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'Pinsk und die Welt'

24.01.2007. "Ich kann nicht über etwas schreiben, das ich nicht selbst gesehen, selbst erlebt und wo ich nicht selbst das Risiko mitgetragen habe." Der große polnische Reporter und Weltbürger Ryszard Kapuscinski ist tot. Lesen Sie hier einen Auszug aus seinem Buch "Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies".
Von jedem Weg denke ich gern, er sei endlos, verlaufe rund um die Welt. Das kommt daher, daß man von meinem Heimatstädtchen Pinsk mit einem Boot in alle großen Weltmeere gelangen konnte. Wenn man vom kleinen, aus Holz erbauten Pinsk aufbrach, konnte man um die ganze Welt segeln.


Busch auf polnisch


Das Feuer trennte und verband uns. Der Junge legte Holz nach, die Flamme stieg höher, erhellte die Gesichter.
"Wie heißt dein Land?"
"Polen."
Polen war weit, jenseits der Sahara, jenseits des Meeres, im Norden und im Osten. Der Nana wiederholte es laut.
"Richtig?" fragte er. "Richtig", antwortete ich. "Genau so."
"Dort gibt es Schnee", meinte Kwesi.
Kwesi arbeitet in der Stadt, in Kumasi, jetzt war er auf Urlaub da. Einmal hatte es im Kino, auf der Leinwand, geschneit. Die Kinder hatten Beifall geklatscht und gerufen: "anko, anko!", damit sie noch mal Schnee zeigten. Fein war das: Kleine, weiße Knäuel fallen und fallen.
Diese Länder haben Glück; sie müssen keine Baumwolle anbauen, die Baumwolle fällt vom Himmel. Sie nennen sie "Schnee", laufen darauf herum und werfen sie sogar in den Fluß.
Es war Zufall, daß wir in dem Ort steckenblieben. Der Chauffeur, mein Freund aus Accra, Kofi, und ich. Als der Reifen platzte, war es schon dunkel. Es passierte auf einer Nebenstraße, im Busch, in der Nähe des Dorfes Mpango in Ghana. Zu dunkel, um ihn zu reparieren. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie dunkel die Nacht sein kann. Man streckt die Hand aus und kann sie nicht sehen. Hier gibt es solche Nächte. Wir gingen ins Dorf.
Der Nana begrüßte uns. Einen Nana gibt es in jedem Dorf, denn Nana bedeutet Vorsteher. Der Vorsteher ist sozusagen ein Schulze, aber er hat mehr Macht. Wenn du Marina heiraten willst, kann der Schulze dich nicht abhalten, aber der Nana kann das. Er hat den Ältesten­ rat hinter sich. Die Greise halten Versammlungen ab, schalten und walten, erörtern Auseinandersetzungen. Wenn ein Junger sich auflehnt, muß er in die Stadt fliehen. Früher war der Nana ein Gott. Aber jetzt gibt es eine unabhängige Regierung in Accra. Die Regierung erläßt ein Gesetz, der Nana muß es befolgen. Ein Nana, der es nicht befolgt, ist aristokratisch und wird entfernt. Ein großer Nana ist Führer eines Stammes, ein gewöhnlicher Nana ist Führer einer Sippe, und ein kleiner Nana ist Dorfvorsteher. Oft ist der Nana gleichzeitig Zauberer. Dann hat er doppelte Macht: über die Körper und über die Seelen. Die Regierung ist darum bemüht, daß alle Nanas in der Partei sind, und viele Nanas sind Sekretäre der Parteiorganisationen in ihren Dörfern.
Der Nana aus Mpango war knochig und kahlköpfig und hatte schmale, sudanesische Lippen. Kofi stellte sich, den Chauffeur und mich vor. Er erklärte, woher ich sei und daß sie mich wie einen Freund behandeln sollten.
"Ich kenne ihn", sagte er, "er ist ein Afrikaner."
Das ist das größte Kompliment, das einem Europäer widerfahren kann. Dann öffnen sich ihm alle Türen.
Der Nana lächelte, und wir drückten uns die Hände. Dem Nana muß man bei der Begrüßung immer mit beiden Händen seine rechte drücken. So erweist man ihm Achtung. Er setzte uns ans Feuer, wo gerade die Alten tag­ ten. Er tat groß und sagte, daß sie oft tagten, was mich nicht wunderte. Das Feuer war mitten im Dorf, und zur Rechten und Linken, die Straße entlang, brannten andere Feuer. So viele Feuer wie Hütten, denn in den Hütten gibt es keinen Herd, und kochen muß man. Vielleicht zwanzig. Man sah also die Feuerstellen, die sich bewegenden Frauen- und Männergestalten, die Umrisse der Lehmhütten, alles vor dem Hintergrund einer Nacht, die so schwarz war, daß man sie wie eine Last spürte, wie eine Beklemmung.
Der Busch war verschwunden, und doch war er überall, er begann hundert Meter von hier; ein unbewegliches Massiv, ein kompaktes, zerfurchtes Dickicht, schloß er das Dorf ein, uns, die Feuer. Der Busch schrie und weinte, stapfte und krachte, lebte, existierte, vermehrte sich und fraß sich auf, roch nach mattem Grün, schreckte und lockte, man konnte ihn anfassen, sich verletzen und sterben, aber anschauen konnte man ihn nicht, in dieser Nacht war er nicht zu sehen.
Polen.
So ein Land kannten sie nicht.
Die Alten schauten mich unsicher oder argwöhnisch an, einige auch neugierig. Ich wollte dieses Mißtrauen irgendwie überwinden. Ich wußte nicht wie und war müde.
"Wo liegen eure Kolonien?" fragte der Nana.
Mir fielen fast die Augen zu, aber jetzt kam ich wieder zu mir. Sie fragten mich oft so. Als erster hatte mich damals Kofi darauf ange­ sprochen. Ich hatte es ihm erklärt. Es war eine Entdeckung für ihn, und von da ab lauerte er ständig auf die Frage nach den polnischen Kolonien, um in einer kurzen Ausführung ihre Absurdität zu enthüllen.
"Sie haben keine Kolonien, Nana. Nicht alle weißen Länder haben Kolonien. Nicht alle Weißen sind Kolonialisten. Du mußt wissen, daß die Weißen oft Kolonialisten den Weißen gegenüber waren."
Das klang schockierend. Die Alten zuckten zusammen, schnalzten. "Ts, ts, ts", wunderten sie sich. Früher hatte ich mich gewundert, daß sie sich wunderten. Jetzt nicht mehr. Ich kann diese Sprache nicht ausstehen: weiß, schwarz, gelb. Der Mythos der Rassen ist ekelhaft. Worum geht es da? Daß jemand wichtiger ist, wenn er weiß ist? Bisher hatten die meisten Halunken weiße Haut. Ich sehe keinen Grund, warum man sich freuen oder sich Sorgen machen sollte, daß man so oder so ist. Darauf hat keiner Einfluß. Das einzige, was wichtig ist, ist das Herz. Alles andere zählt nicht.
Später erklärte Kofi:
"Hundert Jahre lang haben sie uns beigebracht, daß Weiß etwas Besseres ist, super, extra. Sie hatten ihre Klubs, ihre Schwimmbäder, ihre Viertel. Ihre Huren, Autos, ihre glucksende Sprache. Wir wußten, daß es auf der Welt nur England gibt, daß Gott Engländer ist und sich über die ganze Erde nur Engländer bewegen. Wir wußten kaum das, von dem sie wollten, daß wir es wissen. Jetzt ist es schwer, sich das abzugewöhnen."
Mit Kofi war ich einig, wir berührten das Thema der Hautfarbe nicht mehr, aber hier, unter neuen Gesichtern, mußte die Sache wieder aufleben.
Einer der Alten fragte:
"Sind alle eure Frauen weiß?"
"Ja."
"Sind sie schön?"
"Sehr schön", antwortete ich.
"Weißt du, Nana, was er gesagt hat?" warf Kofi ein. "Wenn bei ihnen Sommer ist, dann ziehen ihre Frauen sich aus und legen sich in die Sonne, um eine schwarze Haut zu bekommen. Die, die dunkel werden, sind stolz darauf, und die anderen bewundern sie, wenn sie braun wie Negerinnen sind."
Hervorragend! Na, Kofi, das hast du gut gemacht! Du hast sie ordentlich in Schwung gebracht. Den alten Knochen läuft das Wasser im Mund zusammen bei diesen von der Sonne gebräunten Körpern, ihr wißt ja, wie das ist - die Männer sind auf der ganzen Welt gleich, das gefällt ihnen. Die Alten rieben sich die Hände, freuten sich, Frauenkörper in der Sonne, das Feuer vertrieb ihnen jetzt das Rheuma, sie machten es sich bequem in ihren weiten Kenen nach dem Muster der römischen Togen.
"Mein Land hat keine Kolonien", sagte ich. Aber es gab eine Zeit, da war mein Land eine Kolonie. Ich schätze eure Geduld, aber bei uns war es schrecklich. Es gab Straßenbahnen, Restaurants, Viertel "nur für Deutsche". Es gab Lager, Krieg, Hinrichtungen. Ihr kennt keine Lager, Kriege und Hinrichtungen. Das hieß Faschismus. Das ist der schlimmste Kolonialismus."
Sie hörten zu, runzelten die Stirn und schlossen die Augen. Merkwürdige Dinge sind da gesagt worden, die Gedanken müssen das verarbeiten. Zwei Weiße die nicht zusammen in einer Straßenbahn fahren können.
"Sag, wie sieht eine Straßenbahn aus?"
Die Realien sind wichtig. Vielleicht können sie nicht zusammen fahren, weil es zu eng ist. Nein, es ist nicht eng, hier geht es um Verachtung. Ein Mensch tritt den anderen mit Füßen. Nicht nur Afrika ist ein verfluchtes Land. Jedes Land kann es sein. Europa, Amerika, viele Orte gibt es auf der Erde. Die Welt hängt von den Menschen ab. Natürlich kann man die Menschen in verschiedene Typen einteilen. Zum Beispiel der Mensch in der Haut einer Schlange. Die Schlange ist weder schwarz noch weiß. Sie ist schlüpfrig. Ein Mensch in schlüpfriger Haut. Das ist das Schlimmste.
"Und später waren wir frei, Nana. Wir bauten Städte, in die Dörfer kam das Licht. Wer nicht lesen konnte, lernte es."
Der Nana stand auf und drückte mir die Hand. Die übrigen Alten ebenso. Jetzt waren wir friends, drusja, amigos. Ich wollte etwas essen. In der Luft roch es nach Fleisch. Nicht nach Dschungel, Palmen oder Kokosnüssen, sondern nach Schweinekotelett für 11,60 Zloty im masurischen Gasthof. Und ein großes Bier.
Statt dessen aßen wir Ziege.
Polen -
- es schneit, Frauen in der Sonne, keine Kolonien, früher Krieg, man baut Häuser, jemand bringt jemandem Lesen bei.
Etwas habe ich doch gesagt, sage ich mir. Für Einzelheiten ist es zu spät, ich möchte schlafen, im Morgengrauen fahren wir weg; hierbleiben, um einen Vortrag zu halten, ist unmöglich.
Aber plötzlich fühlte ich mich beschämt, unbefriedigt - das Gefühl nach einem Fehlschluß. Das, was beschrieben wurde, ist nicht mein Land. Moment mal: Schnee, keine Kolonien - das stimmt doch. Aber das ist nichts, nichts von dem, was wir wissen, was wir in uns tragen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, was unser Stolz und unsere Verzweiflung ist, unser Leben, unser Atem, unser Tod.
"Also, Nana" - Schnee, das stimmt, er ist wunderbar und schrecklich, er befreit dich in den Bergen auf den Skiern und bringt einen Betrunkenen am Zaun um, Schnee, im Januar, die Januaroffensive, Asche, alles Asche - Warschau, Breslau und Stettin, Backstein, die Pfoten werden kalt, der Wodka wärmt, der Mensch legt Backsteine, hier wird das Sofa stehen und hier der Schrank, das Volk kommt in die Stadtmitte, Eis auf den Scheiben, Eis auf der Weichsel, Wassermangel, wir fahren ans Wasser, ans Meer, Sand, Wald, Hitze, Sand, Zelte und Mielno, ich schlafe mit dir, mit dir, mit dir, jemand weint, es ist leer und Nacht, also weine ich, diese Nächte, unsere Versammlungen bis zum Morgen, harte Diskussionen, jeder sagt etwas, Genossen! Glanz und Sterne, in Schlesien, die Öfen, August, siebzig Grad in den Öfen, die Tropen, unser Afrika, schwarz und heiß, heiße Wurst, warum geben Sie eine kalte, Moment, Kollege, treten Sie ein, Kollege, kein Jazz, logo, Sienkiewicz und Kurylewicz, Keller, Feuchtigkeit, da faulen die Kartoffeln, kommt, ihr Weiber, Erdäpfel behacken, Weiber in Nowolipki, bitte schneller durchgehen, kein Wunder, was heißt das, hübsch ist das im Krieg, laßt mir meine Ruhe mit dem Krieg, wir wollen leben, uns freuen, glücklich sein, ich sag dir was, du bist mein Glück, Wohnung, Fernsehapparat, nein, zuerst ein Motorrad, wenn das brummt, Lärm macht, erwachen die Kinder im Park statt zu schlafen, so eine Luft, keine Wolken, kein Zurück, Kerle zum Pferdestehlen, warum nicht zum Arbeiten, wenn wir das nicht lernen, unsere Schiffe fahren über alle Meeren, Erfolge beim Export, Erfolge beim Boxen, die Jugend in Handschuhen, feuchte Handschuhe ziehen Traktoren aus der Erde, Nowa Huta, man muß bauen, Tychy und Wizow, farbige Häuser, Aufstieg des Landes, Aufstieg der Klasse, gestern Hirte, heute Ingenieur, die TH fährt immer schwarz, feine Ingenieure, Lachen in der Straßenbahn (sag, wie sieht eine Straßenbahn aus), ganz einfach, vier Räder, ein Bügel, aber es reicht, es reicht, das ist eine Chiffre, nur Zeichen im Busch, in Mpango, der Schlüssel zu der Chiffre liegt in meiner Tasche.
Wir nehmen ihn immer mit in fremde Länder, in die Welt, zu anderen Menschen, und es ist der Schlüssel unseres Stolzes und unserer Ohnmacht. Wir kennen kein Schema, aber es ist nicht möglich, ihn anderen zugänglich zu machen. Es wird immer nicht da sein, selbst dann, wenn man es unbedingt will. Etwas wird nicht gesagt werden, das Wichtigste, das Wesentlichste.
Ein Jahr meines Landes erzählen, ganz egal welches, sagen wir 1957, nur einen Monat dieses Jahres, nehmen wir den Juli, nur einen Tag, sagen wir den sechsten.
Es ist nicht möglich.
Und doch existiert dieser Tag, dieser Monat, dieses Jahr in uns, muß existieren, denn es gab doch damals, wir gingen die Straße entlang, förderten Kohle, fällten Holz, wir gingen die Straße entlang, wie kann man eine Straße in einer Stadt beschreiben (zum Beispiel in Krakau), so, daß sie ihre Bewegung, ihre Atmosphäre spüren, das, was dauert, und das, was sich verändert, ihren Geruch und Lärm, so, daß sie sie sehen.
Sie sehen sie nicht, nichts sieht man, es ist Nacht, Mpango, dichter Busch, Ghana, langsam verlöschen die Feuer, die Alten gehen schlafen, wir auch gleich (im Morgengrauen fahren wir ab), der Nana döst, irgendwo fällt Schnee, Frauen wie Negerinnen, denkt er, sie lernen lesen, so etwas hat er gesagt, denkt er, sie hatten Krieg, uuuch Krieg, das hat er gesagt, ja, keine Kolonien, keine Kolonien, dieses Land, Polen, weiß, und keine Kolonien, keine Kolonien, dieses Land, Polen, weiß, und keine Kolonien, denkt er, der Busch schreit, seltsam diese Welt.

Natürlich habe ich furchtbare Dinge erlebt. Aber es gibt kein Land, in das ich nicht gerne zurückginge. Ich mag wohl die Menschen. Ich habe fast überall hilfsbereite, offene Leute getroffen. Das ist natürlich Reporterglück, und über die entsprechenden Länder sagt man dann bei der Abreise, sie seien interessant.

Aus: Ryszard Kapuscinski: "Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies".
Reportagen, Essays, Interviews aus vierzig Jahren. Herausgegeben von Wolfgang Hörner. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Frankfurt am Main 2000, 320 Seiten, gebunden, 15,90 Euro

Wir veröffentlichen diesen Auszug mit freundlicher Genehmigung des Eichborn Verlags.