Maluma und Takete

Charlie, ein Missverständnis

Die Kunstkolumne. Von Ulf Erdmann Ziegler
26.01.2015. Die satirischen Waffen von Charlie Hebdo sind weitgehend stumpf, schon lange. Aber wir tun erst mal so, als wären wir Plattköpfe, aus politischer Raison.
Der hässliche Fremde, über den wir angeblich lachen: Die politische Solidarität mit ermordeten Karikaturisten verwischt erhebliche Unterschiede und Sensibilitäten in der visuell-politischen Kultur, auch zwischen Frankreich und Deutschland.

Wer mit Asterix groß geworden ist, weiß, dass ganz Gallien erschreckend lustig zeichnen kann. Ganz Gallien? Nein, aber bei der fnac, zum Beispiel, findet man eine ganze Comic-Abteilung unglaublich variantenreich bestückt. Schwarzweiß oder Farbe, Alltag oder Fantasy, retro oder futuristisch, es gibt am Markt fast nichts, was es nicht gibt, und für alle Altersstufen. Der Übergang zu dem, was man in Deutschland noch ein "Kinderbuch" nennt oder ein "Märchen", ist fließend. Eines jedoch ist klar: der gegenwärtige, blühende Comic Frankreichs ist ein nahezu politikfreies Genre.

Dasselbe gilt für die Pornografie, was keineswegs selbstverständlich ist, denn der politische Porno, wie eine amerikanische Studie vor einigen Jahren gezeigt hat, war der Vorläufer der Revolution: In den Tuilerien verkauften Händler drastische Darstellung von Kopulationen am Hofe. Womit gezeigt werden sollte, wie geil und korrupt die Aristokratie war. Nicht die Zeichner und die Händler wurden schließlich enthauptet, sehr wohl aber die Aristokraten.

Das große, beliebte Satireblatt Frankreichs heißt Die angekettete Ente. Es ist kein Magazin wie bei uns die Titanic, sondern eine dünne Zeitung auf Papier, die deshalb so beliebt ist - vierhunderttausend jeden Mittwoch -, weil sie mit bitterbösen Reportagen politische Skandale auslöst. Besonders im Fokus: der Klüngel von Paris. Le Canard enchaîné bringt auch Cartoons, aber niemand behauptet, hier würde in Beobachtung, zeichnerischer Darstellung oder Kombination von Bild und Text irgend etwas neu erfunden. Personen des öffentlichen Lebens müssen wiedererkennbar sein und dämliche Dinge sagen. Es ist das unendliche Programm des flotten Strichs mit zu großen Nasen, schon auf den allerersten Blick erkennbar als links und antiklerikal.

Charlie Hebdo erscheint, wie der Name sagt, ebenfalls wöchentlich und hatte bis vor kurzem eine Auflage von dreißigtausend. Wie der Canard wird Charlie auf gewöhnlichem Zeitungspapier gedruckt. Auch dieses Blatt wendet sich nicht an den visuellen Connaisseur. Man kann heute in Farbe auf gewöhnlichem Papier durchaus Nuancen darstellen (siehe das Titelblatt der New York Times), aber darauf wird bei Charlie kein Ehrgeiz und kein Cent verschwendet.

Um den politischen Horizont festzumachen, kann man jene Karikatur als Beispiel nehmen, die den Präsidenten Hollande mit offenem Hosenschlitz zeigt, sein Dings guckt raus, und mit den Händen macht er, stehend im Anzug, die Raute, eine Geste, die von Angela Merkel übernommen ist. Puerile Grobheit ist der Standardstil von Charlie. Wenigstens geht diese Hollande-Karikatur motivisch nicht ins Leere. Sie bringt - wenn auch etwas gewollt - zweierlei Beobachtungen zusammen: Die hausfräuliche Fassade Merkels und die erotischen Eskapaden Hollandes. Um ein Drittes zu behaupten: Dass er ihr politisch hörig sei.

Die Übertreibung von Äußerlichkeiten jedenfalls gehört in der politischen Karikatur zum Standard. Kaum wird man eine Darstellung Sigmar Gabriels finden, die seine Leibesfülle nicht als Erkennungszeichen ausstellt. Hat deshalb schon einmal der Verein für benachteiligte Übergewichtige Protest angemeldet? Nein, hat er nicht. Sowenig wie der Bund der Kriegsblinden sich zu Wort meldet, wenn Justitia mit verbundenen Augen dargestellt wird. Der "dicke Gabriel" und die "blinde Justiz" ähneln sich darin, dass ihre physische Darstellung symbolhaft und didaktisch ist, also nur dem Zweck dient, sie unterscheiden zu können. Ein blinder Gabriel oder eine dicke Justiz - sinnlos.

Die politische Karikatur in Deutschland (exemplarisch: die Seite 4 der Süddeutschen Zeitung) ist eher dem "zärtlichen Spott" gewidmet, wie vor Jahren schon die Seite-1-Illustrationen von Paul Flora in der Zeit und später von Luis Murschetz. Es gibt hierzulande eine Tradition gesellschaftlicher Satire, verbal bei Heinrich Heine und Kurt Tucholsky, zeichnerisch bei Heinrich Zille, dem Simplicissimus und George Grosz. Wer als Zeichner die simple und "beschilderte" politische Karikatur nicht will, kann dort Motive und Techniken nachladen, Komplexität gewinnen, und wird dennoch verstanden, weil man die Vorbilder kennt. Motivisch sind die Reserven: Zeitgeist, Milieu, Floskeln, Körpersprache, Absurdes.



Das herausragende Exempel einer subtilen Kunst der Karikatur sind die Beiträge von Greser und Lenz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die nicht die Welt als Bühne aufrufen, sondern im Gegenteil auf Nischen zielen: Straßenecken, Büdchen, Büros und Hinterzimmer. Wer sie jetzt googelt, findet eine liebevolle Studie einer mit einem Vorhang abgeriegelten Höhle, in der zwei Dschihadisten gezeigt werden, von denen der eine denkt: "... bitte Euch, liebe Glaubenskämpfer, von Anschlägen in Deutschland abzusehen. Dieses Land ist schon kaputt" - was man unwillkürlich auf die Ereignisse in Paris bezieht. Tatsächlich ist das Bild zur Lebenszeit Bin Ladens entstanden, und er ist es auch, der für einen Moment die Waffe beiseite gelegt hat, um gerade das, was Greser und Lenz ihn denken lassen, am Schreibtisch als Dekret zu fassen. Bemerkenswertes Detail: der Fotorahmen. Er steht als einziges überflüssiges Teil auf dem Schreibtisch, so als wäre Bin Laden ein spießiger Angestellter, der sich den ganzen Tag vom Enkelchen mit Kulleraugen anlächeln lässt. Allerdings ist der Fotorahmen, perspektivisch richtig, von hinten gezeigt, so dass alles Mögliche zu sehen sein könnte; oder nichts: also indirekt ein Kommentar auf das Bilderverbot, das Muslime versuchen, Nichtmuslimen aufzudrängen.

Dieses zu durchbrechen allein ist noch lange kein Kennzeichen dafür, dass wir uns im Feld einer irgendwie akzeptablen politischen Satire bewegen. Niemand in Deutschland wäre bereit gewesen, auf eigenes redaktionelles Risiko den Mohammed von Kurt Westergaard zu drucken, der eine Bombe im Turban trägt. Mit einiger Sorgfalt gezeichnet - der Mann sieht gar nicht unsympathisch aus und ist offenbar traurig über seine Rolle -, entbehrt das Blatt jeder Pointe, es sei denn, man betrachtete es als eine solche, ein tausendstes Mal zu behaupten, dass rohe Gewalt und Islam untrennbar zusammengehörten.

Dann aber, als wahllos skandinavische Botschaften angezündet wurden und Westergaard unter Polizeischutz gestellt werden musste, wurden die Karikaturen in Deutschland von der Welt, zum Teil von der taz und vor allem vom Perlentaucher übernommen. Was gut ist, weil man sich sonst vielleicht über etwas ereifert hätte, das man gar nicht kennt.

Bemerkenswert, wie erfolgreich Drohungen sind und wie ineffektiv ein vollzogener Mord. Am Beispiel Charlie Hebdo müssten eigentlich auch die verblendetsten Islamisten feststellen: Wenn man sich zum Henker aufspielt, splattert das Werk definitiv ins Internet. Niemals wird das rückgängig zu machen sein. Die Wirkung ist dieselbe wie bei der Zensur, nur ungleich mächtiger.

Der Slogan "Ich bin Charlie" meint etwas ähnliches wie das Streuen der Bilder: den Akt des Beharrens auf Menschen- und Bürgerrechten. Es gibt ja kein Recht, das wirklich gegen den politischen Mord ankommt - das einzige Mittel dagegen ist eine bestimmte Sorte von Bewusstseinspolitik.

Jetzt also kommt der erste wöchentliche Charlie nach den Anschlägen und zeigt einen Mann mit einer extrem langen, gebogenen Nase, von dem landauf landab behauptet wird, er solle "den Propheten" darstellen. Darin sind sich die überlebenden Redakteure und ihre erbittertsten Gegner ausnahmsweise einig. Der Zeichner, Renald Luzier, greift wieder zum politischen Symbol, glaubend, dass der Prophet eine Art Stellvertreter sei, so wie Jesus Christus im Christentum. Wäre das Attentat ein "christliches", und Jesus hätte schon vergeben - gar nicht so schlecht, oder? Immer noch ein bisschen schal, aber wenigstens stimmig.

Um also zu den didaktischen Symbolen der politischen Karikatur zurückzukehren: Sie sind zwar, um der Erkennbarkeit willen, simple Übertreibungen, aber sie meinen ja auch Funktionsträger, die quasi per Amt schon Kritik auf sich ziehen. Oder sie sind eben, wie die Justitia, Allegorien.

Gab es denn wirklich keine Bildidee, um speziell die Attentäter lächerlich zu machen? Sagen wir, einer von ihnen drückt in der Druckerei, in der sie sich verschanzen, auf einen Knopf, und was spuckt die Maschine massenhaft aus: Charlie Hebdo, mit ihm selbst auf dem Titel? Will sagen: Braucht nicht eine politische Karikatur einen Rest von Beobachtung oder wenigstens szenischer Phantasie? Reicht es wirklich, das Bild des Fremden aufzurufen und ihn hässlich aussehen zu lassen?

Nun also gruppiert sich das, was andere für den Westen halten, um die Millionenauflage einer Zeitschrift, deren satirische Waffen weitgehend stumpf sind, aber nicht jetzt plötzlich, sondern es schon lange waren. Alle Welt glaubt, dass wir über solche Bilder herzlich lachen. Sie werden nicht denken, dass wir unsere Freiheit verteidigen wollen - wer hat schon, in schwer repressiven Gesellschaften, einen Begriff davon? Sie werden denken, dass wir so denken. Und wir tun erst einmal so, als wenn wir Plattköpfe wären, aus politischer Raison.

Ulf Erdmann Ziegler