Magazinrundschau

Russisches Kriegsschiff, verpiss dich

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
12.04.2022. In der NY Review of Books schreibt die Historikerin Erin Maglaque über die Historikerin Maureen Quilligan und ihr Buch "When Women Ruled the World".  Sie dürfte sich jetzt ärgern. Im New Yorker begutachtet Masha Gessen, das Projekt für ein Mahnmal in Babyn Jar - es wird von Oligarchen finanziert, die ihr Geld in Russland machten. Aber ist es darum falsch? In Osteuropa erzählt Volodymyr Kulyk, warum Osteuropäer es langsam satt haben, zwischen guten und bösen Russen zu unterscheiden. En attendant Nadeau geht mit Yannis Kiurtsakis nach Griechenland.

New York Review of Books (USA), 21.04.2022

In ihrer feministischen Geschichte "When Women Ruled the World" porträtiert Maureen Quilligan die vier Renaissance-Herrscherinnen Maria Tudor, Maria Stuart, Elisabeth I. und Katharina von Medici. Dass Quilligan dabei mit vielen Vorurteilen und Stereotypen aufräumt, findet die britische Historikerin Erin Maglaque sehr lobenswert, aber hier eine insgeheime friedliebende Schwesternschaft zu beschwören, die sich mithilfe wunderbarer Geschenke gegen männliche Intrigen und Kriegsführung behauptete, geht ihr zu weit: "Selbst wenn Frauen eher dem Frieden zuneigten, war dies eine angeborene Tugend ihres Geschlechts oder eine Folge der zeitgenössischen geschlechtsspezifischen Erwartungen an königliche Herrschaft? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Sicherlich wollten die Königinnen als friedliebend wahrgenommen werden; Elisabeth bemühte sich sehr darum, ihren weiblichen Wunsch nach Frieden auszustellen. Am Ende huldigt Quilligan der Königin geradezu, wenn sie schreibt, dass diese die Loyalität ihrer Untertanen durch ihre 'Beständigkeit, durch ihre Tapferkeit, ihre Intelligenz und offen gesagt durch den schönen Vortrag, den Witz, die Einfachheit und Ehrlichkeit von Good Queen Bess sowie den erhebenden Stil ihrer Reden' gewann. Es ist wahr, dass sie wusste, wie man eine ausgezeichnete Rede hält. Dieselbe Good Queen Bess ließ 1569 nach einem Aufstand katholischer Aristokraten, der Grafen von Westmorland und Northumberland, siebenhundert Bürger im Norden töten, obwohl die Grafen keine Unterstützung in der Bevölkerung erhalten hatten. Königinnen wie Elisabeth werden in der feministischen Geschichte und Populärkultur verehrt, weil sie Macht besaßen, ein seltenes weibliches Gut. Aber Macht hat ihre eigene Geschichte. Die vom liberalen Feminismus des 21. Jahrhunderts geliebte Handlungsmacht ist aber nicht dasselbe wie die Souveränität des 16. Jahrhunderts. Die Souveränität, die einem Herrscher durch Geburt verliehen war, wurde ebenso durch Zustimmung wie durch staatlich autorisierte Gewalt aufrechterhalten. Quilligan gibt sich alle Mühe, diese Gewalt wegzuerklären: Die von Elisabeth angeordnete Hinrichtung Maria Stuarts war etwa beklagenswerte Folge der Machtkämpfe von Männern. Die Königinnen glaubten an religiöse Toleranz, es sei denn, sie taten es nicht, und dann waren es die männlichen Figuren der patriarchalischen Reformation, die dafür verantwortlich waren, dass die friedlichen Instinkte der Königinnen gestört wurden. Und doch können wir das Töten nicht wegdiskutieren, denn es war für die Bedeutung von Souveränität in der frühen Neuzeit von grundlegender Bedeutung - selbst wenn Frauen die Haftbefehle unterzeichneten."

New Yorker (USA), 18.04.2022

45 Jahre lang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zensierte die Sowjetunion jede Dokumentation über den Holocaust, und untergrub jeden Versuch, in Babyn Jar ein Denkmal zu setzen für die 34.000 ukrainischen Juden, die dort 1941 innerhalb von zwei Tagen von den Deutschen erschossen worden waren. Gedenkfeiern und Pläne zur Errichtung eines Denkmals gab es erst ab 2016, nachdem der russlandtreue ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt worden war. Der neue Präsident Poroschenko verkündete bald darauf, die vier jüdischen ukrainischen Geschäftsleute Mikhail Fridman, Pavel Fuks, German Khan und Victor Pinchuk würden ein Holocaust-Mahnmal für Babyn Jar finanzieren. Zum künstlerischen Leiter ernannte der Stiftungsrat Ilya Khrzhanovsky, Regisseur des berühmt-berüchtigten "Dau"-Projekts. Um diese Konstellation gab es von Anfang an Streit, berichtet Masha Gessen im New Yorker. Denn alle vier Geschäftsleute hatten ihre Millionen in Russland verdient. Gessen, die das - noch nicht fertig gestellte - Mahnmal 2021 besucht hatte, erzählt, dass "Bekannte in Kiew, denen ich von meinem Plan erzählte, über das Projekt in Babyn Yar zu schreiben, seufzten, die Augen verdrehten oder unbehaglich lachten. Niemand, so schien es, vertraute dem Projekt - zum Teil, weil es privat finanziert wurde, zum Teil, weil es von Khrzhanovsky geleitet wurde, aber vor allem wegen Russland. Der schärfste Gegner des Projekts war Josef Zissels, ein 75-jähriger ehemaliger Dissident und Vorstand der jüdischen Gemeinde der Ukraine. Ich traf ihn im Januar in der Kiew-Mohyla-Akademie, einer der größten und ältesten Universitäten der Ukraine, wo er das Zentrum für jüdische Studien leitet. Sein Haupteinwand gegen das Projekt, so sagte er, rührt von dem Gefühl her, dass Putin und seine imperialen Pläne dahinter stehen. Obwohl alle vier reichen Männer, die das Mahnmal finanzieren, in der Ukraine geborene Juden sind, haben sie von ihren Verbindungen zu Russland profitiert, und drei von ihnen hatten irgendwann einmal einen russischen Pass. 'Das ist hybride Kriegsführung', sagte Zissels. 'Sie versuchen, uns eine Erinnerung unterzuschieben, die nicht unsere Erinnerung ist.' Ich verbrachte viele Tage damit, mit Team-Mitgliedern des Babyn Yar Holocaust Memorial Center zu sprechen und die von ihnen erstellten Materialien zu durchforsten. Gelegentlich stieß ich auf Wissenslücken, vor allem in Bezug auf die sowjetisch-jüdische Geschichte, aber ich konnte keine Anzeichen dafür erkennen, dass das Projekt oder seine Geldgeber eine russlandzentrierte, geschweige denn eine Putin-nahe Darstellung propagieren würden. Nur wenige Mitglieder des Teams waren in Russland ausgebildet worden oder hatten dort längere Zeit gelebt. Khrzhanovsky hatte den Großteil der letzten zwei Jahrzehnte in Charkiw und London verbracht. Fridman sagte mir: 'Ich hatte erwartet, dass wir auf Widerstand stoßen würden, aber ich hätte nie gedacht, dass man uns als Agenten des Kremls bezeichnen würde.' Er wurde in Lwiw geboren. Seine beiden Großmütter stammten aus Kiew und hatten das Glück, die Ukraine 1941 mit ihren Kindern verlassen zu können. Fridmans Urgroßeltern kamen im Holocaust um; auch Fuks, Khan und Pinchuk hatten Verwandte verloren. Mindestens sieben von Khans Familienmitgliedern wurden in Babyn Yar getötet. (Auch Khrzhanovskys Großmutter mütterlicherseits floh 1941 aus der Ukraine.) Sicher, die Geldgeber der Gedenkstätte hatten ihr Geld in Russland verdient - es war ein guter Ort, um Geschäfte zu machen -, aber sie hatten komplizierte Beziehungen zu dem Land. Vor einigen Jahren verzichtete Fuks auf seine russische Staatsbürgerschaft. Ich fragte Zissels, welche Aspekte von Khrzhanovskys Projekt das historische Narrativ des Kremls widerspiegeln. 'Ich kann es nicht beweisen', sagte er. 'Aber ich kann es spüren.' Die Befürchtung, so scheint es, war die Angst vor Ansteckung. Das Problem mit Putins Geschichtsrevisionismus ist nicht nur die zentrale Rolle der Sowjetunion und des sowjetischen militärischen Ruhms, sondern auch, dass sie, wie alle russische Propaganda, absichtlich Chaos sät. Das Ergebnis ist eine gefärbte Geschichtsdarstellung und ein Gefühl des Nihilismus - ein Konsens darüber, dass Gut und Böse ununterscheidbar sind, dass nichts wahr und alles möglich ist. Aus diesem Grund fiel es vielen Ukrainern schwer, einem Projekt zu vertrauen, das von Leuten finanziert wurde, die immer noch in Russland Geschäfte machten."

Weiteres: Wird es den Tories gelingen, die BBC zu demontieren, fragt Sam Knight. Claudia Roth Pierpont sah im Met Museum eine Ausstellung des afroamerikanischen Malers Winslow Homer (1836-1910). Louis Menand denkt darüber nach, wie Geschichtsschreibung Geschichte erst macht. Alex Ross hört den Los Angeles Master Chorale. Amanda Petrusich hört neue Countrymusik von Orville Peck, und Anthony Lane sah Jacques Audiards Film "Wo in Paris die Sonne aufgeht".
Archiv: New Yorker

Novinky.cz (Tschechien), 09.04.2022

Der kroatisch-österreichische Philosoph Boris Buden, Autor unter anderem des Buchs "Zone des Übergangs - Das Ende des Postkommunismus" aus dem Jahr 2009 (mehr hier), beklagt im Gespräch mit Petr Agha die verpasste Chance des Westens nach 1989: Nicht nur der Verlierer des Kalten Krieges, auch der Sieger hätte sich erneuern müssen. Der Zusammenbruch des Warschauer Pakts hätte zu einer neuen globalen Friedenspolitik, zu einer radikalen Politik der Abrüstung führen müssen. "Das, was wir heute Nato-Erweiterung nennen und wovon alle sprechen, ist nur die Folge ... der Unfähigkeit des Westens, den historischen Moment des Wandels zur erkennen. Das gegenwärtige Chaos ist Ergebnis davon." Die westlichen Eliten wünschten sich jetzt, dass irgendwelche Oligarchen oder hohen Beamten einen Putsch gegen Putin anführten und ihn absetzten. "Das Ziel ist die Beseitigung einer Person (…) aber niemand spricht vom System. In Russland herrscht eine parlamentarische Oligarchie. Darin unterscheidet sich die Ukraine nicht wesentlich von Russland. Der Ökonom Thomas Piketty schrieb vor rund zehn Jahren, auch die Vereinigten Staaten seien auf dem Weg zu einer Oligarchie. Die parlamentarische Oligarchie ist nämlich das perfekte System für das Funktionieren des neoliberalen Kapitalismus; und genau deshalb hat Putin so viele Sympathisanten im rechten Flügel der europäischen und internationalen Politik von Bolsonaro bis Le Pen."
Archiv: Novinky.cz

En attendant Nadeau (Frankreich), 09.04.2022

Yannis Kiurtsakis ist offenbar einer der bekanntesten Essayisten Griechenlands. In Frankreich sind einige seiner Bücher übersetzt - in Deutschland scheint er komplett unbekannt zu sein. In Frankreich ist sein Essayband "Le miracle et la tragédie - 1821-2021" erschienen, der im Original zum 200. Jahrestag der griechischen Revolution veröffentlicht worden war. Kiurtsakis redet im Gespräch mit Ulysse Baratin et Feya Dervitsiotis sehr schön über das paradoxe Projekt der griechischen Nation, das eine im europäischen Kontext völlig archaische Kultur mit dem Konnex auf das alte Griechenland ins 19. Jahrhundert katapultierte. Da gab es viele Brüche, etwa zwischen der heidnischen Antike und der christlich orthodoxen Religion: "Unter diesen krassen Diskontinuitäten verbirgt sich jedoch eine Beständigkeit, die auf zwei festen Fundamenten ruht. Zum einen sind es die geografische Lage und Zerklüftung des Landes, die über einen sehr langen Zeitraum nicht nur eine wechselvolle Geschichte, sondern auch eine spezifische Lebensweise geprägt haben, im Rhythmus der Arbeit und des Tages, in den Verhaltensweisen und der Mentalität. Andererseits die griechische Sprache, die nie aufgehört hat, gesprochen zu werden, sich aber dennoch wandelte, um lebendig zu bleiben, und so die Schätze an Bedeutung und menschlicher Weisheit bewahrte, die sich über so viele Generationen angesammelt hatten. Dank dieser Lebendigkeit ist es dieser Sprache beispielsweise gelungen, in der Vorstellung den Kult und die Kultur unseres Volkes, den antiken Polytheismus und den orthodoxen Monotheismus miteinander in Einklang zu bringen - zwei Welten, die sich jahrhundertelang auf theologischer, ideologischer und politischer Ebene erbittert bekämpft haben."

New York Times (USA), 09.04.2022

Das New York Times Magazine macht ein Special über Geld, sehr viel Geld, und immer noch sehr viel mehr Geld. Es geht um die Listen mit den reichsten Milliardären der Welt - und sie werden immer mehr, Forbes zählt weltweit über 2.500. Übrigens kann man das Ranking auch live hier beobachten. An der Spitze steht Elon Musk mit zur Zeit 264 Milliarden Dollar Vermögen. Der reichste Deutsche ist ein gewisser Dieter Schwarz (Lidl & Co. Südfrüchtenhandlung, 46 Milliarden). Dass man viele Milliardäre mit ihrer geballten Macht kaum kennt, ist eines der Probleme mit ihnen. Willy Staley fragt Kerry Dolan, die die Forbes-Liste mit Dutzenden von Kollegen erstellt, was der Alptraum eines Milliardärs, den man nicht dingfest machen kann, für sie ist: "Sie sagte mir, das sei jemand, der in den neunziger Jahren still und leise einen Anteil an einem Unternehmen für, sagen wir, 250 Millionen Dollar verkauft und ihn dann gut investiert hat. Heute könnte ein solcher Mann mit seinem Reichtum tun, was er will: Lastwagenladungen von Nazi-Memorabilien kaufen, versuchen, den Bürgermeister zu überreden, die städtische Kanalisation zu privatisieren, oder vielleicht beides, und Sie würden nichts davon mitbekommen. Und eigentlich hätte er nicht einmal besonders klug mit seinem Geld umgehen müssen. Hätte er 1992 250 Millionen Dollar in einem S.&P.-Tracking-Indexfonds geparkt und es dabei belassen, wäre er heute mehr als 4 Milliarden Dollar wert."

Außerdem im Special: Michael Steinberger porträtiert den Milliardär Nicolas Berggruen, der in Berlin in zwiespältiger Erinnerung ist, nun aber gute Taten in Los Angeles verbringt und fortan von sich behaupten kann, dass die New York Times ihn mit den Medici verglichen hat (am 20 November 2010 notierten wir über ihn: "Auf der letzten Seite (des FAZ-Feuilletons) erzählt der Karstadt-Investor und Milliardär Nicolas Berggruen im Interview mit Ingeborg Harms, wie er durch sein Nicola-Berggruen-Institute Einfluss auf die Politik nehmen will. Als Berater dient ihm unter anderem der deutsche Gasmann Gerhard Schröder.")
Archiv: New York Times

Osteuropa (Deutschland), 08.04.2022

Mit Beginn des Krieges haben sich zwei Dinge grundlegend geändert, schreibt der Minsker Politikwissenschaftler Volodymyr Kulyk. Die eigentlich stets  streitbaren und unzufriedenen Ukrainer haben sich vorbehaltlos hinter Präsident Wolodimir Selenski geschart, und sie sind sich einig im Hass auf alle Russen, der keinen Unterschied macht zwischen dem Regime Wladimir Putins und der Bevölkerung: "Mit einer klaren und lakonischen Formel hat ein Soldat der kleinen Grenztruppe, die die Schlangeninsel im Schwarzen Meer bewachte, diese Haltung am ersten Kriegstag auf den Punkt gebracht. Als er die Forderung der Besatzung eines Schiffes vernahm, sie sollten sich ergeben, antwortete er auf Russisch: 'Russisches Kriegsschiff, verpiss dich!' ... Die westlichen Eliten versuchen, den Ukrainern die 'guten Russen' als angebliche Gefährten im Kampf gegen Putin vorzusetzen, und verurteilen die Verbreitung antirussischer Stimmungen gegen die ach so freiheitsliebende und humanistische russländische Kultur. Viele westliche Kultur- und Bildungseinrichtungen geben nicht nur ukrainischen Künstlern und Wissenschaftlern, die vor Beschuss und Bombardements fliehen, Stipendien, sondern auch allen anderen, die in irgendeiner Weise 'vom Krieg betroffen' sind, vor allem Russen und Belarussen, die entweder keine Lust mehr haben, weiter unter ihren verrohten Diktatoren zu leben, oder einfach den Moment abpassen, um im Westen ein warmes Plätzchen zu finden. Da die ukrainischen Männer das Land während des Krieges nicht verlassen dürfen oder wollen und die Frauen sich um eine neues Zuhause und die soziale Integration der Kinder kümmern müssen, gibt es in vielen der erwähnten Programme deutlich mehr russländische Bewerber als ukrainische."
Archiv: Osteuropa