Post aus New York

Schande im Shtetl

Von Ute Thon
12.07.2000. Ein Rabbi hat jahrelang seine Schüler misshandelt. Die jüdische Gemeinde von New York ist in Aufruhr.
Normalerweise drehen sich die Berichte in der Jewish Week, Amerikas größter jüdischer Zeitung, eher um betulich-spirituelle Themen wie "Die jüdische Familie im Jahr 2000", "Die unorthodoxe Heirat" oder "Katholiken und Juden im Dialog". Doch am 23. Juni löste das New Yorker Wochenblatt mit der Titelgeschichte "Verlorene Unschuld" eine Kontroverse aus, die nun wie ein tropischer Hurricane durch Amerikas Synagogen fegt. Chefredakteur und Herausgeber Gary Rosenblatt enthüllte in einer ausführlichen, investigativen Reportage, dass ein angesehener Rabbi jahrelang seine Schüler misshandelt hat. Baruch Lanner, seit 30 Jahren Yeshiva-Lehrer und Regionaldirektor der National Conference of Synagogue Youth (NCSY), einer traditionsreichen jüdischen Jugendorganisation, die Sommerlager und israelische Austauschprogramme für Jugendliche organisiert, wird von Dutzenden seiner Zöglinge des sexuellen Missbrauchs und gewaltsamer Übergriffe beschuldigt. Viele der Opfer sahen jahrelang verbittert zu, wie "einer der brilliantesten, dynamischsten und charismatischsten Erzieher jüdischen Lebens", so Rosenblatt, von seinem Arbeitgeber, dem jüdischen Dachverband Orthodox Union (OU), ungeachtet ihrer Beschwerden in immer einflussreichere Positionen befördert wurde. Um mehr Druck auf Lanners Vorgesetzte auszuüben und ihn endlich aus der Jugendarbeit zu verbannen, wendeten sich die Betroffenen mit ihren schockierenden Erlebnissen schließlich an die Jewish Week.

Die Veröffentlichung entfachte nicht nur einen handfesten Skandal, sondern brachte Jewish-Week-Herausgeber Rosenblatt unvermittelt ins Kreuzfeuer der Kritik. Orthodoxe Rabbis geißelten in ihren Gottesdiensten die jüdische Zeitung wegen der Verletzung der "lashon hara"-Regel, ein religiöses Gebot, dass die Verbreitung übler Nachrede untersagt - auch wenn die Anschuldigungen gerechtfertigt sind. Die Anschuldigungen gegen Rabbi Lanner waren zuvor bereits in anderen Zeitungen aufgetaucht und werden inzwischen selbst von Lanners treusten Verteidigern nicht mehr kategorisch geleugnet. Die Frage sei allerdings, ob es sich bei Lanners angeblichen Grabschereien, Schlägen und Verbalattacken nicht nur um vereinzelte, harmlose Episoden handelt, die von missgünstigen Ex-Schülern aufgebauscht würden. Lanner weist die Anschuldigungen zurück. Von Reportern der New York Times mit konkreten Daten und Zeugenaussagen konfrontiert, konnte er sich an nichts mehr erinnern.

Die Sache erinnert an den Umgang, oder besser nicht-Umgang der römisch-katholischen Kirche mit Sexualdelikten ihrer Seelsorger. Tatsächlich haben auch viele jüdische Publikationen Schwierigkeiten mit negativen Nachrichten aus der Gemeinde. Der Instinkt, Einigkeit zu demonstrieren und keine zusätzliche Munition für antisemitische Vorurteile zu liefern, wiegt oft schwerer als der Wunsch nach schonungsloser Aufklärung. Enge finanzielle Bande mit jüdischen Organisationen, die das Überleben vieler Blätter sichern, erschweren zudem die unabhängige Berichterstattung. Die Chicago Jewish News kam unlängst wegen eines Berichts über Geldwäscherei in einem koscheren Restaurant unter Beschuss, das Jewish Journal in Los Angeles wurde wegen einer Story über aufgeblähte Personalkosten einer jüdischen Wohltätigkeitsorganisation kritisiert. Phil Jacobs, der Chefredakteur der Baltimore Jewish Times, der vor kurzem eine Titelstory über orthodoxe Teenager und Extasy veröffentlichte, beschreibt die Zwickmühle, in die viele jüdische Journalisten geraten, wenn sie über unangenehme Wahrheiten berichten, als ungeschriebenes 11. Gebot. "Du sollst keine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit waschen", laute die Einstellung vieler Gemeindeführer. "Wenn du die jüdische Presse liest, werden Juden immer als die perfekten Menschen dargestellt, sie bekommen niemals AIDS, sie nehmen keine Drogen und schlagen niemals ihre Frauen."

Jewish-Week-Chef Rosenblatt, selbst streng gläubiger Jude, bat vor der Veröffentlichung seiner Enthüllungsreportage eigens einen prominenten Rabbi um Beistand aus dem ethisch-religiösen Dilemma. Der weise Mann gab dem Zeitungsmacher nicht nur seinen Segen für die Veröffentlichung, sondern überzeugte ihn, dass er dazu sogar verpflichtet sei, wenn er so Gefahr für die Gemeinde abwenden könne. Seitdem kann sich die Jewish Week vor Anrufen, Leserbriefen und e-mails kaum retten. In seinem jüngsten Editorial kommentiert Rosenblatt, dass der überwältigende Teil der Reaktionen positiv gewesen sei, auch wenn die Skandalgeschichte auf den Seiten einer orthodoxen Zeitschrift ein Schock war. Einige Leser hätten die beschriebenen Missbrauchsszenarien des Rabbis bestätigt und von ähnlichen Übergriffen in anderen Gemeinden berichtet. Inzwischen hat Lanner sein Amt niedergelegt und die Orthodox Union eine interne Untersuchungskommission mit der Klärung der Vorwürfe betraut.

Dennoch sind viele Leser mit dem Lauf der Dinge nicht einverstanden. Die New York Times berichtet von wütenden Abonnementkündigungen bei der Jewish Week und aufgebrachten orthodoxen Eltern, die der jüdischen Wochenzeitung vorwerfen, sie liefere moderateren jüdischen Familien einen guten Grund, ihre Kinder ganz von Torah-Studien fernzuhalten. Rosenblatt wiederum beschreibt in seinem Artikel, dass ihn vor der Veröffentlichung verschiedene Gemeindeführer unter Druck gesetzt hätten, das Thema fallen zu lassen, und statt dessen eine interne Klärung der Affäre anzuregen. "Jüdischer Gedächtnisschwund scheint, zumindest auf institutioneller Seite weit verbreitet", schreibt der Jewish-Week-Chef. "Dabei ist es klar, dass wir den Instinkt, peinliche Probleme in unser Gemeinde zu ignorieren, unterdrücken müssen. Denn sie verschwinden nicht von selbst, und indem wir so zu tun, als existierten sie nicht, höhlen wir unsere Werte aus und gefährden unsere Kinder."