die porösen Schleimhäute des Mundes doch genug in die Rennbahnen des Bluts -, sind zu viele, um anschließend noch Auto zu fahren. Besonders bei einer italienischen Verkostung mit einem verführerischen roten Meer aus Wein von nah und fern.
Ich sause die Allee hinunter, zwischen den Zypressen hindurch, die wie natürliche Bautasteine am Rand stehen, und nun singen die dreI'mehr oder weniger großen oder kleinen, mehr oder weniger dicken, mehr oder weniger italienischen, mehr oder weniger raf nierten Opernsänger eine bis zum Überdruß durchgekaute Puccini-Arie. Die Sterne leuchteten und bla, bla, bla. Der Duft strömte herein, bla, bla, bla. Süße Küsse und unendliche Zärtlichkeiten, bla, bla. Und sie stirbt in Verzweiflung. Oje, oje.
Der Mann schreit wie verrückt, als wäre sie in Wahrheit schon tot.
Ich drücke auf den Knopf mit dem kleinen Dreieck über einem waagerechten Strich. Das sieht doch aus wie ein Gartenhäuschen! Oder wie ein Teehaus. Es bedeutet eject.
Schmecken handelt davon, die eigenen Vorstellungen zu durchbrechen. Das Gegenteil dessen zu suchen, was man eigentlich suchen würde. Was den eigenen Erwartungen ganz und gar entgegensteht. Carpe diem!
Ja. So ist das. Und ich versuche ja auch, danach zu leben. Und warum auch nicht. Dann blättere ich rasch mit der rechten Hand durch die Silberscheiben in dem schwarzen Schuhkarton von Mitsukoshi, ohne dabei den Blick von der schreiend gelben Vespa zu wenden, die vor mir fährt. Unglaublich, einen Diplomatenkoffer senkrecht auf dem Gepäckträger stehend so zu balancieren, bei der Geschwindigkeit, die das kleine rote Kostüm mit den atternden Schößen vor mir hält. Vespa bedeutet Wespe. Ich lächle, das tue ich jedesmal, wenn mir so ein gut gewählter Name auffällt oder solche originellen Übereinstimmungen klarwerden. Ich nehme eine CD mit schwarzem Seidendruck auf der einen Seite, und ohne sie genauer anzuschauen, schiebe ich sie in den metallfarbenen lippenlosen Mund der Armatur. Um es noch spannender zu machen, drücke ich auf random.
Als die Musik einsetzt, biegt die Frau in dem roten Kostüm scharf nach rechts ab. Sie fällt gleichsam ab, fällt nach der Seite, fällt weg.
Es ist etwas Synthetisches, etwas Streicherartiges, aber trotzdem elektrisch. Unmittelbar wiedererkennen kann ich es nicht. Kleine dikke-dikke Laute. Ich kenne es gut, aber trotzdem klingt es fremd. Das klingt nicht wie eine meiner Scheiben. Eine junge Frau beginnt eberhaft zu stammeln, bitchy, gekränkt, unaufhaltsam. "Now that you are out of my life, I'm so much better. You thought that I d be weak without you, but I'm stronger. You thought that I d be broke without you, but I'm richer ..."
Ich kenne den Song. Aber das ist ganz sicher nicht meine CD. Ich habe im Auto immer so Sachen dabei wie Amalia Rodrigues, Tony Scott, John Cale, Philip Glass, Olga Tanon, Luciano Tajoli, Valeria Rossi, Leo Delibes, Eliades Ochoa und Omar Faruk Tekbilek. Ja, damals hatte ich sogar A-ha mit. Aber nie R & B. Überhaupt, das hatte ich noch nie. Ich kenne den Namen der Gruppe nicht mal. Ich mag diese glatte, uninteressante, eigentlich leere Musik doch gar nicht. Woher also um Himmels willen kommt diese CD?
Während ich weiter die Autostrada entlangfahre, gehe ich meinen Vormittag durch. Habe ich nicht vor ein paar Stunden vor dem Regal im Wohnzimmer gehockt und meine Scheiben in den Karton gepackt, damit ich auf der Reise genau die richtigen dabeihabe? Und ich besitze so eine CD doch nicht mal!
"You thought that I wouldn't grow without you, but I'm wiser. You thougt that I'd be helpless without you, but I'm smarter ..."
Ein Rätsel. Nichts anderes. Jemand hat sie in den Schuhkarton gemogelt? Jemdand hat sie heimlich zwischen die CDs meiner Sammlung gesteckt? Der frühere Besitzer des Autos war sie leid und hat sie für den nächsten Besitzer im Auto zurückgelassen? Nein, denn dann wäre sie ja nicht in meinem Karton.
"I'm a survivor, I'm not gonna give up, I'm not gonna stop, I'm gonna work harder, I'm a survivor, I'm gonna make ist, I will survive, keep on surviving ..."
Die Situation hat etwas Unangenehmes - sie ist das, was Freud einmal unheimlich nannte. Sie ist unheimlich. Sie ist unbekannt und fremd. Echt exotisch, allerdings auf die uncoole Art.
Ein Stück weiter entdecke ich an der Autobahn einen Parkplatz. Ich ordne mich zum Abbiegen ein. Schaue rasch über die Schulter. Als das Auto endlich hinter den großen Bäumen zum Stehen kommt, drücke ich den Knopf, so daß sich die CD mit einem Summen herausschiebt. Und während die Welt vorbeifährt, sitze ich einen Augenblick ganz still da.
Destiny's Child?
Keine Ahnung, wer zum Teufel ist Destiny's Child? Aber auf der CD steht noch etwas anderes. Große und dazwischen kleine Buchstaben, als hääte ein Kind sie geschrieben, das gerade das Alphabet gelernt hat. Mit roter, fast durchsichtiger Tusche, blitzschnell hingehuscht. Direkt auf die Silberoberfläche. De Inhaber hat seine Signatur hinterlassen.
"Midori McCoy".
Dann erinnere ich mich an nichts mehr.

Teil 2