Vorgeblättert

Leseprobe zu Navid Kermani: Kurzmitteilung. Teil 1

08.02.2007.
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Von Maike Anfangs Tod erfuhr ich durch eine SMS: Tut mir leid, es dir so zu sagen, kann jetzt aber nicht anders. Meine kollegin maike anfang ist gestorben, die mit uns noch whisky trinken war. Einfach so. Ich weiß gar nichts mehr. Liebe grüße, korinna. Als mich die Nachricht erreichte, saß ich in einem Restaurant am Kieselstrand von Cadaques, einem Ort im Norden der spanischen Costa Brava, kurz vor der Grenze zu Frankreich. Picasso hatte hier einmal ein Haus, in der Nähe auch Dali, und etwas von ihrer Aura durchflutet noch immer die steinbepflasterten Gassen, die sich schmal und schmäler, kreuz und quer die zwei gegenüberliegenden Hügel hochziehen. Sorgsam konservieren die Einwohner, die meisten zugezogen, das Bild eines Künstlerdorfes am Mittelmeer: mit weißgetünchten, aber geziemend abgeblätterten Mauern und grünen oder blauen Fensterläden, mit prall bestückten Blumenkästen und malerischen Läden für Kunsthandwerk, Delikatessen und Wein, mit Restaurants, die ihre Küche täglich neu auf Kreidetafeln erfinden, und Ateliers, in denen barhäuptige Maler bei weit geöffneten Fenstern ebenso weit geschwungene Striche auf der Leinwand ziehen. Ich selbst bin der Aura erlegen, daß es mich immer wieder nach Cadaques zurückzieht, mag es auch kaum mehr sein als ein Disneyland für Individualisten. Dem Display zufolge war es der 10. Juli 2005, 18:32 Uhr. Ein blonder Junge von drei, vier Jahren radelte mit Stützrädern an meinem Tisch vorbei, Hemd, Hose und Schuhe aus naturbelassenem Leinen. Die blonden, welligen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Ein bunt geflochtenes Haarband hielt sie an der Stirn zusammen. Die Eltern müssen Künstler sein, Künstler oder jedenfalls Kreative, dachte ich und stellte mir die Frage, ob mein Kind auch so extravagant durch Cadaques radeln würde. Während ich mich nach den Eltern umschaute, drückte ich mit dem linken Daumen auf den grünen Knopf des Telefons, so daß sich Korinnas Nummer von selbst wählte. Schon beim ersten Freizeichen wußte ich, daß sie sich nicht melden würde. Die SMS hatte sie mir geschickt, eben weil sie nicht mit mir sprechen wollte oder konnte, sich jedoch verpflichtet fühlte, mir die Nachricht von Maikes Tod zu überbringen, so wie jemand anders die Nachricht ihr überbracht hatte. Warum mir? fragte ich mich. Ich kannte Maike Anfang kaum. Ahnte Korinna etwas von der Nähe, die zu erkunden Maike Anfang und ich keine Gelegenheit mehr hatten? Fühlte sie selbst sich mir so nah, daß sie mich an ihrem Schock teilhaben ließ? Oder war es der Grundstock an Professionalität, den sie sich noch angesichts des Todes bewahrte? Einige Wochen zuvor, genau gesagt, am 17. Juni 2005, hatte ich Maike Anfang bei einer Präsentation kennengelernt. Ich hatte den Auftrag bekommen, die Abschiedsfeier für den Vorstandsvorsitzenden der Deutschland-Vertretung von Ford zu gestalten. Das ist mein Beruf: Ich bin zuständig für außergewöhnliche Veranstaltungen, zuständig dafür, daß sie außergewöhnlich werden - Festivals, Events für die Belegschaft großer Firmen, Benefizgalas, Opernbälle, festliche Tombolas, private Feiern sehr reicher Leute, Preisverleihungen, das kulturelle Rahmenprogramm von Messen, Sportveranstaltungen, Parteitagen. Ich berate Unterhaltungsredaktionen des Fernsehens sowie Künstler, Artisten und Entertainer aller Art, vor allem weltweit bekannte Zauberer. Für Festspiele in der Provinz, große Bühnen und Opernhäuser entwickele ich Programmprofile, die überregionale Aufmerksamkeit garantieren, ohne das lokale Publikum zu vergraulen. Ich bin bekannt für mein Gespür, Menschen für die Kultur zu gewinnen, auch und gerade indem ich ihren Horizont erweitere. Meiner Erfahrung nach wollen die Zuschauer keineswegs nur das Gewohnte, Bewährte sehen - aber man muß sie mitnehmen, anstiften, herausfordern, will man sie zu etwas Neuem führen, etwas Unbequemem oder gar Schmerzhaftem. Man darf sie nicht allein lassen. Ich glaube fest daran, daß der Spagat zwischen Publikumstauglichkeit und Avantgarde möglich ist - man muß ihn nur wagen und wollen. Das Kulturprogramm der Fußballweltmeisterschaft 2006 zu betreuen wäre mein Lebenstraum gewesen, nur hatte sich das Organisationskomitee von vornherein auf Andre Heller festgelegt. Ansonsten bin ich gut genug im Geschäft, um mehrere Monate im Jahr in Cadaques zu verbringen. Fast schon außerhalb des Orts habe ich vor drei Jahren eine Wohnung an der Küste gekauft, 120 qm, Terrasse, technisch mit allem ausgerüstet, was ich brauche, Ruhe. Und wenn ich nach Hause muß, bin ich dank des TGV schnell in Köln, elf Stunden ab Portbou, dem Grenzort, in dem Walter Benjamin sich umgebracht hat; zweimal umsteigen, in Montpellier und Paris. In der Regel ist der Zug die bessere Option als zu fliegen, weil ich die Fahrt zum Arbeiten oder Lesen nutzen kann. Wenn Zeit ist, mache ich halt in Lyon, Paris oder Brüssel, um Freunde zu besuchen oder Ausstellungen. Um flexibel zu bleiben, müßte ich sonst immer Businessclass fliegen; das wäre auf Dauer zu teuer. Noch bin ich nicht soweit, daß ich nicht mehr rechne. Es reicht für die erste Klasse des TGV ohne Vorausbuchung. Klar, oft werde ich zu Terminen eingeflogen, dann muß ich mir um die Kosten keine Gedanken machen. Manchmal besuchen mich die Auftraggeber in Cadaques. Sie fliegen nach Gerona, Perpignan oder Barcelona und leihen sich einen Wagen. So war es auch mit Korinna, die bei Ford die Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit leitet und damit beauftragt worden war, eine Überraschungsfeier für den Vorstandsvorsitzenden Patrick Boger zu organisieren, der in die Vereinigten Staaten zurückkehren würde, ein abendfüllendes Programm an öffentlichem Ort, hochkarätig besetzt, zur bleibenden Erinnerung des Scheidenden, seiner Belegschaft und der Stadt Köln. Meinen Namen und meine Telefonnummer hatte sie von Dieter erhalten, dem Generalintendanten der Kölner Bühnen, einem Freund. Für meine Ratschläge bedankt er sich mit Freikarten für die besten Häuser Europas und, wo es sich ergibt, mit Kontakten und Aufträgen. Korinna hatte sich mit ihm getroffen, weil sie für die Feier die Oper anmieten wollte und außerdem mit dem Gedanken spielte, Sänger zu engagieren. Die Abschiedsfeier sollte so speziell sein wie Patrick Boger selbst, eine ehrliche Demonstration des Dankes, aber auch ein Signal an die Kollegen in den USA, daß in der deutschen Vertretung Kreativität und Zusammenhalt gelebt werden - mit diesen Worten schilderte Korinna mir ihren Auftrag, bevor sie mich in Cadaques besuchte. Ihre erste Mail ist noch in meinem Laptop gespeichert. Als wir im gleichen Restaurant saßen, in dem ich später von Maike Anfangs Tod erfuhr, beschrieb sie mir Boger als einen umfassend gebildeten Charismatiker, der es verstehe, seine Mitarbeiter genauso zu begeistern, wie er selbst sich für alle möglichen Dinge begeistere, für humanitäre Aktionen ebenso wie für Kunst und Theater, für Fußball, den Karneval und überhaupt für die Stadt Köln, in der er acht Jahre lang erfolgreich und mit enormer Außenwirkung gearbeitet habe. Dabei schien er keineswegs aalglatt zu sein. Im Konzern hatte er alle möglichen Maßnahmen durchgesetzt, die der Gesundheit der Mitarbeiter und der Umwelt dienten. So saßen alle Angestellten der Verwaltung auf orthopädisch empfohlenen Stühlen. Auch für die Verwendung von Altpapier in allen Kopierern oder ökologisch angebauten Lebensmitteln in der Werkskantine hatte er gesorgt. Einige seiner Marotten hätte ich bei jemanden in seiner Position nicht für möglich gehalten. Etwa zog er sich täglich zweimal zurück, um zu meditieren, und er hatte auch alle zwei Wochen einen festen Tag, an dem er nicht ins Büro kam, keinerlei Termine annahm und nicht erreichbar war. Korinna meinte, daß Boger sich immer schon solche Freiheiten genommen habe. Sie hatte ein Dossier über ihn zusammengestellt, das sie mir vor ihrer Abreise nach Köln überreichte. Auf den Photos sah er blendend aus, ein braungebrannter, dunkelblonder Mittfünfziger, dem sein Alter nur an den Augenfältchen abzulesen war. Cadaques würde ihm gefallen, dachte ich, während ich in dem Dossier blätterte; Cadaques gefällt allen Amerikanern, die etwas übrig haben für Europa. Ich mochte die Leidenschaft, mit der Korinna von ihrem Beruf und ihrem Vorgesetzten sprach. Ich habe so viel mit abgelebten Existenzen zu tun, daß ich froh bin über jede ehrliche Erregung. Schon beim Nachtisch wechselten wir zum Du. Maike Anfang habe ich zum ersten Mal gesehen, als ich zwei Monate später den möglichen Ablauf des Abends präsentierte. Sie war eine von neun oder zehn Mitarbeitern, die um den Tisch eines kleinen Konferenzzimmers bei Ford in Köln-Niehl saßen, und fiel mir nur dadurch auf, daß sie sich weit mehr Notizen machte als die anderen. Ich hielt sie für die Protokollantin. Nach der Sitzung stellte Korinna sie mir als die Kollegin vor, die auf seiten des Konzerns unmittelbar mit mir zusammenarbeiten werde. Maike Anfang sagte mit Nachdruck, daß meine Ideen und die Art meines Denkens sie beeindruckt hätten, die Philosophie einer Kunst, die mit dem Leben verschränkt sei und sich ausdrücke, ohne ausgesprochen zu werden. So gedrechselt sagte sie das. Sie meinte damit vermutlich, daß ich keine bloße Abfolge möglichst prominenter Gastauftritte vorschlug, sondern jeden einzelnen Punkt des Programms mit Texten, Kompositionen und Menschen, die für Boger wichtig waren, eigens erarbeiten wollte. Vielleicht meinte sie auch meinen Sinn fürs Alberne. Mir schwebte vor, mich allen repräsentativen Zwängen und aufgesetzten Ansprüchen zu entziehen und einfach das zu tun, was dem Vorstandsvorsitzenden Spaß bereiten würde, ein Theater seiner Wünsche, eine Schülerparty für einen scheidenden, allseits beliebten Direktor mit den Mitteln eines Weltkonzerns. Deshalb wollte ich die Feier auch nicht in der Oper oder der Philharmonie ausrichten, sondern mitten auf dem Werksgelände ein Spiegelzelt aufbauen lassen. Nicht nur der Betriebsrat, alle Arbeiter sollten sich eingeladen fühlen. Das Zelt, das ich bereits zum siebenhundertfünfzigsten Geburtstag der Stadt Frankfurt an der Oder eingesetzt habe, bietet vierhundert Menschen genügend Platz, um bis zur Frühschicht zu tanzen. Möglichst locker sollte es sein, möglichst fetzig, nicht Klassik, nicht Schlager, sondern Rock ?n? Roll, Sie wissen, was ich meine? Und alle hatten geschmunzelt. Unverwechselbarkeit könne man nicht kaufen, hatte ich hinzugefügt. Unverwechselbar sei Patrick Boger selbst. Darauf müßten wir setzen. Thomas Quast einfliegen zu lassen könne jeder Konzern. Aber Thomas Quast dafür zu gewinnen, mit den Auszubildenden des Werks ein ironisches Loblied auf die Mülltrennung im Konzern einzustudieren - das gebe es nur im Betrieb von Patrick Boger. Daß jeder im Raum Thomas Quast kannte, setzte ich voraus, obwohl es sicher nicht stimmte. Ich halte die Leute gern für gebildeter, als sie sind; es hält sie davon ab, mir zu widersprechen, wenn ich mich anschließend über ihre Vorstellungen hinwegsetze. Und pathetisch hatte ich die Botschaft der Abschiedsfeier verkündet: Hier ist einer unverwechselbar, weil er Mensch geblieben ist. Ich war mir von der ersten Sekunde unseres Gespräches an nicht sicher, ob Maike Anfang mir den Sermon wirklich abnahm oder nur aus Höflichkeit begeistert tat. Die Emotion, die sie in ihre wenigen Worte und in ihren Blick legte, wirkten so echt, daß ich für ein paar Sekunden drauf und dran war, selbst an eine Philosophie meiner Präsentation zu glauben. Dann fiel mir ein, daß man Emotionen nirgendwo so perfekt anwenden dürfte wie im Geschäftsbereich Kommunikation und Öffentlichkeit eines internationalen Konzerns. Ich dankte Maike Anfang für den Zuspruch und betonte, mich auf die Zusammenarbeit zu freuen. Auf Korinnas Vorschlag hin tauschten wir außer den Karten auch die Handynummern aus und verabredeten, uns nach meiner Rückkehr aus Cadaques Mitte August auf einen Kaffee oder einen Wein zu treffen.

Leseprobe Teil 2
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