Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean Rolin: Boulevard Ney.Teil 3

18.05.2009.
Am Abend des 21. August - des Jahrestags der Hinrichtung des Widerstandskämpfers Paul Codde auf der Brücke von Pantin - ist Gerard blau und phantasiert. Als ich seinen Ricard ablehne, grollt er: "Schriftsteller trinken nicht, sie schauen den anderen beim Trinken zu und machen sich Notizen." Ein junges Paar mit Kind, das ich noch nie gesehen habe, leistet ihm Gesellschaft im Sommersalon, während Robert Lepieux im Nachbarpfeiler feiert, dass sein schließlich fertig gewordenes Mobile Home die erste technische Überprüfung bestanden hat. Seine Abreise gen Süden steht kurz bevor.

An diesem Abend halten die Afrikanerinnen die Stellung auf dem Grünstreifen an der Rue de la Clôture, doch am nächsten Tag gewinnen die Albanerinnen wieder die Oberhand (vermutlich hatten Erstere versucht, das Durcheinander auszunutzen, das durch die Dreharbeiten entstanden war).

Ich habe das Zimmer 714 im Hotel Villages an der Porte de la Villette und erfreue mich des gewohnten Blicks auf den Wipfel der Platane und den Knick des Peripherique. Vor dem Hotel an der Rue Emile-Raynaud, Ecke Avenue Jean-Jaures ist ein neuartiges Gerät aufgestellt, das den Armen das Geld aus der Tasche ziehen soll: ein automatischer Mini-Supermarkt der Casino-Kette, der rund um die Uhr Grundnahrungsmittel zu vermutlich unerschwinglichen Preisen bereithält: Sandwiches, Getränke in Dosen, Klopapier, Früchtejoghurt, Damenbinden, Seehasenkaviar, Hundefutter - um Klagen seitens der Casino-Kette zu vermeiden, stelle ich aber klar, dass ich die Preise nicht verglichen habe. Man steckt Bargeld oder eine Kreditkarte in einen Schlitz - was angesichts der Lage des Mini-Dingsda eine ausgezeichnete Gelegenheit bietet, sich entweder das Geld oder die Karte klauen zu lassen -, und nach einigen Sekunden beginnt das Gestänge lautstark zu arbeiten, hinter der Scheibe schwenkt ein Greifarm aus, der die angegebene Ware packt und in die Metallschleuse legt, aus der sie der Kunde entgegennimmt.

Bis spät in die Nacht - im Fernsehen hat sich Das Irrlicht längst die Kugel gegeben - drängen sich die Neugierigen vor dem Automaten, der wie die meisten Neuerungen wenigstens den Vorteil bietet, dass er, oberflächlich betrachtet, alle Ungleichheit zwischen Rassen, Klassen und Altersgruppen aufhebt.


Von seinen Pflichten entbunden, reist Marschall Ney zunächst nach Lyon. Anscheinend hat er vor, in die Schweiz zu gehen und von dort aus weiter in eine neutrale Hafenstadt, um sich nach New Orleans einzuschiffen: Bei seiner Bank soll er schon entsprechende Vorkehrungen getroffen haben. Als er am 9. Juli erfährt, dass die Grenze von österreichischen Truppen bewacht wird, lässt er sein Vorhaben fallen - an dem ihm vielleicht gar nicht so viel lag - und
macht sich auf den Weg nach Roanne. Von nun an zeigen seine Wege bis zum Ende - oder zumindest bis zu seinem zweiten Prozess vor der Pairskammer - jenen unsteten Charakter, den man ihm manchmal auch bei der Führung seiner Schlachten vorgeworfen hat.

Von Roanne führt ihn die Reise nach Saint-Alban, wo er am selben Tag eintrifft, an dem sich Napoleon zum Auftakt seiner langen Kreuzfahrt nach Sankt Helena an Bord der Bellerophon begibt. Während Neys Frau Egle in Paris an Jomini schreibt, seinen zu den Russen übergelaufenen Schweizer Adjutanten, und ihn bittet, sich bei seinem neuenDienstherrn für seinen alten zu verwenden - was Jomini ohne Umschweife tut -, nimmt Ney am 27. Juli die Gastfreundschaft eines fernen Verwandten auf dem Schloss von Bessonies an der Grenze zwischen den Departements Cantal und Lot in Anspruch. Dort lässt er sich am 3. August widerstandslos - aber nicht ohne Panasch - festnehmen. Man bringt ihn nach Aurillac, wo sich das Volk drängt, um ihn zu sehen, und dasselbe wiederholt sich noch des Öfteren auf seiner Reise zurück nach Paris, manchmal um ihn zu beschimpfen - wie in La-Charite-sur-Loire, wo württembergische Soldaten auf ihn losgehen -, manchmal um ihm zuzujubeln, und manchmal weiß man es nicht so genau, wie bei den Kosaken, die ihn von Fontainebleau nach Paris eskortieren, ohne dass ersichtlich wird, auch nicht unter Berücksichtigung des Überschwangs der Kosaken und der Verwirrung der Zeitzeugen, ob sie ihn damit ehren oder ihn verspotten wollen. Laut Perrin hat sich Ney im Laufe dieser Rückreise ziemlich erfolglos darum bemüht, sein Verhalten vor seinen Begleitern zu rechtfertigen.

In Villejuif wird ihm gestattet, einige Augenblicke mit seiner Frau zu verbringen.

Am 19. A ugust sperrt man ihn ins Gefängnis der Conciergerie ein, am selben Tag, an dem in der Ebene von Grenelle der Comte de La Bedoyere hingerichtet wird, jener junge General - er ist neunundzwanzig Jahre alt -, der sich während der Hundert-Tage-Herrschaft als erster hoher Offizier dem Kaiser angeschlossen hatte und am Ende zu seinen letzten Getreuen gehörte.



Eine Geschichte voller Aufruhr und Wut, schriftlich wiedergegeben von zwei Idioten, so könnte man die Fresko-Episode zusammenfassen. Zunächst beginnt alles ganz löblich: ein Stadtteilverein, zwei junge Bildhauerinnen, Gören, die in den Ferien nicht verreisen, und das Anliegen der Künstlerinnen, den Kindern eine bildende und zugleich unterhaltsame Sommerbeschäftigung zu verschaffen. Gehen wir davon aus, dass die beiden Bildhauerinnen aufrichtig sind, dass ihr Engagement nicht vom Wunsch diktiert ist, sich selbst in Szene zu setzen oder auf Kosten von Vater Staat zu reisen. Ihr globaler Anspruch kann sich sehen lassen: Kinder aus zehn Ländern, die mehr oder weniger die ganze Welt repräsentieren - Südafrika, Kuba, Frankreich, Ungarn, Indien, Mexiko, Nepal, Senegal, Tunesien und Vietnam -, sollen im Rahmen ihrer Schulen zehn Wandbilder herstellen, die Geschichte und Kultur ihrer Heimatländer widerspiegeln. In neun von den zehn Ländern scheinen alle das Spiel mitgemacht zu haben, auch wenn die Zeichenlehrer es nicht lassen konnten, die Hand ihrer Schüler ein wenig plump zu führen. Daraus sind neun meist herrliche Fresken entstanden, die versuchen, im traditionellen oder vorherrschenden Stil des jeweiligen Landes ein möglichst anziehendes und ausdrücklich ruhmreiches Bild von ihm zu zeigen. Nur in Frankreich haben die Dinge aus unerfindlichen Gründen (ich spiele den Einfaltspinsel) eine andere Wendung genommen. Unter dem Vorwand, sie hätten sich mit keiner Schule auf ein Vorhaben einigen können, haben die Bildhauerinnen bei der Ausarbeitung der Fresken selbst Hand angelegt, und zwar in einem Vereinslokal, das im Erdgeschoss jenes extrem langgestreckten Gebäudes am Boulevard Ney untergebracht ist, wo zum ersten Mal eine Ecke der Tour Daewoo ins Blickfeld gerät. Für dieses Projekt haben sich nur wenige Kinder interessiert, vielleicht zehn oder zwölf - als das fertiggestellte Fresko zu den Bertrand-Dauvin-Sportstätten gebracht wurde, um dort fotografiert zu werden, waren es genau fünf Kinder und damit weniger Kinder als "Vereinsmitglieder" -, davon zwei oder drei mit einer vagen Neigung zum Zeichnen, aber keines mit einer Affinität zur Geschichte. Die beiden Bildhauerinnen haben also freie Bahn: Auf farbigem Untergrund, geschaffen mit der Dripping-Technik a la Pollock und dem Falten der Leinwände a la Hantaï - die Kinder vom Boulevard Ney sind mit der einen Technik so vertraut wie mit der anderen -, lassen sie die Kinder kurze Texte im Rap-Rhythmus schreiben. Das ausgewählte oder wahrscheinlich suggerierte Thema unterscheidet sich deutlich von dem, das in den anderen Ländern im Vordergrund stand: "Die Rassenmischung in Frankreich im Wechsel der Geschichte".

Inwiefern ist das Thema der Rassenmischung historisch relevant, und warum hat man ihm den Vorzug gegeben gegenüber beispielsweise dem der demographischen Entwicklung, wo es doch darum ging, die ethnische und kulturelle Vielfalt Frankreichs abzubilden? Zählen die polnischen, russischen, armenischen, italienischen, spanischen oder portugiesischen Einwanderer denn nicht? In Wahrheit ist die Obsession von der Rassenmischung, betrachtet man sie nicht mehr als Möglichkeit, sondern als Pflicht - als moralischen und biologischen Imperativ -, nur die spiegelbildliche Verkehrung der Obsession von der rassischen Reinheit. In den Händen der beiden Bildhauerinnen dient das Thema hingegen dazu - und jedem anderen Thema wäre in ihren Händen dasselbe widerfahren -, einem Hass auf das eigene Land Ausdruck zu verleihen und sich auf krankhafte Weise seiner Geschichte zu schämen, die auf eine Abfolge von Niederlagen und Verbrechen reduziert wird: Sklaverei, Judenrazzien, Kolonialkriege.
"Indochina / mittendrin / die Viêtminh / schlugen zu / in Dien Bien Phu", oder "Algerier in Not / Frankreich schlägt sie tot" - an der Erwähnung Dien Bien Phus oder der Vietminh wird deutlich, mit welcher Spontaneität die Kinder diese Texte aufgezeichnet haben. Das Thema der Rassenmischung ist ihnen unterwegs abhandengekommen, aber dafür muss jetzt "Napoleon" herhalten: "Klein geboren / Arsch mit Ohren / auf dem Thron / Napoleon / Wie viel Tote in der Schlacht / für die Gier nach Ruhm und Macht?"

Seien wir froh, dass die beiden Bildhauerinnen Michel Ney nicht kennen oder so tun, als würden sie ihn nicht kennen, sonst hätte sich Letzterer vielleicht auch ein gerapptes Kompliment eingehandelt: "Quertreiber / Beutelschneider / Marschall Ney? / Feuer frei!"

Die Arbeit wurde anschließend noch in der großen Halle des Parc de la Villette ausgestellt, soviel ich weiß, ohne irgendwelche Reaktionen hervorzurufen (auch nicht von mir), und niemand hat den beiden Rassenmischungs-Bildhauerinnen entgegengehalten, dass Selbsthass nicht unbedingt zur Großzügigkeit gegenüber den anderen führt und dass man in einem Haus voller Blutspritzer und Kettengerassel, in dem hinter jeder Tür ein noch nicht erkalteter Leichnam liegt, kaum jemandem Gastfreundschaft gewähren kann. Aber zweifellos werden die Kinder, die dabei waren - die meisten stammten aus Westafrika -, nach dieser Episode überzeugt sein, ihr Gastland verdiene es, dass man sich integriert.

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages

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