Efeu - Die Kulturrundschau

Schreckensknalleffekte am Abgrundrand

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11.05.2015. Bei der Wahl des neuen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker hofft die Zeit auf ein Ja zur Elite, der Tagesspiegel auf Mut zur Jugend. In der Welt erklärt der neue Cannes-Chef Pierre Lescure, warum er das Festival stärker nach China ausrichten möchte. Matthias Lilienthal macht sich in der taz zum Antritt seiner Intendanz an den Münchner Kammerspielen auf blutige Nasen gefasst. Alle berichten von der Trauerfeier für Günter Grass. Und die SZ erlebt beim Tourauftakt von AC/DC einen Treppenwitz der Pop-Geschichte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2015 finden Sie hier

Musik

Heute wählen die Berliner Philharmoniker Simon Rattles Nachfolger auf dem Posten des Chefdirigenten des Orchesters. Christine Lemke-Matwey schlägt dazu in der Zeit (online nachgereicht) ordentlich schrille Töne an: Dieser Tag werde "die Musikwelt verändern, möglicherweise radikal. ... [Die Philharmoniker haben] bei dieser Wahl die rare Chance, alles anders zu machen. Ja zur Elite! Nein zu noch mehr Markt und Musikvermittlung! Werden sie das wagen?" Crux der späten Online-Veröffentlichung: Mariss Jansons, für den ihr Herz durchaus schlägt, hat gerade erst seinen Vertrag beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks verlängert. Frederik Hanssen vom Tagesspiegel lässt unterdessen erkennen, dass er den jungen Andris Nelsons vorzieht: "Wenn den Philharmonikern der Ruf als innovativstes Orchester des 21. Jahrhunderts lieb ist, sollten sie auf Risiko spielen und einen jungen Maestro wählen."

Beim Tourauftakt von AC/DC lässt sich Jakob Biazza (SZ) von der dargebotenen Skelettierung des Rock-Schemas samt der körperlichen Anstrengungen, die die auch schon nicht mehr ganz jungen Musiker auf sich nehmen, sichtlich in den Bann schlagen: Angus Young "rennt noch immer riesige Strecken. Aber es wirkt manchmal, als führten die ihn durch tiefen Schlamm." Und er beobachtet einen "besonderen Treppenwitz der Pop-Geschichte: Ausgerechnet diese garantiert metaebenenfreie Band ist tatsächlich zur fast metaphysischen Idee geworden." Für die Welt berichtet Michael Pilz.

Weiteres: Die Zeit hat ihr großes Gespräch zwischen Iris Radisch und der Sängerin Juliette Gréco online gestellt. Ueli Bernays (NZZ) berichtet vom 26. Jazzfestival Schaffhausen. Markus Schneider hatte beim Berliner XJazz-Festival viel Freude. Katja Schwemmers (Berliner Zeitung) plaudert mit dem nach Stationen in Berlin und Paris ein Loblied auf Köln singenden Entertainer Chilly Gonzales. Hier dessen aktuelles Video aus seinem neuen Album:



Besprochen werden ein von Mariss Jansons dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), ein Konzert von Dälek in Berlin ("Fump! Fump! Fump!", deklamiert Jens Balzer dazu in der Berliner Zeitung), das neue Album von Roisin Murphy (Berliner Zeitung), zwei Berliner Konzerte zu Ehren des 1990 verstorbenen Komponisten Luigi Nono (taz) und die "triumphale" Aufführung eines neuen Stücks von Olga Neuwirth durch die Wiener Philharmoniker in Köln (FAZ).
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Film

Nach 37 Jahren übernimmt Pierre Lescure in diesem Jahr von Gilles Jacob die Leitung des Filmfestival von Cannes. In der Welt erklärt er Gerhard Midding, auf welche Veränderungen es zu reagieren gilt: "Russland hat momentan ungemein an Gewicht verloren, denn das Autorenkino wird dort nicht mehr unterstützt. China hingegen ist ein boomender Markt. Zwar übt der Staat starke künstlerische und wirtschaftliche Kontrolle aus. Trotzdem kommen enorme künstlerische Impulse von dort. Welch großen Beitrag zum Weltkino etliche Regisseure leisten, wissen Sie in Berlin ebenso gut wie wir in Cannes. Und in China entstehen zur Zeit die meisten Kinosäle. Die Investorengruppe Wanda eröffnet monatlich zwei neue Multiplexe mit Tausenden von Plätzen."

Esther Buss (Jungle World) und David Assmann (Tagesspiegel) empfehlen eine Reihe mit Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilmen im Berliner Kino Arsenal. In der SZ berichtet Hans Schifferle vom 3D-Schwerpunkt der Kurzfilmtage in Oberhausen. Außerdem bringt ZeitOnline eine Strecke mit Bildern von Kinos in Angola. Besprochen werden außerdem Jennifer Kents Horrorfilm "Der Babadook" ("meisterlich", jubelt Daniel Kothenschulte in der FR) und Margarethe von Trottas Familiendrama "Die abhandene Welt" ("die Jahre, da die Trotta subtil das Drama seelisch versehrter Frauen zu gestalten wusste, liegen weit zurück", urteilt Tilman Krause in der Welt kühl).
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Literatur

"Ein patriotischer Akt" sei die gestrige Trauerfeier für Günter Grass gewesen, meint Till Briegleb in der SZ, die überdies die dort gehaltenen Reden von Mario Adorf und John Irving dokumentiert. Ersterer kommmt dabei nochmals auf Grass" lange verschwiegene SS-Mitgliedschaft zu sprechen: "Man kann nicht sagen: Grass hätte wissen müssen, worauf er sich einlässt, wenn er zur SS geht. Das ist Unsinn. Für uns war damals die Waffen-SS noch keine Verbrecherbande, sondern immer noch eine Eliteeinheit." Für Irving war Grass unterdessen "der König der Spielzeughändler". Weitere Berichte in FAZ, Welt und Tagesspiegel.

Die beim Alfred-Döblin-Preis vortragenden Finalisten samt der Preisträgerin Natascha Wodin konnten FAZ-Autor Wolfgang Schneider überzeugen. Wodins Roman mit dem Arbeitstitel "Ich war nie in Mariupol" verspreche seiner Ansicht nach "eine klaffende literarische Lücke zu schließen. Während die Hölle der sowjetischen GULags immer wieder eindringlich beschrieben wurde, ist das Schicksal der bis zu dreißig Millionen Menschen, die in die Mühlen des NS-Zwangsarbeiterimperiums gerieten, bisher fast ohne literarisches Echo geblieben."

Außerdem: Nadine Lange (Tagesspiegel) besucht den serbischen Schriftsteller Bora Ćosić. Der Bayerische Rundfunk bringt ein ausführliches Gespräch mit Martin Walser.

Besprochen werden Frank Witzels "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" (Intellectures), Heinz Reins wiederaufgelegter Weltkriegsroman "Finale Berlin" (FR), die von Annette Pehnt, Friedemann Holder und Michael Staiger herausgegebene "Bibliothek der ungeschriebenen Bücher" (Tagesspiegel) und Thomas Gottschalks Autobiografie (Zeit),

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der FAZ denkt Jürgen Kaube über Günter Grass" Gedicht "Zuletzt drei Wünsche" nach:

"Komm, tanz mit mir, solang ich noch bei Puste
und von den Sohlen aufwärts existiere.
..."
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Kunst

Okwui Enwezors zentrale Ausstellung auf der Biennale in Venedig wird weiterhin kontrovers diskutiert. Beim Tagesspiegel setzt es geradezu ein Donnerwetter. Nicola Kuhn schreibt: Der Kurator "will es wissen. Er greift nach dem Höchsten, nach Sehen und Erkennen im Sinne Walter Benjamins. Umso bitterer sein Scheitern: Die große Ausstellung im Arsenale erschlägt den Besucher förmlich - und deprimiert... Es folgt ein visuelles Trommelfeuer, kaum etwas bleibt länger im Gedächtnis." In der FR berichtet Alexandra Wach von ihrem Rundgang, bei dem ihr aus allen Pavillons die Politik entgegen trat, was für die Kunst mal gut, mal schlecht ausging. Als vereinendes Thema hat sie "die Welt in all ihrer gegenwärtigen Instabilität" identifiziert. ZeitOnline bringt eine Strecke mit Impressionen. Außerdem hat die FAZ Julia Voss" Bericht vom vergangenen Samstag online gestellt.

Für den Tagesspiegel befragt Christiane Meixner den Sammler Christian Boros nach seinen Beweggründen dafür, die Werke von Olafur Eliasson auszustellen.

Besprochen werden die "Kultur der Affen"-Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (FAZ), die Ausstellung "La Toilette: Naissance de l"intime" im Museum Marmottan Monet in Paris (FAZ) und die Monster-Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (FAZ), das sich offenbar von der Bild diktieren lässt, was es zeigen darf.
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Architektur

Keine guten Aussichten für Nepal: Bei dem verheerenden Erdbeben wurden "etwa 70 Prozent des nepalischen Kulturerbes sehr stark beschädigt", erklärt Christian Manhart von der Unesco im SZ-Gespräch mit Stefan Klein: Der Wiederaufbau dürfte "Jahrzehnte" bauen. Wobei auch Neubauten nicht ausgeschlossen sind: "Die Asiaten hängen nicht so sehr an diesen alten Dingen. Etwas Neues kann für sie genauso gut sein wie das Alte oder vielleicht sogar besser, weil es schöner und bunter ist. Wir haben diese Diskussion in Nepal noch nicht, aber es ist gut möglich, dass wir sie noch führen werden."




Fondazione Prada in Mailand. Foto: CiaoMilano.

Bei der Begehung des Kultur-Campus der Fondazione Prada in einer von Rem Koolhaas umgebauten Brennerei im Süden Mailands erlebt Roman Hollenstein (NZZ) "ein nicht enden wollendes Raumwunder. Nicht einer der bewusst karg gehaltenen Säle gleicht atmosphärisch und formal dem anderen. Unweigerlich denkt man an das Zürcher Kunsthaus, wo man mit der Integration der Turnhallen in einen Neubau einen ähnlichen räumlichen Reichtum hätte erzeugen können - und man stellt fest, dass der 70-jährige Pritzkerpreisträger Koolhaas seinen Kollegen noch immer um Nasenlängen voraus ist.

In der FAZ bringt Oliver Elser Hintergründe zur wegen Gemeindeschrumpfung notwendig gewordenen Umwidmung des Kölner St.-Bartholomäus-Kirchengebäudes zum Urnenfriedhof.
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Bühne

Gerade noch verkündete er in der SZ, mit allen und jedem kuscheln zu wollen (unser Resümee), nun fürchtet Matthias Lilienthal zum Antritt seiner Intendanz an den Münchner Kammerspielen rustikales Feedback auf seine geplanten Interventionen. Tazlerin Annette Walter gesteht er, dass er "alle möglichen Mischformen zwischen Stadttheater und 25 freien Gruppenprojekten und alle möglichen Formen dazwischen [plant]. Dieser utopische Versuch ist es mir wert, dass wir uns vielleicht blutige Nasen holen. So lange es kein freies Produktionshaus in der Stadt gibt, werden wir einen Teil dieser Lücke schließen." Das könne "aufregend neu" werden", spekuliert Walter.

Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen hat sich Gerhard Stadelmaier (FAZ) bei der Uraufführung von Joël Pommerats "Die Wiedervereinigung beider Koreas" in der Regie von Oliver Reese prächtig amüsieren können: "Im Augenblinzeln liegen (...) die Witze der Szenen Pommerats. Seine Pointen sind Schreckensknalleffekte am Abgrundrand. ... [Der Regisseur lässt] die Realien im Metaphysischen ihre Pointensporen verdienen: Reeses irdische Paare müssen als längst gefallene Engel ins Teuflische hinab. Aber sie tun dies mit leichtem Sturzflügelschlag und dem Humor einer Hoffnungslosigkeit, die jeden Ernst längst lachend hinter sich hat."

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Patrick Wildermann über die Verleihung des Berliner Theaterpreises an Corinna Harfouch. Besprochen werden die Performance "Welcome to Germany" der Gruppe Monster Truck in Berlin (Tagesspiegel), ein "Lucio Silla" an der Komischen Oper Berlin (Berliner Zeitung), ein Leipziger Abend mit den zwei Opern "The Canterville Ghost" nach Oscar Wilde von Gordon Getty und Ruggero Leoncavallos "Pagliacci" (FAZ) sowie zwei Aufnahmen von Agostino Steffanis Oper "Niobe" (FAZ).
Archiv: Bühne