Post aus New York

Der Lübke-Effekt

Von Ute Thon
03.11.2000. George W. Bushs Versprecher haben in den USA eine große Resignanz. Al Gore leidet dagegen unter allzu großer Intelligenz.
Nur noch sechs Tage bis zur Wahl, und die Amerikaner können sich immer noch nicht recht entscheiden, ob sie nun einen klugen oder dummen nächsten Präsidenten haben wollen. Seit Monaten bombardieren die US-Medien die Leute mit Berichten über George W. Bushs intellektuellen Unzulänglichkeiten. Der republikanische Regierungskandidat demonstriert bei öffentlichen Auftritten nicht nur Unkenntnis in der Sache, sondern liefert regelmässig peinliche Versprecher, grammatische Fehler und falsche Betonungen. In einer häufig zitierten Rede verwendete er zweimal das Phantasiewort "resignate" ("issues that resignate in the American People") anstatt "resonate" für (Resonanz finden). Auf einer Pressekonferenz stotterte er von "subliminable", wo es korrekt "subliminal" (unterschwellig) heißen müsste. Er korrigiert sich nicht, wenn er "our true values is faith" sagt. In einem College in Seattle irritierte er das Publikum mit dem kryptischen Satz "Wenn man nicht für etwas steht, dann steht man für nichts." In Portland erklärte er der Menge im emphatischen Ton: "Nie wieder will ich in den Hallen Washingtons Erklärungen abgeben, die ich nicht erklären kann."

Wegen der vielen verbalen Ausrutscher liest Bush seine Reden jetzt meist nur noch vom Teleprompter ab, und seine Berater schirmen ihn hermetisch vor Ad-Hoc-Interviews und überraschenden Reporterfragen ab. Bushs Artikulationsprobleme sind seit langem Dauerthema in den Talkshows von David Letterman bis Jay Leno. Kaberettisten ernten Lacher vom bloßen Zitieren seiner Versprecher. Und dennoch hat die verbale Tolpatschigkeit dem republikanischen Präsidentschaftsanwärter beim Wahlkampf kaum geschadet. In letzten Umfragen liegt der politisch relativ unerfahrene Bush immer noch Kopf an Kopf mit Washington-Veteran Al Gore. Bei vielen Amerikanern ist er sogar gerade wegen seiner Dummheit besonders beliebt. Das Online-Magzin Salon nennt dieses Phänomen "Dumb Chic", Dummie-Schick. Oder zu gut deutsch: der Lübke-Effekt. Er mag ein paar Worte verdrehen und die Namen von ausländischen Staatsmännern vergessen, doch er ist ein liebenswerter Typ, sagt Volkes Stimme. "Was wirklich bemerkenswert ist, ist die Tatsache, dass die Seichtigkeit von Bushs Birne ein Running Joke ist und dass das zu seinem Vorteil wird", schreibt Jake Tapper, Salons Washington-Korrespondent. "Die Witze über Bush, den liebenswerten Dummkopf, lenken aber von einer viel schwerwiegenderen Schwäche ab: seiner Ignoranz in politischen Angelegenheiten, seinen Wahlkampflügen und seiner Rücksichtslosigkeit."

Bush setzt seinen beschränkten geistigen Horizont tatsächlich als Wahlkampfwaffe ein. Bei einem Empfang in New York witzelte er über seinen Politikerkollegen William F. Buckley, der wie er in Yale studiert hat. "Bill hat ein Buch in Yale geschrieben, ich habe eins gelesen." Und zur Entmachtung von Slobodan Milosevic bemerkte er, dass er sich jetzt "einen vielsilbigen Namen weniger" merken müsste. In den Medien erntet er dafür Ohrfeigen. Das Time-Magazin nennt ihn in seiner letzten Ausgabe "den Traum jedes Sprachtherapeuten". Vanity-Fair-Autor Christopher Hitchens geißelte Bush in einer MSNBC-Debatte am Montag als "ungewöhnlich uninteressiert, abnormal unintelligent, fantastisch unkultiviert, außerordentlich ungebildet und offensichtlich auch noch sehr stolz auf all diese Dinge." Bei der Masse der notorisch anti-intellektuellen Amerikaner kommen Bushs kalkulierte "Dumb-and-Dumber"-Witze jedoch an. Politguru Charlie Cook vom National Journal sieht ihn mit dieser Strategie schon auf dem besten Weg ins Weiße Haus. Die Angst, dass Bush Junior die stolze Weltnation als Präsident blamieren könne, sei nicht besonders ausgeprägt, schreibt der Herausgeber des Cook Political Reports. "Bush ist kurz vor Vertragsabschluss."

Al Gores Kampagne leidet dagegen am hohen IQ des demokratischen Vizepräsidenten. Gore ist vielen Wählern zu schlau, zu oberlehrerhaft, zu detailversessen. Wenn er nun auch noch Bushs intellektuelle Unzulänglichkeiten anprangert, dann bringt ihm das keine Sympathie, sondern hilft möglicherweise sogar seinem Gegner. Darum klingt Gore jetzt manchmal selbst ziemlich dumm, zum Beispiel wenn er auf Fragen nach den Fehlern seines Kontrahenten mit schafsköpfigen Höflichkeitsfloskeln antwortet. "Die Vorschläge, die mein Gegner vorschlägt, werfen Fragen zur Weisheit der von ihm vorgeschlagenen Ideen auf", stammelte Gore in einem Fernsehinterview mit NBC. "Doch ich persönlich werde die Qualifikationen meines Gegners nicht beurteilen." Nächsten Mittwoch fällt die Entscheidung. Wenn die Prognosen stimmen, wird Amerika demnächst von einem Mann regiert, der nicht einmal das Wort "unterschwellig" aussprechen kann. Wer hätte gedacht, dass Ronald Reagans Erbe noch zu toppen sei.