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Neuwahlen in Deutschland

Ein kleines Pressedossier
24.05.2005. Gerhard Schröders Entscheidung für Neuwahlen hat nicht nur die heimischen Kommentatoren überrascht. Wir haben in der internationalen Presse geblättert und präsentieren eine kleine Zusammenschau.
In der New York Times wundert sich Richard Bernstein, wie der "geschickteste und anpassungsfähigste Politiker Europas" sich in eine so missliche Lage manövrieren konnte. Er findet aber auch gute Gründe für Schröders Entscheidung: die Parteilinke wird diszipliniert, Angela Merkel aus der Deckung gelockt und die öffentliche Aufmerksamkeit von den Fehlern der Regierung abgelenkt.

Die Financial Times frohlockt, dass die CDU ihre größte Mehrheit seit 1957 einfahren könnte.

Eine Frau als Kanzlerkandidatin, und dazu noch aus den Reihen der Konservativen! "Unglaublich", meint Judy Dempsey in der International Herald Tribune und beschreibt das Selbstbewusstsein der siegessicheren Christdemokraten.

Die Londoner Times begrüßt die Neuwahlen im Leitartikel als einzigen Ausweg aus der Lähmung, in die Deutschland verfallen sei. Von der CDU erwartet sie sich begrenzte Reformen, die aber immer noch besser seien als "die wankelmütige Mittelmäßigkeit, die Schröders Politik geprägt hat". Auch Kollege Roger Boyes zeigt wenig Mitleid mit Schröder. "Für viele ist der Schachzug des Kanzlers eher ein Versuch, das Gesicht zu wahren, und nicht die Wahlen zu gewinnen."

Beim Independent sind die deutschen Neuwahlen ebenfalls Aufmacher im leider kostenpflichtigen Meinungsteil. "Schröders Reformen werden überleben, selbst wenn er verliert", wird dort trotzig prophezeit. Korrespondent Tony Paterson bezweifelt als einer der Wenigen, dass die "Eiserne Lady" Angela Merkel und ihre CDU schon gewonnen hat. Denn auch dort ist "die Zerrissenheit so groß, dass die Partei große Probleme bekommen wird", zitiert er den Politologen Franz Walter. Überhaupt erinnert Angela Merkel die englischen Kommentatoren an ihre legendäre Premierministerin, für Luke Harding im Guardian wird "Thatcher lite" Schröder sicher stürzen, Kate Connolly erwartet im Telegraph ebenfalls einen Triumph der "eisernen Maid".

In der Gazeta Wyborza befürchtet Jacek Pawlicki, dass die Regierung in Berlin im Wahlkampf "noch stärker auf die europäische Bremse treten wird": "Die Sorge um nationale Interessen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien wird die EU für viele Monate lähmen."

Le Monde bewundert den demokratischen Geist, der hinter Schröders Entscheidung steht. Das sei einzigartig auf dem Kontinent. "Die europäischen Länder, allen voran Frankreich, könnten sich davon eine Scheibe abschneiden."

Der Korrespondent des Figaro, Pierre Bocev, berichtet ausführlich, staunt über die Chuzpe des Pokerspielers Schröder und genießt ansonsten die Dramatik. Jetzt geht es um "alles oder nichts".

Paolo Valentino entwirft im Corriere della Sera schon mal das zukünftige Kabinett Merkel. Edmund Stoiber soll demnach Außenminister oder Leiter des Superministeriums für Wirtschaft und Arbeit werden, Guido Westerwelle das Justizministerium übernehmen, Günther Beckstein das Innenministerium, Wolfgang Gerhardt die Entwicklungspolitik und Birgit Homburger das Umweltressort. In der CDU sind außerdem im Auge zu behalten: Roland Koch, Peter Müller, Wolfgang Bosbach, Ronald Pofalla. Kanzleramtsminister wird "sicher" Volker Kauder, und Ursula von der Leyen könnte laut Valentino dem Familienministerium vorstehen.

La Stampa widmet der Politik in Deutschland eine ganze, aber kostenpflichtige Seite. Der Ökonom Michael Burda spekuliert, dass die Reformen zu spät für Deutschland kamen und zu schmerzhaft für die Bürger waren, als dass die SPD noch einmal gewinnen könnte. Marina Verna berichtet über den "letzten Husarenstreich des Kanzlers". Die linke Tageszeitung Il Manifesto spricht auf der Titelseite von einem "deutschen Erdbeben in Europa" und sorgt sich um die kontinentalen Auswirkungen der Neuwahlen.

Christoph Mayerl