Heute in den Feuilletons

Wie dann die Köpfe fliegen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2011. Wie konservativ ist Steven Soderberghs Medienbild?, fragt die Berliner Gazette. Der New York Observer erklärt, wie die New York Times die digitale Klassengesellschaft im Journalismus abschafft. Ist Soundcloud das nächste Youtube?, fragt das ReadWriteWeb. Die FR/Berliner Zeitung stöhnt: Jetzt müssen wir auch noch den Kunstgeschmack unserer Großeltern bewältigen. In der NZZ versichert Viktor Jerofejew: Noch schlimmer als Putin ist das russische Volk.

Aus den Blogs, 20.10.2011

In Steven Soderberghs neuem Film "Contagion" werden die Ausbreitung eines Virus und die virale Ausbreitung der Angst im Netz durch einen Blogger parallelisiert. Der Blogger ist am Ende Schuld an der Krise. Ein erstaunlich konservatives Medienbild, findet Krystian Woznicki in der Berliner Gazette: "In 'Contagion' werden die traditionellen Medien als Instrumente der Sicherheit präsentiert. Sie sollen gewährleisten, dass die Massen solange in Unwissenheit gelassen werden können, wie es das Krisenmanagement des Staates für richtig erachtet. Das Motto lautet: 'Wir gehen damit erst dann an die Öffentlichkeit, wenn alle ohnehin schon Bescheid wissen.'"

Ruprecht Polenz von der CDU, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, hat eine besonders intelligente Bemerkung zur Freilassung Gilad Schalits gemacht: "Übrigens: ohne mit der Hamas - direkt oder indirekt - zu sprechen, hätte Israel den heutigen Erfolg nicht erreicht.". Richard Herzinger kommentiert die Äußerung in seinem Blog so: "Na klar - ohne 'direkt oder indirekt' mit dem Geiselgangster Thomas Drach 'zu sprechen' und ihm Lösegeld zu zahlen, wäre ja auch weiland der 'Erfolg' nicht möglich gewesen, Drachs Entführungsopfer Jan Philipp Reemstma lebend aus den Klauen seines Peinigers zu befreien. Pfiffige Logik, Herr Polenz!"

Ist Soundcloud das nächste Youtube?, fragt Richard MacManus im ReadWriteWeb nach einem Interview mit Alexander Ljung, einem Gründer des Berliner StartUps: "SoundCloud never wanted to be just another podcasting platform, but (in Ljung's words) to be 'sound sharing the way it should've been.' SoundCloud users can - and do - upload any form of audio to the Web, from music demos to 1-2 minute soliloques and even snippets of phone conversations. To get to the level of YouTube though, there will need to be a huge increase in consumption of SoundCloud content. The Facebook partnership, along with integration into other discovery platforms, is going to be crucial."

TAZ, 20.10.2011

Dirk Knipphals kommentiert die Verleihung des Man Booker Prize an den Schriftsteller Julian Barnes als gute Entscheidung, weil sie eine Debatte losgetreten habe, die es "beiden Seiten, den Lesbarkeitsforderern wie den Lesbarkeitsverächtern, erlaubt, sich zu erregen, ohne genau erklären zu müssen, was für eine Literatur genau sie eigentlich wollen".

Michael Baute berichtet über das größte Filmfestival Südamerikas in Rio de Janeiro, wo er unter anderem "As Cancoes" ("Songs") des mittlerweile 78-jährigen Eduardo Coutinho sah, einem "Meister des simpel erscheinenden, nach und nach aber immer mehr Vielschichtigkeit freilegenden Dokumentarfilms". Andreas Fanizadeh besuchte die Berliner Buchpräsentation von "Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss" des Zeit-Redakteurs Bernd Ulrich, die im Beisein von Verteidigungsminister Thomas de Maiziere stattfand.

Beeindruckendes Handwerk und einen rabiaten Umgang mit seinen prominenten Darstellern bescheinigt Birgit Glombitza Steven Soderberghs Seuchenfilm "Contagion". Besprochen wird außerdem Angelina Maccarones gelungenes Filmporträt "Charlotte Rampling - The Look" und die Ausstellung "Ai Weiwei in New York" im Berliner Martin-Gropius-Bau.

Und Tom.

Welt, 20.10.2011

Stefan Koldehoff stellt die im Internet entstehende Datenbank mit Nazikunst vor - die er längst nicht mehr als "Tabubruch" begreift. Wieland Freund zeichnet britische Debatten um den Booker-Preis nach: Vier der fünf Juroren waren Thriller-Autoren, und ihre Shortlist war bis auf Julian Barnes, der den Preis dann bekam, recht banal. Der Historiker C.G. Röhl resümiert ein Symposion über die "Fischer-Kontroverse" in den sechziger Jahren - sie war um die These Fritz Fischers, dass Deutschland schon im Ersten Weltkrieg nach der Weltmacht gegriffen habe, entbrannt.

Besprochen werden eine Inszenierung von "Trauer muss Elektra Tragen" durch Stephan Kimmig am Deutschen Theater Berlin und Steven Soderberghs neuer Film "Contagion" (mehr hier).

FR/Berliner, 20.10.2011

Echt betroffen hinterlässt Sebastian Preuss die Sammlung von Nazi-Kunst, die in Hitlers "Großer Deutscher Kunstausstellung" zu sehen war und ab heute abend auch im Netz zugänglich ist. "Wir müssen uns auch mit dem Geschmack unserer eigenen Großeltern auseinandersetzen und ihrer Bereitwilligkeit, ihrem Führer nicht nur in den Krieg und den schrecklichsten Terror zu folgen, sondern sich auch seinen Geschmack zwischen grotesken Gesamtkunstwerken, Operetten-Größenwahn und Kleinbürger-Idylle zu ihrem eigenen zu machen."

Barbara Klimke berichtet vom Booker-Preis für Julian Barnes und den seiner Verleihung vorausgegangenen Debatten um die Lesbarkeit von guter Literatur. Besprochen werden Pedro Almodovars Horror-Melodram "Die Haut, in der ich wohne", Annekatrin Hendels Dokumentation über den DDR-Schriftsteller und IM Paul Gratzik sowie Angelina Maccarones Charlotte-Rampling-Porträt "The Look".

Weitere Medien, 20.10.2011

(Via gutjahr) Die neue Chefredakteurin der New York Times, Jill Abramson, möchte erstmal 20 Journalisten entlassen. Gemeldet hat dies zuerst Brian Stelter - und zwar in einem Blog der New York Times. Und Kat Stoeffel erläutert im New York Observer: "The paper still has separate contracts for print and digital employees. The distinction has withstood even the Times's very conspicuous 'newsroom integration,' in 2005, during which Bill Keller announced that the paper planned 'to diminish and eventually eliminate the difference between newspaper journalists and web journalists.' In other words, you're all bloggers now."

Freitag, 20.10.2011

Boualem Sansals Bücher seien in Algerien gar nicht verboten, schreibt Sabine Kebir (obwohl sie gleichzeitig von Einfuhrverboten für die Bücher spricht), und der Autor bekomme durchaus auch gute Presse: "El Watan, mit 150.000 Exemplaren immerhin die zweitgrößte Zeitung Algeriens, hat Sansals Fortune mit 27 Artikeln im letzten Jahrzehnt meist wohlwollend verfolgt. Am 10. Juli 2011 wurde die bevorstehende Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels angekündigt mit dem Zitat des Präsidenten des Börsenvereins, Gottfried Honnefelder, dass damit vor allem Sansals 'offene Kritik an der politischen und sozialen Situation' seines Heimatlandes geehrt würde."

Aus dem Guardian wird John Naughtons großes Gespräch mit Steven Pinker über dessen neues Buch "Gewalt" übernommen.

NZZ, 20.10.2011

Ulrich M. Schmid spricht mit dem Schriftsteller Viktor Jerofejew über die die russische Gegenwartsliteratur und die politische Lage im Land. Leider, meint Jerofejew, sei Putin liberaler als achtzig Prozent der Bevölkerung, die Russen hält er nämlich für ein archaisches Volk: "Solange man sich nicht in die Politik einmischt, kann man tun und lassen, was man will. Das gab es vorher nicht. Sein Problem ist nicht, dass er mit der Faust auf den Tisch schlägt. Er ist nicht so schlimm wie all jene Nationalisten, Faschisten und Imperialisten, die sich in Stellung bringen. Deshalb kann Putin sagen: 'Wenn ihr freie Wahlen wollt, bitte schön. Ihr werdet sehen, wie dann die Köpfe fliegen.' Russlands größter Feind ist sein Volk. Nicht Putin, nicht Medwedew, nicht Surkow, sondern das eigene Volk, das in einer Märchenwelt lebt. Die Russen wissen wenig über die Welt und halten sich für ein auserwähltes Volk, das Gott am nächsten ist."

Besprochen werden Lech Majewskis Verfilmung eines Gemäldes von Pieter Bruegel "The Mill & the Cross" und Bücher, darunter Antje Ravic Strubels Roman "Sturz der Tage in die Nacht", Felix Philipp Ingolds Roman "Alias oder Das wahre Leben" und Dieter Meiers Bildband "Out of chaos" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Zeit, 20.10.2011

Der Politikteil feiert auf fünf Seiten 50 Jahre Einwanderungsland Deutschland. Gute Idee! Zu Wort kommen u.a. Helmut Schmidt, Mevlüde und Durmus Genc, die fünf Familienangehörige bei dem Brandanschlag auf ihr Haus in Solingen verloren, das Liebespaar Semanur und Serkan, der Schriftsteller Feridun Zaimoglu und die Schauspielerin Renan Demirkan: "Demirkans Schauspielerei brachte den größten Unterschied zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hervor. Er war Ingenieur, hörte in der Türkei schon klassische Musik und sprach Deutsch, las Hegel und Kant; in Hannover angekommen, verstand er den Bäcker nicht, dessen Deutsch nicht so geschliffen war wie seines. Ihre Mutter kam aus dem Dorf, war kaum zur Schule gegangen, hatte aber gerlernt, den Koran zu lesen. 'Ich bin zwischen Kant und Koran groß geworden. Ich hatte ständig Schnappatmung', sagt Demirkan."

Im Feuilleton: Maximilian Probst schreibt den Nachruf auf den Medientheoretiker Friedrich Kittler, der mit dem Phantasma aufgeräumt habe, dass der Mensch Erfinder der Medien sei und nicht umgekehrt. Etwas mitgenommen zeigt sich Ijoma Mangold von Pedro Almodovars neuem Film "Die Haut, in der ich wohne": "Noch nie hat einem Schönheit so den Atem abgeschnürt, weil sie ganz und gar vergiftet und unwahr ist" (online gibt es ein Interview mit Hauptdarsteller Antonio Banderas). Ein gefühltes Jahr nach Monika Lierhaus' unübertroffenem Heiratsantrag in der ARD stellt Ulrich Greiner fest, dass es öffentliche Momente der Peinlichkeit gibt, vermisst den "Heroismus der Contenance" und dreht diesem embarassing turn die kulturkritischen Löckchen. Nina Pauer grübelt darüber, wie peinlich es ist, mit Absicht peinlich zu sein. Claus Spahn hat auf den Musiktagen in Donaueschingen schon erlebt, wie sich Musiker mit Schweißbrennern aus einem Stahltank befreiten oder Kühe - "streng nach Partituranweisung" - über die Bühne geführt wurden, erzählt er, für einen echten Skandal sorgte jetzt aber erst der Norweger Lars Petter Hagen mit einem sträflich unterkomplex dudelnden Volksmusiker.

Besprochen werden neue Album "Bad As Me" von Tom Waits und Bücher, darunter Wolfram Ettes große Studie "Kritik der Tragödie" und Daniela Kriens Debütroman "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 20.10.2011

David Gelernter plädiert dafür, Kinder nicht vor "iSpielzeug" zu setzen, da ihnen sonst die Fantasie abhanden komme. Gina Thomas freut sich, dass Julian Barnes beim vierten Anlauf endlich den Booker-Preis gewonnen hat. Eric Pfeil hat beim Kölner Britney-Spears-Konzert in einem halb gefüllten Saal die Ironieverdrossenheit hinter sich gelassen. Auf der Kinoseite begeistert sich Andreas Platthaus für die Raumästhetik des japanischen Zeichentrickfilms und empfiehlt zum Nachvollzug derselben eine Ausstellung, die gerade von Dortmund nach Spanien gereist ist. Kerstin Holm zeichnet ein Stimmungsbild der aktuellen politischen Lage in Russland. Als Kontrapunkt zur brodelnden Metropole ringsum empfand Rose-Maria Gropp die "gewisse Askese" der 12. Istanbuler Kunstbiennale. Niklas Maak fasst den Deal für den Urteilsspruch im Kölner Kunstfälschungsprozess zusammen. Stephan Kimmigs Inszenierung von "Trauer muss Elektra tragen" am Deutschen Theater Berlin hat Irene Bazinger schnell vergessen. Hans-Albrecht Koch hat den Nachruf auf den italienischen Dichter Andrea Zanzotto verfasst.

Besprochen werden eine CD mit Kirchenmusik von Johann Adolf Hasse, die Charlotte-Rampling-Doku "The Look" und Bücher, darunter Romualdas Granauskas "menschenverachtende Utopie" "Das Strudelloch" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 20.10.2011

Jonathan Fischer besucht den deutschen Hip-Hopper Sepalot, in dessen Musikmanufaktur es ähnlich gemütlich wie im "Depot eines Technikmuseums" ist. Jörg Häntzschel berichtet von Streitigkeiten in den USA zwischen einigen Künstlern und den Auktionshäusern Christie's und Sotheby's um Gewinnausschüttungen beim Weiterverkauf ihrer Werke. Matt Damon berichtet von Problemen beim Dreh einer Szene in seinem neuen Film "Contagion", den Rainer Gansera zwar klug, aber nicht sonderlich berührend fand. Helmut Mauro hat sich durch einige Liszt-Aufnahmen gehört und hebt insbesondere die Einspielungen von György Cziffra hervor. Joseph Hanimann hat sich ein Jahr nach Eröffnung die Dependance des Centre Pompidou in Metz nochmal genau angesehen.

Besprochen werden auf einer eigenen Seite diverse Bücher und Filme für Kinder, die Filme "Vaterlandsverräter", "Urban Explorer" und "Footloose" (ein Remake des 80s Tanzfilmklassikers), Dusan David Parizeks Interpretation von Dennis Kellys "Die Götter weinen" am Münchner Residenztheater (wo es die ersten "Buhs" unter Martin Kusejs noch frischer Intendanz zu verzeichnen gab) und Bücher, darunter Heinrich Meiers Rousseau-Lektüre "Über das Glück des philosophischen Lebens" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).