Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
03.09.2003. Willem Frederik Hermans Roman "Au pair", Vorträge von Margarethe Huber, ein Band über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus und ein Handbuch über Religion in Berlin.
Verunsicherung

Willem Frederik Hermans (1921-1995) war einer der bekanntesten und geschätztesten Autoren der Niederlande. Der Gustav Kiepenheuer Verlag bringt seine Romane jetzt auch auf Deutsch heraus. "Au pair" ist gerade erschienen. In dem 1983-1989 geschriebenen Buch schildert der Autor eine junge Holländerin, die nach dem Abitur nach Paris geht, um dort Kunstgeschichte und Französisch zu studieren. Das Geld verdient sie sich in einer reichen Familie - sie und wir verstehen nicht womit. Die erste Hälfte des Buches wird der Leser mittels der sehr attraktiven Hauptperson in die Geschichte gezogen und gerät so mit Paulina in einen immer komplizierter werdenden Plot, bei dem es um Naziverbrecher, Geldtransporte und niemand versteht, was sonst noch alles geht. So kriminalistisch das Buch passagenweise zu lesen, so spannend es ist - am Ende steht keine Auflösung. Der Erzähler ist kein Hercule Poirot, der in einem Schlussmonolog die Wahrheit zu Tage fördert und fein die Guten von den Bösen trennt. Er hat selbst den Überblick verloren und wir mit ihm.

Das wird aber nur den eingefleischten Krimileser stören. Der hat aber vielleicht unterwegs schon aufgegeben, weil er sich nicht von alkoholisierten Pariser Intellektuellen über Baudelaire hat aufklären lassen wollen oder weil er sich belästigt fühlte von der Zumutung, Kapitel für Kapitel über den Krimkriegzeichner Constantin Guys (1802-1892) aufgeklärt zu werden. Wir anderen aber verschlingen die kunsthistorischen, die literarischen und musikalischen Exkurse. Sie geben uns Halt, vermitteln uns ein Gefühl von Sicherheit in der undurchschaubaren Welt. Paulina geht es nicht anders. Sie weiß nicht, was die verschiedenen Mitglieder ihrer Au-Pair-Familie von ihr wollen. Als sie endlich glaubt es zu wissen, da ist das nur der Beginn neuer, immer schwerer werdender Verunsicherungen. Nichts ist sicher, so scheint Hermans zu sagen, als die karg-konzentrierte Schönheit der Striche des Zeichners Constantin Guys oder die vertrackte Eingängigkeit von Charles Alkans (1813-1888) Saltarelle.

Bei der Heldin Initiation ins Leben erfährt sie, erfahren wir, dass wir lernen müssen, kompasslos in einem undurchschaubaren Nebel uns zurecht zu finden oder gar die Kunst entwickeln, auf das Sich-zurecht-finden zu verzichten. Die Schule hatte uns an Gewissheiten glauben lassen, die Arbeit des Lebens besteht darin, sie zu vernichten. Mal in Gewaltakten, mal schleichend. "Au pair" ist ein Meisterwerk der Verunsicherung. Natürlich auch, was seinen eigenen Status angeht. Alkans nur scheinbar gefällige Salonkunst ist auch Hermans' Verfahren.

Willem Frederik Hermans, Au pair, Roman, Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2003, 495 Seiten, 19,90 Euro ISBN 3-378-00650-1.


Ein Glücksfall

Den Vortrag "Ideal und Revolution", den sie am 18. September 1998 im Ahnensaal des Rastatter Schlosses zum 150 Jahrestag der Badischen Revolution hielt, beschloss Margaretha Huber mit der Erinnerung daran, dass Friedrich Hölderlin in seinem Neujahrsbrief 1799 an seinen Bruder davon sprach, eine neue gerechte Welt zu erbauen durch eine Revolution "mit aller Schärfe und Zartheit." Das ist ihr, man merkt es bald, Ideal. Margaretha Huber ist eine Philosophin. Eine Liebhaberin der Weisheit also. Sie mag das Zarte, sie hülfe ihm in seiner Schwachheit gerne auf. Dazu bedarf es der Schärfe. Einmal, um klar sehen zu können, wie die Lage wirklich ist und dann um wegzuätzen, was dem Zarten im Wege ist. Margaretha Huber weiß aber auch, dass Schärfe und Zartheit die Plätze tauschen können, dass es ganz unwahrscheinlich ist, dass das Zarte an der Macht zart bleibt. Sie kennt und bedenkt die Schwierigkeiten, die Dialektik der Verhältnisse.

Vor allem aber prägt das Verhältnis von Schärfe und Zartheit ihren Stil. Ganz ruhig und beiläufig beginnen ihre Reflexionen, plötzlich aber bemerkt der Leser, dass er, ohne sich darüber klar geworden zu sein, geschweige denn, dass ein erhobener Zeigefinger der Philosophin ihn darauf hingewiesen hätte, ins Prinzipielle geraten ist. Bald darauf geht es höchst aktuell um die Beweggründe politischer Gewalt und wenige Zeilen später spinnt sie wieder den Leser ein in einem märchenhaften Zaubertone. Es gibt keinen Autor, der heute so schreibt wie Margaretha Huber. Sie ist einzigartig. Das ist noch kein Qualitätsurteil. Es ist einfach die Wahrheit. Die für die Autorin möglicherweise traurige Wahrheit. Dass ihre Stimme nicht gehört wird, liegt an dieser Einzigartigkeit. Es mag einsame Stimmen geben, die gehört werden, weil sie aus dem Unisono ihrer Umgebung herausfallen. Margaretha Hubers Stimme aber wird vom Unisono, das ja - seien wir gerecht - keines ist, sondern nur im Gegensatz zu ihr als solches einem vorkommen kann, übertönt.

Wer einen wissenschaftlichen Vortrag mit "Ich möchte etwas erzählen" beginnt, macht sich schon verdächtig; wer dann aber diese Erzählung immer wieder mit Beobachtungen und Reflexionen unterbricht, der vertreibt auch den Zuhörer, der sich darüber gefreut hatte, Philosophie wie vor ein paar Jahrtausenden oder wie bei Fritz Mauthner erzählt zu bekommen. Es sei denn, dieser Zuhörer hört wirklich zu und folgt der Philosophin bei ihrem Gang durch den Petersdom und durch ihre Gedanken. Dann genießt er die Abschweifungen, weil er begreift, wie sie dazu gehören, wie sie erst ihres und seines, ja das Denken beleben. Der Leser, der sich in einen Zuhörer verwandelt hat, findet sich nicht im Text, sondern in den Gedanken, im Denken wieder. Das ist ein seltener Glücksfall. Ihn verdanken wir Margaretha Huber.

Margaretha Huber, Bewegte Gegensätze - Gesammelte Vorträge 1, Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Main und Basel, 2002, 92 Seiten, 10 Euro. ISBN 3-87877-819-8.


Kaufhausbrand

Ein unangenehmes Buch. Es herrscht ein komplizenhaftes Einverständnis zwischen den Autoren und dem vermuteten Leser darüber, dass der bundesrepublikanische Terrorismus der 70er Jahre mehr eine Tat jugendlichen Überschwangs als eine Kette von Verbrechen war. Thorwald Proll, Jahrgang 1941, "Kaufhausbrandstifter" von 1968 und ehemaliger Weggefährte und enger Freund von Andreas Baader und Gudrun Ensslin, antwortet auf Fragen des 1942 geborenen Journalisten Daniel Dubbe. Seite um Seite geht für den Versuch der beiden drauf, Stefan Austs Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" schlecht zu reden. In den meisten Fällen gelingt das freilich nicht, weil Thorwald Proll ehrlich genug ist zuzugeben, sich nicht mehr so genau zu erinnern. Proll wird auch für den, der keine Ahnung hat, ein kaum glaubwürdigen Zeuge sein. Selbst seinem Interviewer Dubbe dämmert das bald. Er fragt zum Beispiel: "Habt Ihr Drogen genommen? Und welche?" Proll antwortet darauf: "Wir haben nie Drogen genommen." Dubbe glaubt das nicht und fragt noch einmal nach, Proll relativiert dann: "Also, ich denke, wir haben keine Drogen genommen." So geht das das ganze Buch durch.

Wer im April 1968 in Frankfurt/Main war, wer in den einschlägigen Milieus sich bewegte, der weiß, dass man wusste, dass aus Berlin ein paar Leute eingereist waren, die einen Kaufhausbrand vor hatten. Die Brandstifter waren viel zu begeistert von sich und ihrer Avantgarderolle, um sich in Klandestinität ein zu üben. Auch nicht nach der Tat. Dubbe fragt: "Bei Aust steht: 'Alles wurde brühwarm im Club Voltaire erzählt.' Ist das richtig?" Prolls Antwort: "An den Club Voltaire kann ich mich erinnern, und dass wir ziemlich daneben waren. Ich persönlich habe nichts erzählt, aber Mann oder Frau, also das Publikum, die anderen Linken, die haben es uns wahrscheinlich angesehen, das etwas Besonderes passiert war. Wir wirkten wahrscheinlich irgendwie fokussiert. Klar war, dass irgend etwas geschehen war, was größer war, als es sich vielleicht zunächst in Worte fassen lässt. Aber brühwarm, abgebrannt-brühwarm: Ich nicht! Not me! Nicht von mir." Also er hat nichts gesagt, aber die anderen haben es ihm angesehen. Eine sehr überzeugende Antwort. Das Schlimme an dieser Art zu reden, ist nicht, dass er lügt, sondern dass er sich glaubt darauf verlassen zu können, dass es noch immer ein Milieu gibt, das lieber offenkundigen Blödsinn schluckt, als von seinen Glaubenssätzen abzurücken.

Warum kann Proll nicht sagen: "Ich war damals ein 27jähriger Mann, der nichts auf die Beine brachte, der nicht wusste, ob er Theater, Literatur, Kunst, Politik, action oder alles auf einmal machen sollte, der vor allem nicht wusste, ob er irgendetwas davon konnte. So waren wir alle damals und wir wollten so sein. Wir wollten uns nicht festlegen, wir wollten frei sein, und so sind einige von uns in die schlimmste Unfreiheit hineingeschliddert, und als sie es merkten, da hatten sie vier, fünf Leute oder mehr umgebracht für eine Revolution, an die sie im Ernste nicht glaubten und niemals geglaubt hatten." Vielleicht war es anders. Aber ganz sicher war es nichts, über das sich heute noch immer kein einziges kritisches Wort sagen ließe. Aber einzig und allein darum geht es Proll und Dubbe. Man lese nur die letzten Sätze des dankenswerter Weise beigefügten Schlusswortes im Frankfurter Kaufhausbrandprozess - und schon hat man das Pathos, die Aggression, die Dummheit und die Verwechslung von Mummenschanz und Politik von ྀ: "Wir fordern die Abschaffung der richterlichen Autonomie, weil sie zur Macht verleitet und zur Herrschaft des Menschen über den Menschen. Wir fordern die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Proletarier aller Länder vereinigt euch! Venceremos." Die maßlose Selbstüberschätzung von damals findet sich schon im Titel des Buches wieder.

Thorwald Proll, Daniel Dubbe: Wir kamen vom anderen Stern - Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus, Edition Nautilus, Hamburg 2003, 126 Seiten, mit s/w Fotos, 9,90 Euro ISBN 3-89401-420-2.


Nötige Zumutungen

Kein Buch zum Lesen, sondern ein Buch, in dem man etwas nachschlägt, an etwas anderem hängen bleibt und dann auf wieder etwas anderes kommt; und nach einer Stunde legt man das Buch aus der Hand und hat vergessen, wonach man suchte. "Religion in Berlin" heißt es. Nils Grübel und Stefan Rademacher haben es herausgebracht. Berliner Religionswissenschaftler haben über die mehr als 360 religiösen Gemeinschaften der Stadt zusammengetragen, was sie konnten, haben mit den Betroffenen darüber gesprochen und am Ende kleine Artikel verfasst, die das Selbstbild der Sprecher der Gemeinden möglichst nicht verletzen. Eine heikle Aufgabe und immer wieder auch eine Zumutung für den Leser, der ja keinesfalls auf Äquidistanz zu - zum Beispiel - der Jüdischen Gemeinde und zur palästinensischen Hamas hält.

Aber diese Zumutung ist nötig. Sie ist die entscheidende Qualität des Buches. Sie stößt den Leser an die Grenzen seiner Toleranz. Das sind jene Stellen, auf die es ankommt. Es geht erst einmal nicht darum, diese Grenzen in die eine oder andere Richtung zu verschieben, sondern an den Grenzen haben wir die Chance dahinter zu kommen, wie viel Faulheit in unserer Toleranz steckt. Da wo wir nicht mehr einfach nachgeben können, fangen wir an, darüber nachzudenken, wie wir uns auseinander setzen müssen. Hier lernen wir, was wir tun könnten, wenn wir es aufgäben, einfach nur zuzulassen. Diese Überlegungen stellt man an, wenn man zum Beispiel den Artikel über die "Partei der islamischen Befreiung" liest, einer Organisation, die alle Muslime in einem einzigen Kalifatstaat vereinigen will. Dazu hat sie in den 60er und 70er Jahren in einigen muslimischen Ländern Putschversuche unternommen. Heute lehnt sie offiziell den bewaffneten Kampf ab. Sie wurde in der Bundesrepublik am 15. Januar 2003 mittels der Anti-Terror-Gesetze verboten. Man bedauert bei der Lektüre, dass es keine O-Töne gibt. Es werden keine Veröffentlichungen zitiert. Es wird fast nichts belegt.

Aber ein Band hätte nicht auch noch Dokumente der Organisationen aufnehmen können. Es gibt allein vierzig verschiedene buddhistische Gemeinschaften in Berlin. Die unterscheiden sich allerdings nicht durch ihre Texte.

Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst des Buches, dass es schon dem oberflächlichsten Leser klarmacht, dass es unmöglich ist, das Religiöse in jedem Fall vom Politischen, vom Sozialen zu trennen. Zum Beispiel die Hamas, die uns aus den Zeitungsmeldungen als palästinensische Kampforganisation ein Begriff ist. Ihr Kampf gegen Israel ist politisch radikal und brutal. Aber er ist nicht zu trennen vom religiösen Eifer ("Hamas") ihrer Anhänger, von der Begeisterung, die wir - wo wir sie nicht mögen - Fanatismus nennen, ohne die keine Religion im Laufe ihrer Geschichte auskommt. Die in Hippiekreisen einst gepflegte und inzwischen auch von Akademiepräsidenten propagierte Vorstellung von einem Buddhismus zum Beispiel, der sich über ganz Asien allein durch Blickesenken und Händefalten ausgebreitet haben soll, ist kenntnis- und ahnungslos zugleich. Grübels und Rademachers Handbuch hilft auch solchen Schwachheiten auf.

Religion in Berlin - Ein Handbuch, ein Projekt der "Berlin-Forschung" der Freien Universität Berlin, mit freundlicher Unterstützung von Radio multikulti (RBB), herausgegeben von Nils Grübel und Stefan Rademacher, Weißensee Verlag, Berlin 2003, 642 Seiten, 32 Euro ISBN 3-89998-003-4.