Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2007. Die FR feiert die neue Urbanität in Ulm, aber nicht um Ulm herum. Die SZ findet mit Roger Norrington, dass das Vibrato verboten gehört. Die FAZ möchte, dass Seyran Ates wieder als Anwältin praktiziert. In der Welt singt Sonja Margolina ein Loblied auf den jüngst verstorbenen russischen Soziologen Juri Lewada. Dani Levys Komödie "Mein Führer" kommt insgesamt nicht so gut an, obwohl die SZ Helge Schneider als Hitler-Imitator besser findet als Bruno Ganz.

FR, 10.01.2007

Oliver Herwig lobt die vorbildliche Innenstadtgestaltung von Ulm mit drei Bauten der Architekten Stephan Braunfels und Wolfram Wöhr als "Quantensprung": "Von Zentrum ist nicht mehr die Rede, Ulm fand ein treffenderes Wort: Mitte. Hier werden nicht nur Wahlen gewonnen, hier steht auch ein gesellschaftliches Credo, das sich nicht mehr auf Mega-Malls an der Peripherie verlässt. Ulm zeigt eine Renaissance der Stadt, wie man sie lange nicht für möglich hielt."

Weitere Artikel: Für Petra Kohse ist der geplante Wechsel des derzeitigen Intendanten des Thalia Theaters Ulrich Khuon zur Spielzeit 2009/10 ans Deutsche Theater Berlin ein "Glücksfall". In Times mager schreibt Harry Nutt über einen Berliner Parteienstreit, ob Wolf Biermann Ehrenbürger der Stadt werden soll. Und auf der Medienseite berichtet Jana Schulze über in Frankreich sehr erfolgreiche Tageszeitungen für Kinder und Pläne des Axel-Springer-Verlags, ein entsprechendes deutsches Produkt auf den Markt zu bringen.

Besprochen werden Theu Boermans Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum" am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter der Sammelband "Heiße Kriege im Kalten Krieg" und ein als "abenteuerlich" apostrophiertes Buch über die Weiße Rose von Sönke Zankel. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

NZZ, 10.01.2007

Wilhelm Genazino schickt einen Brief aus der Provinz: "Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich, meistens im Herbst, immer wieder in die gleiche norddeutsche Provinzstadt fahre, deren Namen ich hier lieber nicht nenne. Es ist eine reizende Kleinstadt mit schönen alten Häusern, die von vielen Fremden bewundert werden. Im Herbst kündigt die dortige Volkshochschule im Schaukasten des Tourismusbüros Jahr für Jahr einen Vortrag mit dem Titel 'Paris, die Lichterstadt an der Seine' an. Wenn die Abende länger werden und ich wieder Gast der Stadt bin, gehe ich extra am Schaukasten des Tourismusbüros vorbei und schaue nach, ob die weit von Paris entfernt lebenden Einwohner nicht auch dieses Jahr wieder auf diese wundervolle Stadt aufmerksam gemacht werden..."

Besprochen werden Alejandro Gonzalez Inarritus Film "Babel", die Ausstellung "Betes de Style" im Lausanner Designmuseum Mudac (die sich an gleichermaßen an Tierfreunde wie an Tierhasser wendet, behauptet Roman Hollenstein) und Bücher, darunter T. C. Boyles neuer Roman "Talk Talk" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 10.01.2007

"Schüchtern" findet Cristina Nord Dani Levys "Mein Führer". "'Mein Führer' verzichtet auf den süßen Augenblick des Triumphes über die Nazis, auf das, was die Gräuel post festum, im flirrenden Irrealis der Fiktion, wenigstens temporär überwände - nicht um die Gräuel zu leugnen, sondern um in der Fiktion den Raum des Widerstands zu öffnen. Levy täuscht diesen Raum an, wagt aber nicht, ihn zu füllen - ganz so, als habe ihn auf halbem Weg der Mut verlassen. 'Mein Führer' ist deshalb ein schüchterner Film. Noch in der Fantasie knüpft er sich ein Sicherheitsnetz."

In tazzwei verteidigt Heide Oestreich das Prinzip des Gender Mainstreaming, das derzeit von Backlash-Publizisten a la Volker Zastrow (FAZ), Schirrmacher und Matussek demontiert werde. Zastrow habe in seinem Buch "Gender", das es bei Manufactum zu kaufen gibt, "die zweite Stufe der Rakete in die Vergangenheit gezündet: Nun wird es nach längerer Zeit wieder schick, die Instrumente und ProtagonistInnen der Gleichstellungspolitik selbst zu diffamieren."

Weiteres: Brigitte Werneburg führt durch die Ausstellung "Erblätterte Identitäten: Mode - Kunst - Zeitschrift" im Stadthaus Ulm. Tobias Rapp geißelt die New Yorker Traditionszeitschrift Village Voice, die durch überflüssige Teilhabe am "Neue-Medien-Unfug" ihren Musikteil zu einem "vielbetrauerten Wrack" gemacht habe. Katrin Bettina Müller begrüßt die Entscheidung, Ulrich Khuon ans Deutsche Theater in Berlin zu holen. Und auf der Meinungsseite denkt Kerstin Decker über "Kultur als Dezibelgemeinschaft" nach und schreibt den schönen Satz "Nichts ist leiser als Denken".

Schließlich Tom.

FAZ, 10.01.2007

Heinrich Wefing hat die türkisch-deutsche Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates (hier ein Perlentaucher-Artikel von ihr) getroffen, die im letzten Jahr wegen ständiger Bedrohungen ihre Rechtsanwaltskanzlei aufgegeben hat und bis heute nicht weiß, ob sie sich wieder als Anwältin niederlassen will: "Jeder Tag, an dem sie nicht arbeiten kann, ist ein Triumph für all jene, die die verhängnisvolle Vermischung von Gewalt und Sexualität in vielen türkischen und kurdischen Familien ignorieren oder totschweigen wollen. Jeder Tag, an dem Seyran Ates nicht als Anwältin praktiziert, ist eine Niederlage für den Rechtsstaat - und ein verheerendes Signal für alle, die verzweifelt auf seinen Schutz hoffen."

Bernd Schultz, Chef des Auktionshauses Villa Grisebach, verteidigt die deutschen Museumsdirektoren der Nachkriegszeit, die sich für die von den Nazis verfemte Kunst einsetzten und keineswegs bewusst Beutekunst in ihre Museen hängten: "Was skrupellose, ausgebuffte Restitutionsanwälte in den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland jetzt daraus machen wollen, unter der Parole: 'die letzten Kriegsgefangenen aus dem Zweiten Weltkrieg zu befreien', ist die Öffnung aller deutschen Museen als Nachschub für den internationalen Kunstmarkt und eine höchst vermögende Sammlerschaft. Man sagt 'Holocaust' und meint Geld."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg meldet, dass der Mann, der den französischen Philosophen Robert Redeker mit dem Tod bedroht hat, offensichtlich gefasst ist. Gerhard Stadelmaier kommentiert das Intendantentheater um das Deutsche Theater in Berlin, das jetzt Ulrich Khuon an die Spitze des Hauses führte. Christian Toepffer, Physiker an der Universität Erlangen-Nürnberg, nimmt Stellung gegen die zweite Runde des Exzellenzwettbewerbs der deutschen Universitäten und wendet sich gegen "quadratische Kreise wie die 'zielgerichtete Grundlagenforschung'". Joseph Hanimann besucht das Zeltlager einer Soli-Bewegung für Obdachlose am Pariser Canal Saint-Martin. Wiebke Huester schreibt zum Tod der indischen Choreographin Chandralekha.

Auf der Medienseite berichtet Michael Reinsch, dass Sportarten wie Basketball und Handball ihre Fernsehzuschauer künftig auf Internetportalen suchen. Gemeldet wird außerdem ein weiterer Anstieg des Werbeaufkommens im Internet. Für die letzte Seite besucht Wolfgang Frömberg die Peter-Petersen-Schule in Köln, die seit 1952 erfolgreich mit neuen pädagogischen Methoden arbeitet. Andreas Rossmann ist nicht eben glücklich über das neue Duisburger City-Palais, das in die Stelle der ehrwürdigen Mercator-Halle gesetzt wurde. Und Joseph Hanimann porträtiert die Doyenne der Comedie-Francaise-Schauspielerinnen, Catherine Samie.

Besprochen werden Dani Levys Komödie "Mein Führer" (die Michael Althen leider nur zweieinhalbmal zum Lachen brachte), ein Erzählungsband von Wojciech Kuczok, eine Aktualisierung von "Max und Moritz" durch Feridun Zaimoglu und Günter Senkel in Mannheim und eine Ausstellung über die Rezeption der Laokoon-Gruppe in Rom.

Welt, 10.01.2007

Sonja Margolina porträtiert den im November verstorbenen russischen Soziologen Juri Lewada als einen wahrhaft unabhängigen Mann. Unter seiner Leitung wurde das WZIOM "zum führenden Meinungsumfrage-Institut in Russland. Unter den Mächtigen, die ihre Popularität durch 'administrative Ressourcen' zu beeinflussen wissen, wächst der Unmut über die unabhängige und unbestechliche Institution des widerspenstigen Soziologen... Zu diesem Zweck hetzt man WZIOM den Rechnungshof wegen angeblicher Veruntreuung von Projektmitteln auf den Hals. 2003 wird Lewada seines Amtes enthoben. Doch auf den neu eingesetzten, konformen Chef wartet eine böse Überraschung: ein menschenleerer Raum mit aufgeräumten Tischen und gereinigten Computern. Die gesamte WZIOM-Forschergruppe hatte sich durch das Versprechen verdoppelter Gehälter nicht verführen lassen und war mit Lewada gegangen, der nun sein eigenes, privates Lewada-Zentrum gründete." (Hier ein Interview mit Lewada von 2003 über den Homo sovieticus.)

Weitere Artikel: Hannes Stein stellt "America Alone" vor, ein Buch des kanadischen Journalisten Mark Steyn, der in naher Zukunft den Untergang des überalterten "weichen" Europas voraussagt. Matthias Heine scheint nicht unzufrieden zu sein mit der Berufung von Ulrich Khoun zum neuen Intendanten des Deutschen Theaters Berlin: Statt einer "vage gefühlten, querköpfigen Ost-Identität" habe der 55 Jahre alte Schwabe solide Kenntnis des Intendantenhandwerks vorzuweisen. DW fasst die Kritik - u.a. von Rolf Hochhuth - an Dani Levys Film "Mein Führer" zusammen. Eine dpa-Meldung informiert uns, dass mit dem Bau des neuen Gebäudes für die Documenta begonnen wurde, das Geld dafür aber noch fehlt.

Besprochen werden die Uraufführung von Tan Duns Oper "First Emperor" in New York (klanglich eine "asiatische Instantnudelsuppe mit einem Hauch Lehar", schreibt Manuel Brug, dem die Inszenierung von Zhang Yimou viel besser gefiel als die Musik), eine Filmreihe mit gefakten Dokumentarfilmen im Berliner Zeughaus, eine Aufführung von Kleists "Zerbrochenem Krug" in Hannover und ein Architekturbildband.

SZ, 10.01.2007

In einem wunderbaren Artikel erklärt Reinhard J. Brembeck, wie und warum das Vibrato von der historischen Aufführungspraxis zum Todfeind erklärt wurde und der britische Dirigent Roger Norrington es auch aus der Musik von Mozart, Beethoven und des 19. Jahrhunderts verbannen will. So habe er im Rahmen einer "Entschlackungskur" des Radio-Sinfonie-Orchesters Stuttgart "seinen Leuten erst einmal jedes Vibrato verboten. Das ist für einen gestandenen Orchestermusiker natürlich ein enormer Schock. Denn leidenschaftlich vibriert (was allerdings keine Partitur fordert) wird schon seit gut einhundert Jahren."

In einem beigestellten Interview macht Norrigton an seiner Einspielung von Tschaikowskys "Pathetique" klar, was er meint: "noble, shakespearesche Tragik, aber keine Klagemauer. 'Pathetique' heißt Leidenschaft, aber nicht Selbstmitleid". Und überhaupt hat es mit dem Vibrato folgendes auf sich: "Das Übel begann in den zwanziger Jahren. Damals änderte sich das Leben nach der traumatischen Erfahrung des ersten Weltkriegs doch radikal: Das ganze soziale Leben wurde plötzlich von billigen Effekten beherrscht: Hollywood gab den Ton an, niemand fand mehr etwas dabei, wenn Frauen in der Öffentlichkeit tranken und dickes Makeup auflegten."

Weitere Artikel: Thomas Urban untersucht anlässlich des Skandals um den Warschauer Erzbischof Stanislaw Wielgus die Verstrickungen der polnischen Kirche mit dem Geheimdienst. Christine Dössel kommentiert den Wechsel von Ulrich Khuon ans Deutsche Theater Berlin. Sonja Zekri wundert sich über die Gates-Stiftung, die ihre Wohltaten aus Aktiengewinnen von Unternehmen finanziert, die "zu den schlimmsten Umweltsündern in Amerika und Kanada gehören". Stefan Koldehoff berichtet über die Sotheby?s-Versteigerung der van Gogh-Zeichnung "Mohnfeld" und warum diese gut in die Bremer Kunsthalle passen würde. Manfred Schwarz beklagt die Bedrohung des Düsseldorfer Künstleratelierhauses von 1907 durch einen Neubau. Susan Vahabzadeh informiert über das neue Projekt von Regisseur James Cameron: "Avatar", ein Science-Fiction-Film in 3D. Alexander Kissler schreibt über die Wiederentdeckung der Malerin und Dichtergattin Karoline Borchardt durch die Zeitschrift Titan.

Besprochen werden Dani Levys Film "Mein Führer" (Fritz Göttler findet Helge Schneider als Hitler-Imitator jedenfalls besser als Bruno Ganz) und Bücher, darunter Philippe Dijans Roman "Die Frühreifen" und "Das jüdische Jahrhundert" von Yuir Slezkine (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).