Post aus Venedig

Die Geister sind noch da

Von Marie Luise Knott
03.06.2011. Was bleibt? Diese Frage stellt sich nicht nur in Schlingensiefs deutschem Pavillon auf der Biennale in Venedig. Sie ist das geheime Motto einer Schau, die sich mit nationalen Mythen- und Bilderwelten befasst.
Im Jahr 2003 hatten sieben Mitglieder von Christoph Schlingensiefs "Church of Fear" sich gleich am Eingang den Biennale-Besuchern in den Weg gestellt. Eine Performance, bei der sieben "Terrorgeschädigte" von ihren Pfahlsitzen herab um die Wette ihre Ängste herausbrüllten - ein klamaukiger und zugleich verstörender Beitrag zu 9/ 11! Schlingensief propagierte damals ein "offenes Angstbündnis". Man sollte die eigenen Ängste annehmen und so die Vorherrschaft der Angst unterminieren, die nur zu Terror und Glaubenskriegen führe. Eine Erweiterung des Beuys'schen Begriffs von der sozialen Plastik. Schlingensief wollte die Welt aufrütteln, sie wachfragen. Nicht stellvertretend agieren, sondern die Betrachter selber mit ihm in Aktion versetzen. Er, der dieses Jahr den Deutschen Pavillon ausgestalten sollte, war immer voller Ideen und nie sich selbst genug.

Den Pavillon konnte Schlingensief nicht mehr gestalten, er starb im August 2010. Seine Ideen, die Fixierung auf die NS-Geschichte zu durchbrechen und ein voll funktionstüchtiges Afrikanisches Wellnesszentrum zu errichten - mit einem Schwarzwasser-Becken, das die Europäer auf Wunsch hätte schwarzfärben sollen - wird wohl Idee bleiben. Man weiß nicht, was ihm im Prozess der Fertigstellung alles eingefallen wäre, doch wer "Via Intoleranza II" gesehen hat, ahnt, welch radikaler Infragestellung der europäischen Hybris und gleichzeitig des Gutmenschentums wir hätten beiwohnen können. Denn darin liegt ja nach wie vor die Erwartung und die Brisanz der nach Nationen aufgeteilten Biennale-Pavillons: Die Künstler werden erwählt und reagieren in ihren Beiträgen auf die explizite Einbettung in nationalen Mythen- und Bilderwelten.

Die Kuratorin, Susanne Gaensheimer, Direktorin des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, will, so sagt sie, den Theatermacher, Film- und Opernregisseur in der Kunstszene verankern. Ob das gelingt? Schlingensiefs posthumer Biennale-Beitrag handelt so noch einmal, wie 2003, von Angst, denn der Mittelraum ist ein Nachbau seines Theaterstücks "Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir", in dem er durch Texte und Bilder seines Krebsleidens hindurch die großen Fragen Geburt, Tod, Leben evoziert hatte. Im linken "Seitenschiff" des Pavillons findet sich das Operndorf "Remdengoo" und im rechten Seitenschiff seine früheren Filme, deren künstlerische Substanz nun, nach seinem Tode, in neuem Lichte erscheint. Die zentrale Pavillon-Installation hat zwar sorgfältig die Kulissen des Theaterstücks rekonstruiert, doch es fehlen die Schauspieler. So ist ein Raum nach der Zeremonie entstanden: Die Geister sind noch da, sie schwirren in den Videos umher. Wer das Schauspiel selbst gesehen hat, dem fehlt jetzt die beinahe orgiastische Zuspitzung. So steht man vor der Frage: "Was bleibt?" oder mit Schlingensiefs Worten: "Sind wir nur der Film eines Wahnsinnigen?"

Viele der Beiträge in den Pavillons der diesjährigen Biennale sind politischer als in früheren Jahren. Es ist das Schicksal solcher Kunstveranstaltungen, sich in zwei Kraftfeldern bewegen zu müssen - den ästhetischen und den inhaltlichen Fragen und Herausforderungen der Zeit. Zyklisch scheint sich die Waage mal in die eine mal in die andere Richtung zu neigen; dieses Jahr dominieren die politischen Statements. Sigalit Landau (1969) zum Beispiel, die den israelischen Pavillon gestaltete, hat ein Kinderspiel am Strand von Ashkelon aufgenommen, das, auch als kleine Studie über Linie und Fläche lesbar, sich am Ort der Darbietung und angesichts der politischen Lage in Israel mit viel Bedeutung auflädt: Gleich an der Grenze zu Gaza, spielen drei Kinder mit einem Messer im Sand barfuß nach festen Regeln "Gebietseroberung" - jeder kommt abwechselnd zum Zug und wem es gelingt, mit des Messers Schneide eine geraden Linie durch das Land des Anderen zu ziehen, kann das abgeschnittene Terrain annektieren.

Doch politische Aufladungen sind nicht immer zuträglich, wie man am amerikanischen Pavillon der beiden Künstler Jennifer Allora (1974) & Guillermo Calzadilla (1971) erkennt. In der Vergangenheit haben sie tönende Bunker, aber auch die Begegnung von zwei Kamelhöckern mit einem Bügelbrett installiert. "Gloria" titeln sie ihre ziemlich geheimnislose Arbeit hier in Venedig. Die Freiheitsstatue liegt in der Sonnenbank wie im Sarg. In den Nebenräumen stehen alte, ausrangierte Flugzeugsitze ehemals erster Klasse, sowie ein in eine Orgel eingelassener Bankomat. Die glorreichen Zeiten des Imperiums sind lange vorbei, geblieben ist das Bild von der gewalttätigen Nation. Vor dem US-Pavillon wird in einer Performance nationaler Ertüchtigungswahn fürs Vaterland ad absurdum geführt. Wie ein hilfloser Käfer liegt dort ein umgedrehter Panzer. Seine Ketten drehen sich quietschend ins Leere. Obenauf rennt ein Sportler im Fitnessdress über ein Laufband, als würde er die Ketten antreiben.

Tatsächlich erzählen die Pavillons immer mehr oder weniger deutlich etwas vom Zustand im Lande. Der ägyptische Pavillon etwa hallt nach von der Gewalt am Tahrirplatz, bei denen auch der Multimediakünstler Ahmed Basiouny (1978) von den Schüssen der Polizei am 28. Januar 2011 ermordet wurde. Seine Performance "30 Days of Running in the Place" inszenierte im Jahr 2010 die Aussichtslosigkeit alles Tuns in einer erstarrten Gesellschaft. Den Videos dieser Arbeit sind im Pavillon Basiounys Filmaufnahmen von den Tagen des Aufruhrs am Tahrirplatz gegenübergestellt. Freiheit ist der Sauerstoff der Kunst.

Im Koreanischen Pavillon dagegen ist das Thema Gewalt zwar augenfällig, aber - für uns Fremde zumindest - nur schwer lesbar. Lee Yongbaek (1969) begrüßt den Ankommenden mit Vogelgezwitscher, doch in der Ferne hört man schon die Schüsse seiner Video-Installation - in einem fiktiven Spiegelsaal zerstören dort Kugeln in regelmäßigen Abständen Spiegel. Zum Vogelgezwitscher im Eingang gehören bunte Blumenbilder und Blumenkleider, deren Harmlosigkeit in einem Video geschickt dekonstruiert wird: Soldaten in Blumendressuniform pirschen nahezu unsichtbar mit Gewehren und Militärstiefeln durch ein Blumenmeer. Der schöne Schein ist eine Tarnung, die westlicher Hilfe bedarf. Die Angst vor einer Explosion der Lage lauert offensichtlich überall.

Der mittlerweile in die Jahre gekommenen Erinnerungskultur hat sich der russische Künstler Andrei Monastyrski (1949), seit den siebziger Jahren Leitfigur der nicht-offiziellen Kunst, widersetzt. Mit einer Großinstallation leerer Gulag-Pritschen ironisiert und unterminiert er im russischen Pavillon gekonnt jede Aufladung - die Leugnung ebenso wie die Sakralisierung - der Orte des Schreckens. "Ich weiß nicht, warum ich immer behauptet habe, dass ich nie hier gewesen bin und nichts davon gewusst habe, dabei ist es hier so wie anderswo, nur sind die Gefühle stärker und das Unverständnis tiefer".




Die überfluteten Häuser der japanischen Zeichnerin Tabaimo (1975) im Pavillon von Japan verstehen sich sicherlich nicht als Reflektionen über die Schrecken des Tsunamis. Sie entführen den Betrachter unmittelbar in die wundersame Welt der Mangas und Animationsfilme. In der Spiegelinstallation "teleco-soup" wachsen grau gezeichneten Häusern wie Rapunzel die Haare herunter, während aus dem Wasser orangene Pilze wie Penisse hervorsteigen, bevor das blaue Nass alles flutet und kurz darauf Fingerbienen emporschweben. Tabaimos märchenhafte Bilder entführen vollständig, so meint man, aus dem Reich des Realen in andere Sinnes-Schichten.




Im polnischen Pavillon verfolgt die israelische Künstlerin Yael Bartana (1970) in dem wohl brisantesten Beitrag der Giardini ihr fiktives Projekt, The Jewish Renaissance Movement in Poland, das sie 2007 mit dem Video Mary Kozmary (Alptraum) begonnen hat. Polen laden Israelis ein, nach Polen zurückzukehren. Subtil unterläuft Bartana die Frage, ob es sich um eine Halluzination, ein Künstlerprojekt oder einen vorgeblich multikulturellen polnischen Wunschtraum handelt. Dadurch, wie sie mit der Kamera endlos lange bei den Darbietungen von Ritualen und symbolischen Handlungen verweilt, werden die kollektiven Mythen aufgeladen. Die Vermengung von polnisch-sozialistischen und israelisch-zionistischen Mythen und Versatzstücken der Propaganda produzieren ein Wechselbad der Gefühle, in dem sich Zugehörigkeiten aufzulösen beginnen. So kann der polnische Jungscharführer der JRMIP, der aus einer FDJ- oder Pfadfinderperformance entsprungen scheint, verkünden, sie, die Polen, wollten nicht länger ein auserwähltes Volk sein. Unter dem Deckmantel einer polnischen Bewegung erstellt Bartana ein genaues Porträt Israels, seiner Ängste und seiner Not. Und so hätte man das formstrenge, subtil vielschichtig gestaltete Werk mit seinem verzweifelten Humor gerne im israelischen Pavillon gesehen.

Morgens, pünktlich um 10 Uhr, bietet sich ab dem zweiten Tag der Biennale-Preview ein besonderes Schauspiel. Die Gatter öffnen sich und die ersten stürzen hinein, nehmen den Kiesweg im Sprint. Der Wunsch, in den Pavillons jeweils einen kleinen Einblick in den Stand der verschiedenen Nationalkulturen zu erhalten, ist von der Frage überlagert: Was muss man dringend gesehen haben? Und dort, wo man hin zu "müssen" meint, wachsen die Schlangen. In diesem Jahr schlägt der britische Pavillon den Schlangenrekord.




Mike Nelsons totale Installation wird ebenso wie der deutsche und der japanische Pavillon als Anwärter für den besten Pavillon gehandelt. Und das hat nicht die schlechtesten Gründe. Denn Nelson (1970, Loughborough), der 2003 in Istanbul in einer alten Karawanserei aus dem 17. Jahrhundert eine Rauminstallation schuf und dabei auf dort vorgefundene Gegenstände zurückgriff, hat Fragmente dieser Installation in Venedig rekonstruiert und so eine vertraute und doch verzaubert fremde Welt geschaffen und einen gemeinsamen osmanisch-europäischen Erinnerungsraum beschworen - mit Spindeln und Webstuhlresten, mit Waschtischen, Stehtoiletten, Kronleuchtern und einem Sammelsurium von anderen abgelegten Gegenständen. Derart totale Installationen sind an sich nichts Neues, doch Mike Nelsons Kunst überzeugt: Es gibt, so könnte man die frohe Botschaft politisch und ästhetisch deuten, eine gemeinsame Vergangenheit und auch und vor allem eine gemeinsame Vergangenheit und Gegenwart von Formen und Bildern. Das ist viel.

Marie-Luise Knott


Alles Fotos: Martin Warnach.