Intervention

Das ganze Ausmaß der Gefahr

Von Richard Herzinger
14.04.2022. Von Hitler bis Putin: Wie in einem Wiederholungszwang reproduziert sich im Westen bis heute dasselbe Muster aus hartnäckiger Verleugnung oder Beschönigung des Bösen und dem jähen bösen Erwachen aus der Illusion, ökonomischer und wissenschaftlicher Fortschritt werde unausweichlich globale gesellschaftliche Humanisierung nach sich ziehen. Gewarnt hatte André Glucksmann - schon seit den Tschetschenien-Kriegen. Ihm erging es wie Kassandra.
"Das hätte ich niemals für möglich gehalten." Diesen Satz hört man  von Politikern, Sicherheitsexperten und Journalisten im Westen seit dem Tag des russischen Überfalls auf die ganze Ukraine immer wieder. Politische Verantwortliche wie der frühere deutsche Außenminister und jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier räumen nun ein, sich "in Putin getäuscht" zu haben.  

Doch um getäuscht zu werden mussten sie von einem tiefen Bedürfnis erfüllt gewesen sein, sich täuschen zu lassen. Hätte doch jeder, der die Entwicklung des Putin-Regimes verfolgt hat, die jüngste Ausweitung der russischen Aggression gegen die Ukraine nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich halten müssen. Alles was Putins mörderische Soldateska heute in der Ukraine anrichtet, war von ihm und seinem Regime mehr oder weniger offen angekündigt worden, oder es war zumindest anhand ihrer Taten vorhersehbar - zuletzt angesichts des Vorgehens Russlands in Syrien.

Doch westliche Demokratien sind offenbar mit dem Reflex ausgestattet, tödliche Bedrohungen nicht wahrnehmen zu wollen oder sie so lange wie möglich klein zu reden. Mit dieser Verleugnung der Gefahr verbunden ist ein kollektiver Verlust des Kurzzeitgedächtnisses in Bezug auf frühere katastrophale Erfahrungen mit der vernichtenden Gewalt aggressiver Feinde von Freiheit und Menschenwürde.

Nur so ist nämlich der gegenwärtig ebenfalls häufig zu vernehmende Stoßseufzer zu erklären, mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine seien Krieg und Kriegsverbrechen "nach Europa zurückgekehrt." Abgesehen davon, dass die Invasion der Ukraine durch Russland bereits vor acht Jahren begann - es ist gerade einmal dreißig Jahre her, dass der Balkan-Krieg ausbrach, in dessen Verlauf grauenvolle, zynisch als "ethnische Säuberungen" bezeichnete Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Verübt wurden diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum allergrößten Teil von den Kräften des großserbischen Nationalismus - und zwar mit Unterstützung Moskaus. Was damals vor allem den Bosniern angetan wurde, nahm in vieler Hinsicht vorweg, was Russland mittlerweile selbst praktiziert.

Jahrelang sah der Westen dem Grauen auf dem Balkan weitgehend untätig zu, bis er es endlich durch eine Intervention beendete. Begleitet war dieses passive Zusehen von dem ungläubigen Entsetzen darüber, dass sich solche Gräuel in unseren vermeintlich so aufgeklärten Zeiten überhaupt noch ereignen können. Am 11. September 2001 wiederholte sich dieses Ritual kollektiv bekundeter Fassungslosigkeit. Niemals, so hieß es auch hier, habe man sich ein monströses Verbrechen von der Dimension der Terroranschläge von New York und Washington vorstellen können. Dabei hatte es auch dafür deutliche Warnzeichen gegeben: 1993 brachten islamistische Terroristen im World Trade Center eine Bombe zur Explosion, bei der sechs Menschen getötet und über tausend verletzt wurden. Und Ende 1994 entführten algerische Islamisten ein Flugzeug in der Absicht, es auf Paris stürzen zu lassen - was zum Glück verhindert werden konnte.

Dass solche Warnzeichen nicht ernst genommen werden, zeigt, dass die heutigen westlichen Gesellschaften unter demselben Wahrnehmungsdefekt leiden wie ihre historischen Vorgänger. Zu Beginn des 20. Jahrhundert hatte sich die bürgerliche Gesellschaft der Belle Epoque nicht vorstellen können, dass die blühende europäische Kultur mit ihren enormen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften nur wenige Jahre später in einem nie dagewesenen Kriegsgemetzel untergehen würde. Nur wenig später, in den 1930er Jahren, weigerten sich die westlichen Regierungen und Gesellschaften zu glauben, dass Hitler tatsächlich willens und fähig sei, ganz Europa mit einem noch viel verheerenderen Vernichtungskrieg zu überziehen. Und selbst als bereits untrügliche Belege dafür vorlagen, was in Auschwitz vor sich ging, hielten westliche Regierungsstellen ein präzedenzloses Verbrechen wie die systematische Judenvernichtung für undenkbar.

Wie in einem Wiederholungszwang reproduziert sich bis heute dasselbe Muster aus hartnäckiger Verleugnung oder Beschönigung des Bösen und dem jähen bösen Erwachen aus der Illusion, ökonomischer und wissenschaftlicher Fortschritt werde unausweichlich globale gesellschaftliche Humanisierung nach sich ziehen. Dass es Kräfte gibt, die dieser Logik nicht zugänglich sind und mit äußerster Gewaltbereitschaft ihre Zerstörung betreiben, hat in dieser Vorstellung keinen Platz. Diese Erkenntnis zuzulassen, würde die westlichen Gesellschaften in ihrer bequemen Selbstsicherheit stören, die richtige Seite der Geschichte zu verkörpern und daher letztlich unantastbar zu sein. Die Unfähigkeit, den Einbruch des radikal Irrationalen in Erwägung zu ziehen, erweist sich so als die größte Schwachstelle, wenn nicht gar als ein eingebauter Selbstzerstörungsmechanismus der demokratischen Zivilisation.

Der französische Philosoph André Glucksmann hatte kurz vor seinem Tod 2015 dieses Phänomen in ein Axiom gefasst: "Wer davon überzeugt ist, dass es die ganz große Krise, die große Katastrophe nicht mehr geben kann, der handelt sie sich erst recht ein." Dagegen setzte er eine "Ethik des äußersten Notfalls": Der Leitgedanke politischen und moralischen Handelns der demokratischen Welt müsse die Abwehr der äußersten Unmenschlichkeit sein, die jederzeit hinter der Fassade trügerischer Sicherheit und Prosperität lauert.

Viel früher als die meisten westlichen Beobachter erkannte Glucksmann dementsprechend das ganze Ausmaß der Gefahr, die von Putins autoritärer Restauration in Russland ausging. Während der Westen nach den Anschlägen vom 11. September den neuen Kreml-Herrn als Verbündeten im Krieg gegen den Terror hofierte, machte Glucksmann vehement auf das mörderische Wüten der russischen Truppen gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung aufmerksam. Und er prophezeite, dass sich Putins kriegerische Aggression früher oder später gegen den Westen wenden werde. Doch Warnern wie Glucksmann geht es wie Kassandra: Sie wurde als unverbesserliche Schwarzseherin verlacht, bis ihre Visionen von kommenden Katastrophen wahr wurden - und sich herausstellte, dass sie die einzige wirkliche Realistin war.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.

Anmerkung der Redaktion: André Glucksmann war auch Perlentaucher-Autor. Sein erster Artikel bei uns, eine Übernahme aus Le Monde von 2005, trug den Titel "Schlacht um Kiew": "Der Sieg Viktor Juschtschenkos bei den ukrainischen Wahlen markiert einen bedeutenden Einschnitt in der Geschichte Europas und erwies Wladimir Putin einmal mehr als blutigen Hanswurst und Ex-Tschekisten, der seit seinen KGB-Seminaren nichts hinzugelernt hat."
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