Efeu - Die Kulturrundschau

Künstlerische Knaller

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30.01.2016. Cees Nooteboom betrachtet für die NZZ Bilder von Hieronymus Bosch und sucht den 21-Jährigen in sich, der sie zum ersten Mal sah. Applaus für Andrea Breths Wiener Inszenierung des Crime-Klassikers "Diese Geschichte von Ihnen" von John Hopkins. Mehr Action fordert die SZ derweil von Matthias Lilienthal in München. Das Kino trauert um den Meister der himmlischen Längen: Jacques Rivette.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2016 finden Sie hier

Kunst


Ausschnitt aus Boschs "Garten der Lüste", Prado

In einem wunderbaren Essay für die NZZ schreibt Cees Nooteboom über Hieronymus Bosch, der in diesem Jahr 500. Todestag hat, seine erste Begegnung mit dem Maler und dessen "Heuwagen" als 21-Jähriger und die Frage, was man sieht, wenn man ein Bild sieht: "Kann ich, ein reichliches halbes Jahrhundert später, noch mit denselben Augen schauen, die in der Zwischenzeit so viele andere Dinge gesehen haben? Oder sehe ich, weil sich meine Art zu schauen verändert hat, jetzt ein anderes Bild? Und falls das für mich gilt, was bedeutet das dann für meine Zeitgenossen? Sehen sie dasselbe Gemälde, das Hieronymus Bosch in seiner Werkstatt sah, nachdem er beschlossen hatte, es sei fertig? Was hat ein Schriftsteller aus dem 21. Jahrhundert mit einem Maler aus der Zeit um 1500 gemein? Sie stammen aus demselben Land, doch würden sie sich noch verstehen, falls sie miteinander sprechen könnten?"

Weitere Artikel: Hans-Joachim Müller betrachtet für die Welt Holbeins neu durchleuchtete Schutzmantelmadonna im Bode-Museum. Teheran begeistert sich für die erstmals seit langer Zeit wieder zugängliche Sammlung moderner Kunst des Museum of Contemporary Arts, berichtet Marina Forti in der taz. Am 5. Februar begeht die taz den hundertsten Geburtstag von Dada mit einer Sonderausgabe, kündigt Brigitte Werneburg an. Jan Feddersen hat aus demselben Anlass Sendungen über Dada aus dem Fernsehprogramm gepickt. Für die taz besucht Susanne Memarnia die auf Kunst der Sinti und Roma spezialisierte Galerie Kai Dikhas in Berlin.

Besprochen werden eine Ausstellung über japanische Fotografie in den 60ern für das Magazin Provoke in der Wiener Albertina (Standard), Pierre Bourdieus kunstsoziologische Studie über Manet (taz).
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Literatur

In seiner Dankesrede zur zur Verleihung des Bremer Literaturpreises, die die Welt veröffentlicht, wird Henning Ahrens politisch: Es geht ihm vor allem gegen Pegida und all die Gruppierungen, die ein im großen und ganzen gut funktionierendes Gesellschaftssystem zerstören möchten. Dabei zieht er einige Parallelen, die sich die rechten Hassprediger nicht so gern hören werden: "Wenn junge Männer Frauen berauben und sexuell belästigen, um sich danach in den Schutz der Gruppe zurückzuziehen, so ist dies einerseits neu. Andererseits lässt sich Ähnliches im Internet beobachten; auch dort wird aus der Deckung von Gruppe und Anonymität heraus Gewalt ausgeübt - verbal zwar, aber oft genug fühlen sich einzelne aufgerufen, die Worte in die Tat umzusetzen."

Für die SZ ist Alex Rühle zum Literaturfestival nach Jaipur in indien gereist, wo er nicht nur über den Sicherheitsaufwand staunt, sondern angesichts des politischen Erfolgs der hindunationalistischen BJP auch darüber, wie sehr "dieses Festival direkt mit dem zentralen Nervensystem des Subkontinents verbunden ist. Es ist fast schon bizarr, wie Dinge, die hier gesagt werden, ins ganze Land ausstrahlen. Am Samstag schaut der homosexuelle Regisseur und Autor Karan Johar aus Mumbai vorbei. Er sagt, er kenne zwei aktuelle indische Witze, beide seien sehr kurz. Der eine gehe so: 'Meinungsfreiheit'. Der andere bestehe auch nur aus einem Wort: 'Demokratie'."

Die Literarische Welt hat einen kleinen Schwerpunkt zu Dada. Stefan Zweifel würdigt die Kunstbewegung zum 100. Geburtstag. Peter von Matt wehrt sich im Interview dagegen, Dada nachträglich eine Sendung unterzuschieben: "Der Nonsens entstand aus der Erfahrung heraus, dass man gar keine ernste Kunst mehr machen kann. Auch Antikriegskunst war ja längst zum Schema erstarrt. Nicht zu unterschätzen ist der genuine Witz der Dadaisten, ein intellektueller Witz mit Frechheit und Lust am Provozieren. Es gab im Cabaret Voltaire aber auch viel Kraut und Rüben. An den ersten Abenden sang der Wirt Seemannslieder, und ein sozialistisch gesinnter Arzt organisierte einen Revoluzzerchor."

Weitere Artikel: Matthias Heine berichtet in der Welt über Streit auf der Comicmesse in Angoulême, wo man den Grand Prix wieder mal an einen alten weißen Mann verliehen hat. Für die FAZ war Carolin Würfel bei den Studioarbeiten von Leonhard Koppelmanns SWR-Hörspielproduktion von John Dos Passos' Roman "Manhattan Transfer". Außerdem bringt die FAZ eine Geschichte von Maxim Ossipow.

Besprochen werden u.a. Norbert Gstreins Roman "In der freien Welt" (Welt), Juan S. Guses Roman "Lärm und Wälder" (NZZ), Orhan Pamuks "Diese Fremdheit in mir" (SZ), Michael Köhlmeiers "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (FR), Abbas Khiders "Ohrfeige" (taz), Cornelia Travniceks "Junge Hunde" (taz) und Cormac McCarthys "Der Feldhüter" (FAZ).

Mehr in Lit21, unserem Metablog zum literarischen Leben im Netz.
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Bühne


Andrea Clausen (Maureen), Nicholas Ofczarek (Johnson) in John Hopkins "Diese Geschichte von Ihnen". Inszenierung: Andrea Breth. Foto: Bernd Uhlig

Was für ein Theatergenuss, schwärmt Hubert Spiegel in der FAZ nach Andrea Breths Wiener Inszenierung von John Hopkins' mehr oder weniger vergessenem Crime-Drama "Diese Geschichte von Ihnen", das in drei Akten, drei Dialogen und über drei Stunden Spielzeit die Geschichte eines Polizisten erzählt, der einen der Vergewaltigung Verdächtigten zu Tode prügelt. Vor allem den vier Schauspielern Andrea Clausen, Nicholas Ofczarek, August Diehl und Roland Koch dankt der Kritiker für diesen intensiven Abend. Und der Regisseurin gelinge obendrein "eine Inszenierung, die wie aus der Zeit gefallen wirkt mit ihrer ruhigen Konzentration auf die Figuren und ihre Konflikte. Das Bühnenbild von Martin Zehetgruber schwelgt zunächst in Birminghamer Barock, aber der Vorgang, den Nicholas Ofraczek zusammen mit Andrea Breth fulminant auf die Bühne bringt, ist zeitlos: Ein Mensch wird gezwungen, sich selbst zu erkennen, und erblickt mehr, als er zu ertragen vermag."

Großes Lob auch von Barbara Villiger Heilig in der NZZ: "Andrea Breth, die große deutsche Regisseurin, zeigt hier, was Theater - im ureigenen Sinn - kann. Und zwar: Vorgänge durchleuchten, Gewissheiten hinterfragen, Abgründe öffnen. Was wissen wir schon von anderen Menschen, was von uns selbst? Die Figuren auf der Bühne führen es vor: kaum etwas. Aber sie lassen uns teilhaben an der unwillentlichen Erforschung ihres Ichs, die statt der Lösung des Falls anderes zutage fördert." Martin Pesl winkt in seiner Nachtkritik unterdessen ab: "Diese Geschichte mit dem als Polizeifilm getarnten Well-Made-Psycho-Kammerspiel auf der großen Bühne ... die geht nicht so recht auf." In einer stark beschreibenden Kritik resümiert Ronald Pohl im Standard: Breths Inszenierung "ist das Geniewerk einer völlig konkurrenzlosen, auf keinerlei 'Sensation' schielenden Choreografin von Leid, Elend und Unverstand". Der Standard hatte vor wenigen Tagen außerdem ein Interview mit Breth zum Stück.

Nach Philippe Quesnes offenbar wenig überraschender Theaterinstallation "Caspar Western Friedrichs" an den Münchner Kammerspielen wird SZ-Kritikerin Christine Dössel langsam ungeduldig mit Matthias Lilienthal: Bislang habe der neue Intendant der Kammerspiele nämlich nicht so recht geliefert: "Es ist Zeit für einen Durchbruch, einen künstlerischen Knaller - etwas, das man lieben oder wenigstens heißen Herzens diskutieren könnte. Etwas, das künstlerisch kühn herausragt aus dem postdramatischen, performativen, multidisziplinären, oft dokumentarisch-pädagogischen Theaterdiskursprogramm der neuen Kammerspiele. ... Bisher aber saß man lauter Enttäuschungen ab."

Besprochen werden außerdem Elisabeth Stöpplers Inszenierung von Nikolai Rimski-Korsakows "Mozart und Salieri" der Staatsoper Berlin (taz, ein Füllsel für die 5-wöchige Abwesenheit Daniel Barenboims, der mit der Kapelle der Staatsoper auf Asientour ist, murrt Manuel Brug in der Welt), Patrick Wengenroths zehnter Autorenklub-Abend an der Schaubühne Berliner (taz), ein dem Kabarettisten Matthias Beltz gewidmeter Abend in Frankfurt (FR), Doris Uhlichs Choreografie "Boom Bodies" im Tanzquartier Wien (Standard) und die Braunschweiger Aufführung von Ferdinand von Schirachs "Terror" (taz).
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Musik

Auf Popmatters führt Chris Gerard durch "Anti", das erste neue Album von Rihanna seit drei Jahren, das zwar ihr persönlichstes, bislang aber auch schlechtestes Album sei: "There's a certain dreary joylessness to it that saps any energy the songs might possess. Rihanna has yet to grasp the trick of convincingly adopting different personas for songs that borrow from other disciplines." Opernkritiker Manuel Brug befindet in der Welt: "Die Frau kann singen, könnte aber noch mehr aus sich herausgehen..."

Sanfte Enttäuschung auch bei Olaf Karnik von der Spex nach dem Durchhören von Ennio Morricones Soundtrack zu Quentin Tarantinos neuem Western "The Hateful Eight": "Nichts hier ist knallig, nichts irritierend und dadurch außergewöhnlich. ... Morricone [ist] erst in seinem Spätwerk tatsächlich ein Funktionalismus gelungen, dem sich der Maestro in seiner goldenen Ära so überaus erfolgreich widersetzt hat."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel porträtiert Hendrik Lehmann Rabih Beaini, einen der Kuratoren der Club Transmediale. Dort spielt heute auch die mit einer selbtgebauten quadrofonischen Trompete arbeitende Art-Punk-Musikerin Liz Allbee ein Konzert, das zu besuchen Franziska Buhre von der taz nur empfehlen kann (hier eine Kostprobe). Edo Reents schreibt in der FAZ zum Tod von Paul Kantner, dem Gitarristen von Jefferson Airplane. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath John Lydon zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Sia (Popmatters), das neue Album von Get Well Soon (Spex), der die Popmusik abseits des globalen Nordens erkundende Reader "Seismographic Sounds" (Jungle World), das neue Album von Bloc Party (Spex, The Quietus), ein Konzert von Mitsuko Uchida in Frankfurt (FR) und ein Konzert von Angel Haze in Berlin (Tagesspiegel), Und auf ZeitOnline stellt Fabian Wolff diverse Popneuveröffentlichungen vor.
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Film

Zum Tod von Jacques Rivette

Jacques Rivette
, der Meister der himmlischen Länge (und der Verschwörung) im Kino, ist tot. Lesen Sie die Nachrufe bitte erst, nachdem Sie "L'amour fou" gesehen haben, vier Stunden aus dem Jahr 1969 (mit englischen Untertiteln!):



"Die Dinge im Fluss zu zeigen, das war die große Kunst Jacques Rivettes", konstatiert Ekkekard Knörer im taz-Nachruf: "Das Leben als Spiel zu inszenieren, als Improvisation, als fortwährende Kollaboration und Konfrontation und Konfabulation zwischen Individuum und Gruppe, aber auch zwischen Regie, Kamera, Darstellerinnen, Buch und dem umgebenden Raum." Und Fritz Göttler in der SZ: "Rivettes Filme bewahren sich ihre Offenheit bis zum Schluss, sie sind wie ein Uhrwerk, dem man beim Laufen zuschaut. Aber die Mechanik kann man nicht erklären, die das Ganze am Laufen hält." Im Tagesspiegel vermisst Jan Schulz-Ojala sein offenes Filmemachen eigentlich schon lange: "Eingeladen wird niemand in seine Filme, aber man darf ohne anzuklopfen hinein und sich in ihnen bewegen lange und frei". Weitere Nachrufe schreiben Serge Kaganski (Les Inrocks), Richard Brody (New Yorker), David Kehr (New York Times) Daniel Kothenschulte (FR), Patrick Straumann (NZZ), Ralph Eue (Welt) und Verena Lueken (FAZ). Beim VoD-Anbieter Fandor sammelt David Hudson weitere internationale Stimmen.

Godard muss sich jetzt recht einsam fühlen, schreibt Jacques Morice bei Télérama. Le Monde sammelt Stimmen (etwa von Rivettes Drehbuchautor Pascal Bonitzer). Und Libération zitiert Claude Chabrol, der 1991 in einem Libé-Interview sagte: "Er erinnerte an die Katze in 'Alice im Wunderland'. Er war ganz klein. Man sah ihn kaum. Er schien nie zu essen. Wenn er lächelte, verschwand er hinter seinen großartigen Zähnen. Das heißt nicht, dass er weniger wild war als die anderen."

Weitere Themen

Eine Retrospektive der Filmarbeiten des Philosophen Guy Debord im Österreichischen Filmmuseum empfiehlt Dennis Vetter im Standard. In der taz spricht Andreas Hartmann mit Verena von Stackelberg vom ambitionierten Berliner Kinoprojekt Wolf, das im Frühjahr öffnen will. Für ZeitOnline haben sich Alexander Büttner und Kai-Oliver Derks mit Kurt Russell getroffen. Auf Artechock denkt Rüdiger Suchsland über den Filmkritiker als Zeitgenosse nach.
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