9punkt - Die Debattenrundschau

Betörend paradox

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2014. Die Aussagen der NSA-Whistleblower vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags könnten die Politiker verdattert haben: Sie rufen die Bundesregierung zum Handeln auf.  Alle berichten. Google hat erste Suchergebnisse wegen des "Rechts auf Vergessen" gelöscht. Der Guardian ist betroffen und erzählt, warum keine Guardian-Seiten über den Schiedsrichter Dougie McDonald mehr gefunden werden. Der Kleinkrieg in Israel ist im Augenblick wahrlich eine Nebensache, meint Tom Segev in der Berliner Zeitung. Stefan Niggemeier wirft der VG Media vor, die Politik zu belügen.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2014 finden Sie hier

Überwachung

Thomas Drake, einer der berühmten Whistleblower der NSA hat vor dem NSA-Ausschuss des Bundestags ausgesagt. Die FAZ berichtet mit dpa. Der BND habe über Jahre intensiv mit der NSA zusammengearbeitet und sei über vieles informiert gewesen, das jetzt zutage kam: ""Das Schweigen des BND ist schrecklich", kritisierte Drake. Die Menschen hätten das Recht zu erfahren, was geschehe. Die Bundesregierung müsse den BND zwingen, seine Aktivitäten transparenter zu machen und dafür geradezustehen, forderte er. "Man sollte nicht warten, bis es einen deutschen Edward Snowden gibt, der den Schleier lüftet.""

Kai Biermann berichtet bei Zeit online über die Aussagen eines anderen NSA-Whistlebloers, William Binney, der vor Drake gesprochen hatte: "Binney bestätigte dem Ausschuss auch, dass es geheime Verträge zwischen der NSA und deutschen Behörden gibt oder gab. Ja, er habe Kenntnis von solchen Verträgen sagte er, das gehe zurück auf seine Zeit bei dem Geheimdienst. Mehr dazu sagen wollte Binney aber nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit."

Dann verschlüsselt halt eure Kommunikation, war die flapsige Antwort von Innenminister Friedrich auf Vorwürfe, in- und ausländische Geheimdienste würden eine flächendeckende Überwachung aller Deutschen praktizieren. Jetzt haben NDR und WDR herausgefunden, dass jeder, der das Tor-Netzwerk zum anonymen Surfen nutzt, als "Extremist" eingestuft wird. In Deutschland, so der Bericht, werden zwei Tor-Server überwacht, den einen betreibt der Chaos Computer Club, den anderen der Informatikstudent Sebastian Hahn: "Ironischerweise sind es nach den speziellen Regeln, die NDR und WDR vorliegen, also ausgerechnet Personen mit dem Wunsch nach Anonymisierung, die zum Ziel der NSA werden. In den Augen des Geheimdienstes: Extremisten. Das ist keine Rhetorik, keine journalistische Zuspitzung. Der Begriff befindet sich sogar in der Kommentarspalte des Quelltexts, notiert von Programmierern der NSA. Extremisten? Das Gegenteil ist der Fall, wie die Recherchen zeigen. Die deutschen Opfer sind politisch keinesfalls am äußeren Rand zu finden."

"Sollte man Tor nun noch nutzen", fragt Patrick Beuth bei Zeit online. "Unbedingt, sagt Moritz Bartl, der ebenfalls Tor-Server betreibt: Am besten wäre es, wenn jetzt jeder die Website des Torprojekts aufruft, "damit die Datenbank der NSA gefüllt wird". Denn: Wenn jeder verdächtig ist, hilft das der NSA nicht mehr."
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Internet

Das von deutschen Medien so einhellig begrüßte EuGH-Urteil gegen Google zeitigt erste Konsequenzen. Mark Scott meldet im Bits-Blog der NY Times: "Einige britische Medien, inklusive der BBC und des Guardian, sagen, dass sie Mitteilungen von Google erhalten haben, in denen erklärt wird, welche ihrer Artikel nicht mehr in europäischen Suchen aufgelistet werden. (Die Links bleiben allerdings erhalten.)"

Siehe dazu auch James Balls Artikel im Guardian: "Guardian articles have been hidden by Google." Es geht in einem Fall um den britischen Fußballschiedsrichter Dougie McDonald, der zu den Gründen für einen Elfmeter, den er gegeben hatte, gelogen haben soll. Tippt man die Suche "Dougie McDonald Guardian" bei Google.co.uk ein, werden die drei Guardian-Artikel dazu nicht mehr aufgeführt. Auch bei der deutschen Suche mit der selben Anfrage werden die Artikel nicht mehr angezeigt. Bei Google.com soll die Suche noch funktionieren. Inzwischen wird die Recherche allerdings derart von Links zur Berichterstattung zu der Geschichte überwuchert, dass diese Suchen mit Vorsicht zu genießen sind.

Der Suchmaschinenexperte des Guardian, Chris Moran, präzisiert dabei: "Die Suche "Dougie McDonald" site:the guardian.com fördert nicht den right-to-be-forgotten-article zutage. Aber suche nach "Scottish referee who lied" und Du wirst ihn finden." Moran vermutet, dass Google das Urteil des EuGH so eng wie möglich auslegt.




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Medien

Stefan Niggemeier wirft der VG Media, die das Leistungsschutzrecht gegenüber Google verwirklichen will, vor, die Politik systematisch zu belügen: In den Informationsschreiben an die Politik behauptet die Organisation, Google habe ihnen gedroht, sie bei den Suchergebnissen auszulisten, falls sie auf die Ansprüche aus dem Recht nicht verzichten. In Wirklichkeit hat Google aber nur von Google News gesprochen: "Die Strategie im Fall von Google ist betörend paradox: Google soll gleichzeitig verboten und dazu gezwungen werden, Verlagsinhalte in seinen Suchergebnissen anzuzeigen."

Angesichts des Versagens aller Geschäftsmodelle für journalistische Medien, die nicht öffentlich-rechtlich finanziert sind, plädiert der Medienprofessor Stephan Weichert im Interview mit Meedia für stiftungsfinanzierten Journalismus: "Es gibt, so zeigen zahlreiche Beispiele aus Amerika wie ProPublica in New York oder das Center for Investigative Reporting in Kalifornien, ziemlich wasserdichte Wege und Hebel, sich den Einflüssen der Stifter zu entziehen und die journalistische Unabhängigkeit zu gewährleisten - beispielsweise durch Redaktionsstatute oder Fachbeiräte mit stiftungsfernen Vertretern." Weicherts Internetmagazin Vocer ist ebenfalls durch Stiftungen, aber auch durch die Bundeszentrale für politische Bildung finanziert.
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Politik

Israel wird zur Zeit viel zur Mäßigung aufgerufen, an die Adresse der Hamas sind derartige Mahnungen nicht überliefert. Ulrich W. Sahm hält in der Jungle World fest: Für die Verantwortung der Hamas an der Entführung und Ermordung der drei israelischen Jugendlichen "mag es zwar keine handfesten "Beweise" geben, allerdings reichliche und deutliche Hinweise: Sprecher der Hamas hatten die Entführung der "drei Soldaten" begrüßt, wie sie die Teenager nannten, obwohl 16-Jährige allein wegen des Alters keine Soldaten sein konnten. Drei Tage vor der Entführung hatte Hamas-Auslandschef Khaled Meshal im Interview mit al Jazeera Entführungen sogar als eine "palästinensische Pflicht" befürwortet."

Im Gespräch mit Michael Hesse von der Berliner Zeitung über einen möglichen neuen Krieg zwischen Israelis und Palästinensern verweist der israelische Historiker Tom Segev auf die Unberechenbarkeit Netanjahus, glaubt aber: "Es wird im Großen und Ganzen so weiterlaufen wie vorher. Es gibt sehr dramatische Entwicklungen im Nahen Osten um uns herum, Irak und Syrien. Das kann zu einem Krieg führen. Aber in Bezug auf die Palästinenser ist es so wie seit vielen Jahren. Mal schlagen sie uns, mal schlagen wir sie. Aber im Grunde treten wir auf der Stelle."

Unter dem Druck ausländerfeindlicher Attacken nach dem Mauerfall hat Deutschland sein Grundgesetz geändert und sein Asylrecht eingeschränkt. Dennoch ist es unter den Völkern vorbildlich, schreibt Mariam Lau in der Zeit. Nun schwillt der Strom aber wieder an: "In der Politik geht die Angst um. Mit der Überschreitung der magischen Zahl von hunderttausend Flüchtlingen ("ab dann steigt die Bild-Zeitung ein", so der frühere SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz) ist eine Debatte wieder zu schrillem Leben erwacht, die jahrelang mausetot schien."

Herfried Münkler sieht in der FR die Ursachen für die Krisen und Kriege von der Ukraine über Syrien bis in den Irak in den Spätfolgen des Ersten Weltkriegs und dem Scheitern des Nationalstaatsmodells in einigen der postimperialen Räume. Er glaubt: "Mit Sicherheit hätte die Julikrise 1914 einen anderen Verlauf genommen, wenn Russland dämpfend auf Serbien und Deutschland ähnlich auf die Donaumonarchie eingewirkt hätten. Die aktuellen Bemühungen des Westens um einen deeskalierenden Einfluss Russlands auf die Separatisten in der Ostukraine lassen sich als ein Lernen aus dem Ersten Weltkrieg verstehen."
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Religion

Von einem "fundamentalistischen Bildersturm" des Isis informiert Joseph Croitoru in der NZZ: Vor nichts würde sie halt machen - Ikonen, Statuen und Moscheen - und der Feldzug sei noch lange nicht beendet. "Die Befürchtungen werden nun zusätzlich genährt durch die jüngst kursierende Meldung, die Isis-Banden hätten den Imam der Jona-Moschee, in welcher der Prophet Jona begraben liegt, ermordet. Die Tatsache, dass es sich um ein islamisches Gotteshaus handelt, schützt den Ort keineswegs vor dem Zerstörungswahn der Extremisten. Erst kürzlich hatte der Isis eine prächtige Moscheeanlage im syrischen Raqqa durch Sprengung zerstört und damit in der islamischen Welt helles Entsetzen ausgelöst."

In der FAZ erklärt Wolfgang Günter Lerch (jetzt online), was es mit dem Kalifat auf sich hat, das die Isis verkündet: "Die endgültige Zerschlagung des Osmanischen Reiches zwischen 1922 und 1924 nach dem Ersten Weltkrieg - obwohl dieses Imperium für die muslimischen Araber auch vierhundert Jahre der Fremdherrschaft bedeutet hatte - ist in den Augen vieler Islamisten von heute das Urverbrechen gegen den Geist des Islams gewesen, wie sie ihn interpretieren. Das in Europa entstandene Konzept unabhängiger Nationalstaaten, das sich auf die Volkssouveränität gründet, gilt ihnen als Götzendienst, denn nun werde die Nation anstelle Gottes angebetet und zum höchsten Wert erklärt."

Skandalös findet in der Welt Alan Posener die Begründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für das Burkaverbot: "Das Entscheidende an den Menschenrechten bleibt außen vor: dass sie gelten, auch und gerade wenn deren Wahrnehmung die Mehrheit vor den Kopf stößt."
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Weiteres

Der Schweizer Architekt Marc Jordi erklärt in der FAZ, "was Berlins Stadtplaner von Frankfurt lernen können". Ebenfalls in der FAZ blickt Deutsch-Franzose Nils Minkmar auf das heutige WM-Spiel Deutschland-Frankreich. Hannah Lühmann berichtet ebendort über die Auseinandersetzungen um die von Flüchtlingen besetzte besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg. Ex-Bundespräsident Horst Köhler macht sich in der Welt für das Humboldt-Forum stark.
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