9punkt - Die Debattenrundschau

Jakob und Auguste

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2015. Ausrangiert? Die taz-Autorin Gabriele Goettle schickt eine ihrer letzten Reportagen von einem Gnadenhof. In der FAZ gibt Lutz Hachmeister Entwarnung: Es gibt gar keine "digitale Gesellschaft". Huffpo.fr polemisiert gegen die Fraktion der französischen Linken, die sagt, "ich bin Charlie, aber..." Und die SZ fragt, ob Schimpansen Personen seien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Die taz will die große Reporterin Gabriele Goettle, wie man hört, in den Ruhestand verabschieden, noch schickt sie jedoch ihre monatliche Großreportage, diesmal aus der Uckermark, wo Gabriele Seydel Wildkräuter züchtet und einen Gnadenhof für Tiere betreibt. Seydel erzählt: "Es kamen viele Hühner, alte Hühner, Kaninchen, Gänse, Ziegen. Die Gnadengänse, Jakob und Auguste, kamen 2004 aus Baden-Württemberg. Der Jakob war damals 8, jetzt ist er bereits 19 Jahre alt, nicht mehr gut zu Fuß und arthritisch, aber er ist immer noch der Herr über die Gänseschar. Ich habe damals die Auguste dann mal brüten lassen. Plötzlich hatte ich fünf Gänse. Inzwischen lege ich die Eier an den Feldrand für den Fuchs. Ich bin ja Veganerin, die Milch der Ziegen bekommt teils die Katze, teils verarbeite ich sie zu Quark, den ich an vegetarisch lebende Freunde verschenke."

In der SZ berichtete Hanno Charisius schon am Samstag von den Versuchen amerikanischer Anwälte, Schimpansen als Personen anerkennen und ihnen damit Habeas-Corpus-Rechte zukommen zu lassen. Sie klagen auf die Freilassung der beiden Tiere Leo und Hercules, die an der Stony Brooks University im Bundesstaat New York für Forschungszwecke gehalten werden: "Die Vertreter der Tiere sagen nicht, dass Schimpansen und Menschen gleich sind, sie pochen aber darauf, dass die Ähnlichkeit groß genug sei, um sie mit eigenen Rechten auszustatten. Menschenrechte für Menschenaffen, wie es andere Tierrechtler durchaus tun, fordern sie hingegen nicht. Natürlich sollen sie nicht wählen dürfen oder in die Schule gehen. Aber sie sollen nicht mehr gegen ihren Willen gefangen gehalten werden."

Im SZ-Interview mit Sebastian Schoepp macht sich der Anthropologe Constantin von Barloewen für einen anderen Fortschrittsbegriff stark: "Entwicklung ist ja zugleich ein Hoffnungs- und ein Herrschaftsinstrument. Wir müssen einen pluralen Begriff von Entwicklung schaffen, der sich nicht auf den westlichen Ansatz beschränkt. Es bedarf kultureller Sensibilität. Etwa für die Tradition der intuitiven Intelligenz in den Kulturen des Südens. Oder die Empathie als Erkenntnismittel. Wichtig wäre auch die Einbindung spiritueller Dimensionen. Das wäre kein geringer Beitrag zu einer anderen Humanität."

In der FAZ liest Ernst-Wilhelm Händler noch einmal Rainald Goetz" Middelhoff-Roman "Johann Holtrop", dazu einige Werke der Moralökonomie, und denkt über Bosheit in Wirtschaft und Poetik nach: "Thomas Middelhoff und die Romanfigur Johann Holtrop sind keine Schurken großen Stils. Solche kann es in Deutschland nicht geben, dazu ist die Regulierungsdichte zu hoch. Die Romanfigur und der reale Manager sind eher Mikroschufte."
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Europa

In der NZZ warnt der Osteuropa-Historiker Ulrich M. Schmid davor, von einem "Bürgerkrieg" in der Ukraine zu besprechen: "Nun gibt es gewiss einen Ost-West-Gegensatz in der Ukraine, genau so, wie es auch einen Röstigraben in der Schweiz gibt. In beiden Nationen gibt es Themen, die das Land trennen, und solche, die es einen. Wenn man die Ukraine auseinanderreissen will, dann muss man die Sprache und die Geschichte in den Vordergrund rücken, wenn man sie konsolidieren will, dann muss man von Modernisierung, Reformen, Korruptionsbekämpfung und Rechtssicherheit sprechen. Allerdings hat sich gerade in den westlichen Medien der Ost-West-Gegensatz in der Ukraine als Leitmotiv der Berichterstattung durchgesetzt. Meistens ist den Journalisten dabei gar nicht bewusst, dass sie damit die destruktive Rhetorik des Kremls verlängern und letztlich bestätigen."

Hannah Beitzer berichtet in der SZ von der ersten Konferenz der deutsch-ukrainischen Historikerkommission, die dem Umstand ein Ende machen, will, dass in der Forschung zur Ukraine zu lange eine "russländische Perspektive" herrschte.
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Stichwörter: Ukraine, Ost-West

Medien

Für die "Netzgemeinde" hat der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister in der FAZ die Nachricht, dass es keine "digitale Gesellschaft" gebe: "Vor allem begründet die binäre Codierung nicht - auch nicht das darauf beruhende technologische System - in irgendeiner Form "Gesellschaft". Die Übertragung eines evolutionär relativen, naturwissenschaftlichen oder technischen Kalküls auf einen soziologischen Grundbegriff ist ein schlichter Kategorienfehler."

Der Kölner Zeitungsverleger Alfred Neven Dumont ist gestorben. Christian Meier würdigt ihn ausführlich in der Welt. In ihrem taz-Nachruf erinnern Anja Krüger und Pascal Beucker noch relativ freundlich an das partiarchale Gebaren des Kölner Citizen Kane, doch die Legenden um die NS-Zeit wollen sie ihm nicht durchgehen lassen: "Zu einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Verlagsgeschichte fehlte ihm die Kraft."
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Politik

Drei Fraktionen gibt es nach dem Massaker an der Charlie Hebdo-Redaktion in der französischen Linken, jene die sagt: "Ich bin Charlie", jene, die offen sagt, sie sei nicht Charlie, und jene die sagt, "Ich bin Charlie, aber...", schreibt Bernard Maro bei Huffpo.fr und liest ein in linksakademischen Kreisen zirkulierendes Papier, das "den Antisemitismus bekämpfen, aber Israel kritisieren will". Darin steht unter anderem: "Wir fordern, dass jede Verfolgung von Engagierten aufhört, die einen Boykott israelischer Produkte verlangen, auch wenn einige von uns den Boykott nicht unterstützen." Maro dazu: "Das legitimiert alle Arten des Boykotts, beschränkt ihn nicht auf Produkte aus den besetzten Gebieten und ermutigt die Belästigung von Künstlern und Forschern, nur weil sie Israelis sind oder in Israel auftreten wollen."
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Kulturpolitik

Regina Mönch staunt bei der neuen Präsidentin der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel, vor allem über eines, nämlich "dass allein sie kandidierte". In der SZ nickt Fritz Göttler die Wahl der 72-Jährigen wie im Schlaf ab: "Darin sieht sie auch ihre Aufgabe nun als Akademiepräsidentin - immer wieder die Vergangenheit zu befragen."

Außerdem: In der FAZ stellt Joseph Croitoru den ägyptischen Kulturminister Abdel Wahed al Nabawi, der die scharfe antiislamistische Politik des neuen Regimes aufs Feld der Kulturpolitik überträgt.
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Überwachung

Der Patriot Act, der der NSA laut "Sektion 215" des Gesetzes Abhörmaßnahmen in den USA gestattet, endet heute, weil sich der US-Senat nicht auf eine Verlängerung einigen konnte, berichtet Kim Zetter bei Wired. Aber auch auf den USA Freedom Act konnte sich der Senat bisher nicht einigen: "Bürgerrechtsgruppen wie die Electronic Frontier Foundation und die American Civil Liberties Union sind glücklich über das Auslaufen von Sektion 215, aber zweispältig in ihrer Position zum USA Freedom Act. Sie begrüßen zwar, dass er das regierungsamtliche Sammeln von Telefondaten beendet, aber sie glauben auch, dass das Gesetz Schlupflöcher enthält und nicht weit genug geht."

Und Constanze Kurz kommentiert die neuen Pläne zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland in ihrer FAZ-Kolumne: "Die Snowden-Enthüllungen sind offenbar für die Innenpolitiker der Regierung eher eine Wunschliste und Blaupause als ein Warnsignal."
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Geschichte

An der Ausstellung "1945" zum Kriegsende im deutschen Historischen Museum lässt Cord Aschenbrenner in der NZZ kein gutes Haar. Völlig willkürlich findet er sie: "Warum fehlt etwa Italien mit der mörderischen Rache der dortigen Partisanen an den Faschisten? Warum fehlt Jugoslawien? Oder Griechenland mit seinem langen, unbarmherzigen Bürgerkrieg? Was ist mit Ungarn? Und wenn Norwegen dabei ist, warum nicht auch Finnland mit dem Krieg in Lappland gegen die Deutschen, dem eine düstere Nachkriegszeit im Schatten der Sowjetunion folgte?"

Karl-Peter Schwarz erinnert in der FAZ daran, wie die West-Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg Hunderttausende sowjetische Gefangene und ehemalige Überläufer an Stalin - und damit in den Tod oder in den Gulag - auslieferte. Und Überläufer hatte es gerade in der Sowjetunion gegeben. "Das lag nicht zuletzt am berüchtigten Befehl Nr. 270 vom 18. August 1941, der jeden Rotarmisten, der in deutsche Gefangenschaft geriet, zum "Hochverräter" stempelte und mit dem Tode bedrohte... Schiere Angst dürfte die meisten der 800.000 bis 1,5 Millionen Soldaten der Roten Armee motiviert haben, die zu den Deutschen überliefen. Die Repatriierung gab Stalin die Möglichkeit zur Rache, und er war nicht bereit, darauf zu verzichten."
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