Vom Nachttisch geräumt

Geisterstunde in Oxford

Von Arno Widmann
27.04.2016. Sind die westlichen Werte christlich begründet? John Gray setzt in Oxford Larry Siedentop auf heiße Kohlen.
Larry Siedentop, geboren 1936, lehrte politische Philosophie in Oxford. In seinem Buch "Die Erfindung des Individuums" stellt er "das Individuum" als eine Errungenschaft der westlichen Zivilisation dar. Er schreibt in seinem Vorwort: "Ich erzähle, wie das 'Individuum' zur organisierenden sozialen Rolle im Westen wurde - das heißt, wie die 'Zivilgesellschaft' entstand, die wir für selbstverständlich halten, wie diese ihre charakteristische Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre vornahm und die Bedeutung von Gewissen und Entscheidung stärker in den Mittelpunkt rückte." Er betont, dass das kein einfacher Weg gewesen sei, sondern über viele Stolpersteine geführt habe. Schon gar nicht seien die Europäer ihn bewusst gegangen. Sie seien sich der gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen ihrer Einstellungen keineswegs bewusst gewesen. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass die liberale säkulare Welt, in der wir leben, von christlichen Glaubensinhalten geprägt wurde.

Das Buch eines Ideengeschichtlers. Er schreibt den Vorstellungen, die die Menschen von sich und der sichtbaren und der unsichtbaren Welt haben, eine bedeutende Rolle für ihr Handeln zu. Zu Recht. Aber genau so wahr ist natürlich, dass auch das Handeln seinen Einfluss auf die Ideen hat. Beide bilden nicht nur eine Konstellation, sondern sie sind auch eingebettet in eine noch viel umfassendere. So schön das Herausarbeiten roter Fäden ist, so leicht verliert man dabei das Gesamtgeflecht aus den Augen.

Der Verlag Klett-Cotta hatte vor einem Jahr nach Oxford eingeladen. Unter anderem zu einer Veranstaltung mit Larry Siedentop über sein Buch, das damals noch nicht auf Deutsch erschienen war. Draußen war ein warmer, sommerlicher Nachmittag. Wir waren die Themse entlang geschlendert. Hatte hier Lewis Carroll seine Mädchen fotografiert? Hatte auf diesem Weg John Ronald Reuel Tolkien sich den archimedischen Punkt erträumt, vom dem aus er unsere Welt als "Mittelerde" erkennen konnte? Jetzt jedenfalls saßen wir in dem abgedunkelten, kühlen Raum, in dem vor Jahrzehnten Sir Isaiah Berlin seine Seminare abgehalten hatte. Ein Raum, in dem auch schon dreihundert Jahre zuvor Oxford-Professoren gelehrt hatten. Es ist lächerlich, aber die Vorstellung, dass in diesem Raum seit Jahrhunderten über Recht und Gerechtigkeit, über Staat und Kirche, über Gotteswort und Menschenliebe gesprochen, gestritten und gelacht wird, bewegt einen doch.

Neben Larry Siedentop saß John Gray, geboren 1948, Oxford Absolvent und bis 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Ideengeschichte an der London School of Economics. Seitdem lebt er als freier Wissenschaftsautor. Gray ist in Deutschland vor allem durch seine Bücher "Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt" und "Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus" bekannt geworden. Der Verlag bot uns also keine nette Vorstellung des einen seiner Autoren durch einen anderen seiner Autoren, sondern eine Konfrontation.

Vor allem aber bot er uns ein sehr vergnügliches Beispiel britischen Understatements. John Gray lobte Siedentops umfassende Gelehrsamkeit, Gray sprach von der Bedeutung der Idee, dass vor Gott alle Menschen gleich seien, er wies auf die weitgehende Gleichheit der Mönche hin - ein praktiziertes Gegenmodell zur realen Gesellschaft, er sprach über das Wilhelm von Ockham (1288-1347) - auch er lernte und lehrte in Oxford - gewidmete Kapitel, in dem Siedentop schreibt: "Ockham war der Meinung, dass jeder Versuch, eine 'natürliche' Theologie zu schaffen, indem man sich auf den antiken Rationalismus und den Begriff der 'notwendigen Wahrheit' stützte, zum Scheitern verurteilt war, weil er voraussetzte, dass der Verstand mehr beweisen müsse, als er zu beweisen in der Lage war."

Von Gray kam kein Einwand. Er hatte nichts als Lob für Siedentops konzise Darstellung der Entstehung der zentralen Werte und Begriffe des "Westens", eine Lust zu lesen, meinte er, sei das Buch. Man sehe, wie die Idee der individuellen Freiheit, die der Gleichheit der Menschen, die Idee der Menschenrechte, ja die der Vernunft selbst, alle in ihrer heutigen Gestalt hervorgegangen seien aus dem Christentum. Ein eindrucksvolles Gemälde. Siedentop, ein freundlich lächelnder alter Herr, saß wie auf heißen Kohlen. Wann würde Gray endlich mit seinem sicher riesigen Aber herausrücken? Es kam kein Aber. Es kam eine leise Frage: "Könnte man nicht ebenso eine Geschichte schreiben von christlich begründetem Mord und Totschlag, von christlich begründeter Gewalt und Unterdrückung, von christlich begründeter Verachtung des Individuums und der Menschenrechte?"

Siedentop wackelte bedächtig mit dem Kopf. Der Ideengeschichtler Gray schob nach: In einer christlichen Kultur werde alles christlich oder antichristlich begründet.

Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Übersetzung Heiner Kober, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 495 Seiten, 29,95 Euro