Vorgeblättert

Leseprobe zu Siegfried Jägendorf: Das Wunder von Moghilev. Teil 3

20.08.2009.
ARON HIRT-MANHEIMER
KOMMENTAR ZU TEIL I
HERBST 1941



     Rumänien trat im Juli 1941 als Bündnispartner der Deutschen in den Zweiten Weltkrieg ein. Sie beteiligten sich an dem Überraschungsangriff auf die Sowjetunion unter dem Geheimnamen "Operation Barbarossa". Innerhalb von Wochen eroberten die Deutschen und die Rumänen die "verlorenen Provinzen" Bessarabien und die nördliche Bukowina zurück [welche die Sowjetunion im Sommer zuvor annektiert hatte] und besetzten einen großen Teil der sowjetischen Ukraine. Während die faschistischen Armeen sowjetisches Gebiet überrollten, wurden sie von Spezialeinheiten begleitet, deren Aufgabe es war, alle jüdischen Zivilisten, Polit-Kommissare und Kommunisten, die sie ausfindig machen konnten, zu liquidieren. Den deutschen mobilen Todeskommandos, den "Einsatzgruppen", entsprach eine ähnliche rumänische Organisation; die Spezial-Einheiten. Beide konnten auf örtliche Informanten und Kollaborateure bauen. Gab es in der Umgebung keine Felsen oder Schluchten, zwangen die Todeskommandos die Opfer, ihre eigenen Gräber zu graben, sich nackt auszuziehen und an den Rand zu stellen. Die Erschießungen dauerten so lange, bis die Stadt oder das Dorf für "judenrein" erklärt wurden. Den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen zufolge hatten die Einsatzgruppen den Befehl, die Juden "ohne Mitleid, Tränen oder Gewissensbisse zu liquidieren". Frauen sollten zusammen mit den Männern ermordet werden, die Kinder mussten umgebracht werden, weil sie sonst als Gegner des Nationalsozialismus aufwüchsen und der Wunsch genährt würde, sich an den Mördern ihrer Eltern zu rächen.
     Die Todesschützen der Einsatzgruppen ermordeten über 1,25 Millionen russische Juden. Rumänische Sicherheitskräfte, Truppen der Armee, Gendarmerie, Polizei und die Zivilverwaltung beteiligten sich eifrigst an den Morden und wurden zu Hauptakteuren bei der Vernichtung von mindestens 250 000 Juden im Alten Königreich Rumänien, in Bessarabien, in der Bukowina und der Ukraine. Der Historiker Raul Hilberg sagte über Rumänien: "Kein Land außer Deutschland war an der Vernichtung der Juden in solchem Maße beteiligt wie Rumänien."

     Der Krieg hatte schon zwei Jahre lang in Europa gewütet, bevor er Siegfried Jägendorf und die Radautzer Juden im Oktober 1941 erreichte. Die Deutschen hatten bereits Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Griechenland und Jugoslawien überrollt und erobert. Die verbündeten deutschen und rumänischen Truppen hatten nur Wochen gebraucht, um die sowjetischen Stellungen in Bessarabien, in der nördlichen Bukowina und der südlichen Ukraine einzunehmen.
     Im Laufe der Geschichte hatten die Juden eine wichtige Rolle im Wirtschafts- und Kulturleben der Stadt Radautz gespielt. In diese Handelsstadt waren sie Ende des 18. Jahrhunderts aus Böhmen und später aus Galizien und Rußland gekommen. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen waren die Juden von Radautz Teil des religiösen und politischen Ferments, das überall in der Bukowina existierte mit Zionisten, Sozialisten, Chasidim und anderen Fraktionen, die leidenschaftlich völlig gegensätzliche Vorstellungen über die Zukunft der Juden vertraten. Die offizielle jüdische Administration, die Gemeinde, unterhielt Kontakte mit der rumänischen Regierung und mit der Union der Jüdischen Gemeinden in Bukarest, deren Vorsitzender seit 1923 Dr. Wilhelm Filderman war.
     Während der Monate, die dem Deportationserlass vorausgingen, war die jüdische Gemeindeleitung von Radautz plötzlich verantwortlich für mehrere tausend Juden, die aus nahegelegenen Dörfern vertrieben und in der Stadt konzentriert wurden, um dort vom rumänischen Militär und von Zivilbehörden als Zwangsarbeiter ausgebeutet zu werden. Siegfried Jägendorf, der keinerlei Erfahrung in politischer oder jüdischer Gemeindearbeit hatte, bot sich an, ein jüdisches Arbeitsamt in Radautz aufzubauen, um so die brutalen und wahllosen Verhaftungen durch die örtliche Polizei und Gendarmerie zu verhindern. Um die Familien zusammenzuhalten und die Zwangsarbeiter vor dem Abtransport in weit entfernte Lager zu bewahren, überzeugte Jägendorf die rumänischen Behörden, dass es in ihrem ureigensten Interesse sei, von dieser kostenlosen Arbeit lieber selbst zu profitieren als sie an weit entfernte Orte zu verlagern.
     Dieser Erfolg bewies Jägendorfs Geschick, mit den Rumänen zu verhandeln. Der gescheiterte Geschäftsmann zeigte seine Führungskraft in der Jüdischen Gemeinde und wurde bald zum Rivalen des Gemeindevorsitzenden Isidor (Eisig) Pressner. Nur zwei Wochen vor den Deportationen sandte Jägendorf Geburtstagsgrüße im Namen der Radautzer Gemeinde und unterzeichnete mit seinem Namen über dem Titel "Amtierender Vorsitzender".
     Der Deportationserlass traf die annähernd 6500 Juden aus Radautz [ungefähr ein Drittel der gesamten Stadtbevölkerung] völlig überraschend, denn die südliche Bukowina war nie unter sowjetischer Herrschaft gewesen und war kein Kriegsgebiet. Trotzdem hatte Antonescu seine Wut an der gesamten Bukowina ausgelassen und die Vertreibung der Juden mit Ausnahme weniger, die "unersetzlich" waren, aus der Provinz angeordnet. In Radautz zum Beispiel befanden sich der einzige Gynäkologe und der einzige Zahnarzt unter diesen Ausnahmen.
     Kurz nachdem der Deportationserlass verkündet war, rang der Vorsitzende der Gemeinde Pressner dem Präfekten von Radautz zwei Zugeständnisse ab: jeder Jude durfte 2000 Lei (10 Dollar) mitnehmen und soviel Gepäck, wie er tragen konnte (ohne Gewichtsbegrenzung). Jägendorf erreichte, dass den Deportierten humane Reisebedingungen zugesichert wurden, aber nach Aussagen von Adalbert Regenstreif, seinem Neffen, wurden diese nur ihm, seinen Verwandten und einigen der bekanntesten Juden der Stadt gewährt. Diese "Privilegierten" machten die zweitägige Reise nach Transnistrien in einem vergleichsweise weniger überfüllten Viehwaggon.
     Die vier Transportzüge aus Radautz wurden in Lipcani, Bessarabien, getrennt und in jeweils andere Richtungen geschickt: zwei Züge nach Moghilev-Podolski über Atachi und die zwei anderen nach Bersad in der Nähe des Flusses Bug, der östlichen Grenze Transnistriens. Die Deportierten hatten keinerlei Informationen, wohin die Fahrt ging. Erst als sie das Ufer des Dnjestr erreichten, der die Grenze zur Ukraine bildet, erkannten sie das ganze Ausmaß ihrer Tragödie.
     Dr. Meyer Teich, Vorsitzender der Juden aus Suceava, der später Jägendorfs Angebot, die Gemeinde in Moghilev zu leiten, abgelehnt hatte, hielt die Szenen an der Grenze fest: "Wir kamen in Atachi an, oder genauer dort, wo es einst existierte? In Folge der Bombardements waren alle Häuser niedergebrannt oder nur noch Ruinen. Durchlöcherte Wände, hier und da ein Dach oder Teile eines Dachs, Blut und Dreck, überall Spuren des Pogroms, durch den die ganze jüdische Gemeinde des Ortes vernichtet wurde; überall auf den Straßen, den Plätzen, in den Kellern Tote. Auf manchen Wänden stand geschrieben: ?Wer hierher kommt, möge ein Kaddish [Totengebet] sprechen? oder ?Wir starben für Kiddush Hashem? [Verehrung des Namen Gottes] oder ?Hier wurde ? mit seiner ganzen Familie ermordet.?
     Die Schwerkranken sowie die Alten ohne Familie wurden in einem Haus ohne Türen und Fenster untergebracht, immerhin war der Boden trocken und es hatte ein unbeschädigtes Dach. Nach der Dämmerung ging ich zu meiner Tante, Golda Breiner, einer 87-jährigen? Neben ihr auf dem Fußboden lag ihr Ehemann Shaye Langer, über 90, einer der geachtetsten Geschäftsleute der Bukowina, der sich immer noch damit rühmte, dass er einer der Delegierten des Ersten Zionistischen Kongresses in Basel war? Seine Frau flüsterte ihm zu, dass ich da sei, und er bat mich, näher zu kommen. Er ergriff meine Hand und hielt sie lange geschlossen mit seinen zittrigen Fingern. Eine Weile konnte er nicht sprechen, die Tränen erstickten seine Stimme; dann fasste er sich und sagte: ?Lieber Doktor, wie ist es möglich, mich aus Suceava fortzubringen? Ich wurde dort vor 90 Jahren geboren. Ich habe dort gelebt und gearbeitet. Ich habe das Geschäft meines Vaters übernommen und habe es 60 Jahre lang geführt. Ich war kaiserlicher Rat, Stadtrat, Leiter der Gemeinde. Ich habe gegen niemanden gekämpft, ich wurde von allen geschätzt und geehrt. Versprechen Sie mir, einen Bericht an alle maßgeblichen Behörden zu schicken und ihnen mitzuteilen, was ich gesagt habe. Bitten Sie darum, uns zurückkehren zu lassen, mich und meine Frau, denn wir beide sind alt. In Suceava haben wir schon unsere Gräber. Man sollte uns erlauben, dort zu sterben?? Innerhalb einer Stunde verschied er. Ich begrub ihn am Ufer des Dnjestr?"
     Die Deportierten aus der südlichen Bukowina kamen im Vergleich mit jenen aus Bessarabien, die zu Fuß gehen mußten, in relativ guter Verfassung an. Dr. Teich erinnerte sich an einen Konvoi von bessarabischen Juden, die aus dem Konzentrationslager Edineti kamen und durch Atachi zogen: "Niemals werde ich diese Szene vergessen. Sie sind keine menschlichen Wesen mehr. Hungrig, in Lumpen gekleidet, schleppen sie sich vorwärts, zittern, stöhnen, schreien auf. Tief in ihren Augen sitzt die Todesangst wie in den Augen gejagter Tiere, die inmitten pfeifender Kugeln vor einer Meute Hunde fliehen. Diese Herde geschlagener Menschen ? marschiert mit gleichmäßigem, fast automatischem Schritt. Die Bestien erlauben keine Pause, treiben sie vorwärts in Richtung Dnjestr, zum Floß, ins Inferno. Wir umringen sie, und im Bruchteil einer Sekunde der Verwirrung gelingt es uns, ihnen etwas Brot und Kleidung in die Hände gleiten zu lassen. Wir verstecken einige von ihnen in unseren Reihen. Die Soldaten durchbrechen schnell unseren Kordon, und zum ersten Mal höre ich: 'Wer zurückbleibt, wird erschossen!' Ich sollte dies noch allzu oft hören."
     Wie im Rausch plünderte die rumänische Grenzpolizei in Atachi die Deportierten aus, voller Habgier und ohne Gnade.
     In einer Ermittlungsakte gegen Leutnant Augustin Rosca vom Polizeizug 60, der dem Generalkommando der Gendarmerie unterstand, wird Folgendes berichtet: "Seine Frau, eine Lehrerin, fährt häufig nach Atachi und kommt ? mit schweren Koffern zurück? Leutnant Rosca hat Wertgegenstände von Juden an sich genommen, ohne sie aufzulisten oder Quittungen auszustellen, er hat einfach alles in die eigenen Taschen gesteckt. Dasselbe gilt für die anderen Zugführer? Wir wissen, dass er kiloweise Gold von Juden an sich genommen hat, ebenso wie Geld und andere Wertgegenstände. Er hat sogar ihre Koffer behalten und sie in einem Lager deponiert.
     Die Juden konnten nur mitnehmen, was sie auf der Haut trugen, jedoch kein Geld? Ein Laib Brot verkaufte man an Juden für 500 Lei [2,50 Dollar], eine Scheibe Brot für 100 [50 Cent] und einen Krug Milch für 600 [3 Dollar].
     Nach Auskunft der Postbediensteten von Atachi haben die Zugführer der Polizei ganze Geldpakete nach Hause geschickt? Alle Offiziere haben wertvolle Gegenstände in ihren Wohnungen.
     Es wird bezeugt, Leutnant Rosca hätte gesagt, er würde bei Kriegsende seinen Dienst quittieren, weil er genug Geld zum Leben habe."
     Isidor Pressner, Vorsitzender der Radautzer Gemeinde, gelang es, einen Notruf aus Atachi an Dr. Filderman in Bukarest zu schicken: "Sie haben sicherlich die Nachricht erhalten, dass wir alle am 14. Oktober hierher transportiert wurden, um über den Dnjestr gesetzt und irgendwohin in die Ukraine gebracht zu werden - ohne Ziel, ohne zu wissen, wohin? Die meisten bleiben unter freiem Himmel in Regen und Kälte? Hunderte sind schon gestorben; viele verrückt geworden; andere haben Selbstmord begangen? Eines ist sicher, wenn wir nicht sofort Hilfe erhalten, wird keiner dieses Desaster überleben."
     Dr. Meyer Teich aus Suceava berichtete, dass er und andere jüdische Verantwortliche aus verschiedenen Gemeinden der südlichen Bukowina sich in Atachi zusammenfanden und über die weitere Strategie berieten. Die Gruppe bestand aus Dr. Jonas Kessler aus Vatra Dornei, Dr. Josef Schauer aus Campulung, Feiwel Laufer aus Gura-Homora, Jägendorf und Pressler aus Radautz.
     Teich erzählte: "Wir hielten einen detaillierten Bericht in Händen über die Verhältnisse jenseits des Dnjestr: Die Leute werden auf den Fähren ausgeraubt und oft über Bord geworfen. Wenn sie das andere Ufer erreichen, werden sie in ein zerfallenes Gebäude, genannt 'das Casino', gebracht und willkürlich in Gruppen eingeteilt ohne Rücksicht auf die Familienzusammengehörigkeit. Diese Gruppen müssen nach Norden marschieren. Ihre Bewacher schlagen sie auf dem Weg zusammen und rauben sie aus. Manche erreichen Ozarineti, Copaigorod und Bar, doch sie finden dort weder Nahrungsmittel noch Unterkunft. In Atachi bekommt man für 1 Rubel 40 Lei; auf der anderen Seite des Flusses nur 6 bis 8 Lei. In Moghilev erleiden die ansässigen Juden große Not, und man kann von ihnen keine Hilfe erwarten."
     Laut Teich nahm Dr. Jonas Kessler zu dem Bericht Stellung und rief als einzig ehrenhafte Lösung in der hoffnungslosen Situation zu aktivem Widerstand auf. Die meisten widersprachen Kesslers Meinung. In Teich?s Worten: "Ohne Waffen und mit einer riesigen Zahl desorientierter und mutloser Menschen, die sich unserer Revolte nicht anschließen würden, könnten wir dem Gegner nicht die geringste Achtung einflößen. Das Ende wäre, dass die Anführer vor ein Erschießungskommando gestellt und die Deportierten dann ohne ihre Führung unter Qualen sterben würden."
     Teich berichtete, dass die Leiter der jüdischen Gemeinde von Atachi eine große Summe Geldes und eine Menge wertvoller Gegenstände von einigen wohlhabenden Deportierten gesammelt hatten, und unter strikter Geheimhaltung brachten sie das Vermögen sicher über den Dnjestr. Die Verantwortlichen verlangten dafür eine Belohnung, die zwischen zwei und zehn Prozent betrug, insgesamt waren das 3,5 Millionen Lei (17500 Dollar). Dieses Geld bildete den Grundstock für einen gemeinschaftlichen Hilfsfonds, der von einem fünfköpfigen Komitee verwaltet wurde. Teich gab darüber keine weiteren Einzelheiten bekannt.
     Siegfried Jägendorf hatte anscheinend schon vor seiner Ankunft in Moghilev unter den Deportierten den Status eines Hauptverantwortlichen erhalten. Bei dem Treffen der Gemeindevorstände in Atachi hatte er im vorhinein erfahren, welche Zustände ihn in Transnistrien erwarten würden, und wahrscheinlich hatte er auch Zugang zu dem 3,5-Millionen-Lei-Hilfsfonds.

Mit freundlicher Genehmigung des TRANSIT Buchverlages

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