Michael Rothberg

Multidirektionale Erinnerung

Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung
Cover: Multidirektionale Erinnerung
Metropol Verlag, Berlin 2021
ISBN 9783863315580
Kartoniert, 404 Seiten, 26,00 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Max Henninger. Michael Rothberg zeichnet eine erinnerungskulturelle Tradition von der Nachkriegszeit bis ins 21. Jahrhundert nach, die von wechselseitigen Bezugnahmen zwischen Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und Nationalsozialismus, Holocaust, Antisemitismus gekennzeichnet ist. Dieses Archiv der multidirektionalen Erinnerung, das Denker*innen und Kulturproduzent*innen wie Hannah Arendt, Aimé Césaire, W.E.B. Du Bois, Marguerite Duras, Michael Haneke und andere versammelt, deutet darauf hin, dass sich Opferkonkurrenz und Aufmerksamkeitskonflikte auf dem Feld der Erinnerung vermeiden lassen. Vielmehr rücken Analogiebildungen, Querverweise und Vergleiche in den Fokus der Aufmerksamkeit, durch die die Erinnerung an spezifische historische Ereignisse verstärkt und die Spezifik der jeweiligen Gewaltgeschichten und Herrschaftsverhältnisse nicht infrage gestellt wird.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.03.2021

Rezensent Micha Brumlik empfiehlt allen, die ratlos vor der Mbembe-Debatte stehen Michael Rothbergs jetzt auf Deutsch erscheinendes Buch von 2009. Laut Brumlik hat der Historiker mit seiner Idee des "multiperspektivischen Gedenkens", also von einer dialogischen Erinnerungskultur, schon damals eine Möglichkeit aufgezeigt, wie mit der unguten Konkurrenz der Erinnerungen an Gewalt umzugehen sei. Dass der Autor dabei neben historiografischen Texten auch Literatur, Kunst und Tagebücher heranzieht, etwa wenn er an die Vergleiche des Massakers von Paris am 17. Oktober 1961 mit den Taten der Nationalsozialisten erinnert, findet Brumlik zielführend im Sinne einer umfassenden Solidarität mit den Opfern. Respekt verdient seiner Meinung auch Rothbergs Übertragung seiner Theorie auf den israelisch-palästinensischen Konflikt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 06.03.2021

In einem längeren Essay über postkoloniale Theorien und den Holocaust geht Tania Martini auch ausführlich auf Michael Rothbergs gefeiertes und umstrittenes Buch ein, das die Debatte trotz seiner späten Wahrnehmung in Deutschland heute mit prägt. Sie ist nicht mit Rothberg einverstanden. Er inszeniere sich mit seinem sperrigen Begriff der "multidirektionalen Erinnerung" zwar als ein Vermittler zwischen Holocaustforschung und postkolonialer Theorie, aber letztlich unter Preisgebung eines Begriffs der Beispiellosigkeit des Holocaust - also eben doch im Sinne einer postkolonialen Theorie, die aus Opferkonkurrenz argumentiere. Martini konzediert, dass die deutsche Kolonialgeschichte kaum in das Bewusstsein der Mehrheit gelangt sei, möchte das Gedächtnis aber nicht wie Rothberg als einen begrenzten Raum auffassen, wo das eine Trauma sich für das andere relativieren muss. Besonders stört Martini an Rothbergs Buch, dass es ihm trotz der vierzig Seiten, die er dem Begriff widmet, nicht wirklich gelinge zu präzisieren, was er unter "multidirektionale Erinnerung" eigentlich versteht. Im Detail heißt das für die Kritikerin: "Alles mit allem zu vermischen und somit zu relativieren."

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 27.02.2021

Rezensent Thomas Schmid verweigert sich der Idee des Historikers Michael Rothberg zu einer neuen, "multidirektionalen" Gedenkkultur. Die von Rothberg in seinem im Original bereits 2009 erschienenen Buch dargelegte Vorstellung von der Zusammenlegung nationaler Opfer-Geschichten und -Erinnerungen verärgert Schmid durch eine durchweg umständliche Sprache, aber noch mehr durch die unbegründete Behauptung, die Verknüpfung von singulären Leiderfahrungen führe zu einer besseren Welt. Für Schmid führt sie allenfalls zur Auslöschung von Unterschieden, etwa zwischen dem Holocaust und dem Kolonialismus.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 19.02.2021

Rezensent Jürgen Zimmerer lernt mit dem "wichtigen" Buch des Holocaust-Forschers Michael Rothberg nicht nur, dessen Interventionen gegen die Verurteilung von Achille Mbembe besser zu verstehen, sondern auch, wie fruchtbar eine "mulitdirektionale", nicht funktionalisierte Sicht auf Menschheitsverbrechen wie den Holocaust, den Rassismus in den USA oder den Kolonialismus sein kann. Dass der im amerikanischen Original schon 2009 erschienene Band erst jetzt bei uns herauskommt, findet Zimmerer unverständlich. Rothbergs Anlehnung an Hannah Arendt und W. E. B. Du Bois scheint ihm so überraschend wie horizonterweiternd.