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Buchgewerbe im Zangengriff

Von Rüdiger Wischenbart
08.10.2012. Das deutsche Buchgewerbe macht einen Hauptteil seines Umsatzes mit gebundenen Büchern. Aber dieser große Kuchen wird von vielen Seiten angefressen. Dabei wehrte sich die Branche lange gegen den falschen Gegner: Nicht Google, sondern Amazon heißt die Herausforderung.
Es gibt eine heikle Zahl im deutschen Buchgewerbe: 70 Prozent. So viel machen gebundene Bücher (neudeutsch: Hardcover) am Gesamtumsatz der Buchbranche aus. Das ist verdammt hoch, und auch hoch riskant.

Denn 70 Prozent Anteil für gebundene Bücher bedeutet im Umkehrschluss, dass all die haushohen Stapel an Taschenbüchern, die Hörbücher, die anschwellenden Ebooks, die Ramschwaren und was sonst noch gekauft, verschenkt, oder gerade mal abgegriffen wird, weniger als ein Drittel ausmachen am Gesamtkuchen. Die Buchbranche lebt vom und aus dem gebundenen Buch. Das sind Bücher, für die durchschnittlich um die 17 Euro zu bezahlen sind, eine Menge Geld. So viel wird nahezu ausschließlich für Neuerscheinungen ausgegeben, die als besonders hochwertig gelten. Solche vergleichsweise hochpreisigen Bücher kaufen überwiegend Leute, die wirklich viel lesen, also über überdurchschnittliche Bildung und ebensolches Einkommen verfügen, statusbewusst sind, unter ihnen mehr Frauen als Männer. Es sind dies sehr selbstbewusste, urteilssichere, gewandte, damit aber auch flexible, im Umgang mit allerlei Medien geübte Menschen, kurzum, eine kleine, jedoch ziemlich schwierige Zielgruppe. Auf diese relative kleine Gruppe stützen sich Buchhandel, Verlage, Autoren, und das ganz Umfeld zu eben 70 Prozent.

Mir geht es hier nicht um Statistik, sondern darum, einen vorhersehbaren, jedoch nicht irgendwie gesteuerten, böswillig beabsichtigten, aber letztlich doch massiven Zangengriff aufs Buchgewerbe begreiflich zu machen.

Das Buchgewerbe - Gewerbe! - ist traditionell geprägt von kleinen bis mittelgroßen Firmen, überwiegend Familienbetrieben, Nahversorgern der Kulturware Buch, mit relativ engen Kreisläufen, welche sich um ein Biotop aus Autoren, Lesern, Verlagslektoren, engagierten Buchhändlern, Medienleuten, Literaturenthusiasten und natürlich einem Sahnehäubchen aus Stars, Vortänzern und Pirouettendrehern in all diesen Bereichen scharen. Die Rollen waren hoch spezialisiert und verteilt bislang, eben ein Biotop. Selbst die drei Großen in Deutschland, Random House (Bertelsmann), Holtzbrinck (mit Rowohlt, S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch sowie zur Hälfte Droemer) und die schwedische Bonnier Gruppe (mit Ullstein, Carlsen und Piper) mühen sich, unter den jeweiligen Verlagsnamen als Mittelständler aufzutreten, nicht als machtbewusste und marktbeherrschende Konzerne.

In sich funktioniert dies auch durchaus noch. Blicke ich auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis - übrigens die einzige Auszeichnung für Bücher in Deutschland, die sich tatsächlich massiv in Verkaufszahlen niederschlägt - ist es toll zu beobachten, wie sich in den vier Wochen vor der Preisverleihung diese sechs Titel in ihren Verkaufszahlen aufeinander zubewegen. Da spielen kurzfristig so unterschiedliche Bücher wie das komplizierte "Indigo" des Literaturjongleurs Clemens Setz mit dem Knüllerautor Wolfgang Herrndorf ("Sand") in ein und derselben Liga. Mehr noch, schaue ich beim Onlineriesen Amazon genauer hin, und verfolge das anfangs rätselhafte "Wer dieses Buch gekauft, oder angesehen hat, hat auch jenes…", bemerke ich rasch: Diese grundunterschiedlichen Autoren verweisen aufgrund der Drift, die Shortlist und Preis auslösen, auch noch mehrheitlich direkt aufeinander. Das hält für ein paar Wochen an, wirbelt also Bewertungen, Stile, Zielgruppen ordentlich durcheinander, bewegt das Geschäft - und nach einer Weile, so um oder nach Weihnachten, driften diese Flöße wieder auseinander und folgen ihren genuinen Bahnen. Ich verfolge dies systematisch nun seit drei Jahren. Intellektuell spannend. Toll!

Wären da nicht diese 70 Prozent.

Zum ersten sind es ein paar solche, und noch größere Spiele, die gerade in der informationsgierigen Zielgruppe dieser 70 Prozent - die sich für Neuerscheinungen, Moden, Mediengeschichten besonders interessieren - besonders stark Widerhall finden. Denn diese Zielgruppe ist besonders medienaffin. Zum zweiten aber drängen sich neuerdings mit großer Regelmäßigkeit ganz eigenartige, neue Typen von Megasellern in den Vordergrund, die ebenfalls ein - noch größeres - Stück vom 70 Prozent-Kuchen abschneiden. Frank Schätzings "Schwarm" konnte ja noch durchgehen als eiskalt kalkulierte Prosa eines Werbeprofis. Aber dann folgten Hape Kerkeling, oder Thilo Sarrazin, und Helmut Schmidt. Und noch viel mehr, und auf einem ganz anderen Level in punkto Marktgewicht, die Lawinenabgänge vom Schlage "Twilight", oder die beiden in diesem Jahr schon im Stakkato hintereinander aufgeschlagenen Rollercoaster, die "Spiele von Panem" (inklusive Verfilmung) im Frühjahr, gefolgt von den "Shades of Grey" im Sommer. Da bleibt für den dritten, über Jahre vorgeplanten Jahreshit von JK (Harry) Rowling, "Ein plötzlicher Todesfall", vermutlich nicht mehr allzu viel Luft.

All diese Schlachten und Scharmützel um jene paar Titel, um die sich die Medien balgen - und darüber die meisten anderen Bücher übergehen - nagen arg am Kuchen der 70 Prozent. Denn die Gesamtmenge, welche die Zielgruppe der stärksten Leser (und Käufer) schafft, ist nicht erweiterbar, im Gegenteil. Die zahllosen übrigen gebundenen Neuerscheinungen teilen sich ein an den Rändern arg abschmelzendes Leseterrain.

Die Medien - auch die Qualitätszeitungen - schaffen da keine Abhilfe. Sie bündeln erst recht ihre Aufmerksamkeit auf wenige Spitzentitel, während sie die Zahl der Literaturseiten einschränken und die Rezensentenhonorare kürzen, wie dieser Tage Joachim Leser so kenntnisreich wie wütend im Fachblatt buchreport dargelegt hat.

Bleibt Amazon. Denn je mehr große (etwa Thalia) Filialen und kleine Nahversorger-Buchhandlungen schließen, desto klarer verlagert sich der Austausch über Bücher ins Netz, und wo ein Buchhändler des Vertrauens noch mit Einfühlung punkten konnte, etwa bei der Beratung, fächert Amazon seine Angebote breit auf, vom Verkaufsrang, über Leserrezensionen (bei denen die Fakes arg überschätzt werden), Bewertungen und, am wichtigsten, die Verweise auf verwandte Bücher und Autoren - bei gleichzeitig dem größtmöglichen Angebot aus einem mittlerweile vielsprachigen Katalog von Millionen Titeln. Darüber hinaus aber hat Amazon auch noch ganz andere Dienste aufgereiht, vom Marktplatz für kleine Händler und Antiquare, über Autoren- und Selbstverlegerofferte bis zu den - vorerst nur in den USA kräftig ins Verlagsgeschehen eingreifenden - eigenen, exklusiven Buchreihen. Was unlängst noch ein hoch ausdifferenziertes Biotop war, das Buchgewerbe, wird nunmehr im industriellen Großmaßstab neu erfunden.

Keine Frage, dass die Gruppe der wichtigsten, bestinformierten, flexibelsten und medienaffinen Kunden - die Kerngruppe aus den 70 Prozent - überwiegend Stammkunden von Amazon geworden sind, gerade auch dann, wenn sie nebenher auch bemüht sind - umsichtig, gut gebildet, medienaffin - einen Buchhändler ihrer Wahl, um die Ecke, zu besuchen, insbesondere für Spezialaufträge. Der Hauptumsatz aber verlagert sich vom Gewerbe in die Industrie.

Dumm gelaufen ist dabei allerdings auch, dass sich die Vertreter des Buchgewerbes seit ziemlich genau sieben Jahren in den falschen Abwehrschlachten verheddert haben. Mit Pauken, Trompeten und teuren Anwälten in Europa und USA gingen sie gegen die - gewiss: nassforsche - Digitalisierungskampagne des Internetgiganten Google vor, statt sich darüber einen starken Hebel zu erstreiten, um aus digitalen Büchern ihr Geschäft für die Zukunft abzusichern. Vorige Woche scheint die entscheidende Wende passiert zu sein. Der amerikanische Verlegerverband AAP hat sich mit Google geeinigt. Verlage können ihre eingescannten Titel aus Googles Katalogen entfernen. Bücher, die aber im Verzeichnis bleiben, werden über Google durchsuchbar, können zu maximal 20 Prozent angezeigt und - nun freilich über Googles Play Shop - auch gekauft werden. Verlage und Autoren sind am Erlös beteiligt. Am wichtigsten: Dies öffnet die Schleusen für die digitale Freigabe von Millionen von Ebook-Titeln in den nächsten Jahren. Die Verlage hinken mit der Erstellung breiter digitaler Angebote hinten nach oder, wie der französische Gigant Hachette schon 2011 in einem Vergleich mit Google entschied, lassen ihre alten Titel, die Backlist, gleich von Google systematisch für das Web aufbereiten.

Für die entscheidende Gruppe der stärksten Buchkäufer und Leser klingt dies ein wenig wie die Rückkehr in ein Bücherparadies, in dem mehr und mehr Bücher am Smartphone, am Tablet, auf Reisen, bei Bedarf auf Knopfdruck (legal!) verfügbar werden. Wäre da nicht das Problem des Preises. Die Verlage bemühen sich mit Vehemenz, den Verkaufspreis von Ebooks an jenem der gebundenen Ausgabe zu orientieren, mit einem möglichst geringen Abschlag - derzeit sind dies rund 20 Prozent.

In einem Web-Umfeld, wo Apps und Download Angebote von Musik oder Filmen deutlich unter 10 Euro liegen, wird dieses Niveau auf lange Sicht schwer zu halten sein. Dies aber bedeutet für das Buchgewerbe - für Verlage und Buchhandel -, dass die Geschäftsbasis für die tragende Säule der 70 Prozent Marktumsatz kaum zu stabilisieren sein wird. Wenn Ebooks deutlich billiger werden und gerade die Zielgruppe der wichtigsten Buchkäufer so rasch wie prognostiziert zu elektronischen Lesegeräten wechselt, ergibt sich daraus ein echtes Problem.

Die nächste - sehr ernsthafte - Etappe in dieser Auseinandersetzung zeichnet sich schon für die nächsten Monate, mit Blick auf das Weihnachtsgeschäft 2012, mehr als deutlich ab.

Rüdiger Wischenbart

Auf der Frankfurter Buchmesse gibt es dazu ein von Rüdiger Wischenbart geleitetes Podiumsgespräch mit Vertretern mehrerer der wichtigsten internationalen Kontrahenten, Barnes & Noble, Fnac, Google, IndiaPlaza, und Kobo, am Mittwoch, 10. Oktober 2012, von 14:30 bis 16:00, Halle 4.2, Raum Dimension. Mehr hier.