Literatur / Sachbuch


Gesellschaft

Die Evolution ist nicht nur "Survival of the Fittest", meint die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy, sie ist - zumindest auf den höheren Stufen der Evolution - nicht denkbar ohne soziale Kompetenz. Hier kommt die Mutter ins Spiel. Vor über einer Million Jahre begann eine Linie von Menschenaffen, ihre Jungen gemeinschaftlich aufzuziehen. "Mütter und andere" erzählt, warum sich aus dieser neuen Form der Fürsorge nicht nur neue Formen sozialen Miteinanders entwickelten, sondern auch unsere Fähigkeit, Gedanken und Absichten der Menschen um uns "lesen" zu können, verspricht der Klappentext. Die Kritiker sind einverstanden. Ein "Aufsehen erregendes Buch", meint zum Beispiel Susanne Mayer in der Zeit. Sie ist seit Lektüre des Buchs überzeugt, dass erst Mütterlichkeit das Entstehen des Homo Sapiens und eine auf Zusammenarbeit gegründete Gemeinschaft ermöglicht habe. Hrdy sei eine "Apologetin der Kooperation", schreibt Cord Riechlemann in der SZ - aber er meint das positiv: Hrdy hat ihre These für ihn mit überzeugenden und gut lesbaren Argumenten belegt.

Auf keinen Fall sollte man sich vom Titel dieses Buches abhalten lassen, warnen die Rezensenten, die allesamt Daniel Everetts Buch mit Begeisterung gelesen haben. Für sie war "Das glücklichste Volk" nicht nur der Forschungsbericht eines Linguisten, sondern zugleich auch philosophischer Essay und Abenteuerroman in einem und eigentlich nur mit Claude Levi-Strauss' "Traurigen Tropen" vergleichbar. Everett ist 1977 mit Frau und Kindern als Sprachforscher und Missionar in das brasilianische Amazonasgebiet gereist, um die Sprache der Piraha lernen, die er mit einer Bibelübersetzung beglücken wollte. Es kam anders, der Missionar wurde bekehrt. Er lernte die Sprache der Piraha, machte sich mit ihren Gebräuchen und ihrer Lebensweise vertraut - und verabschiedete sich selbst von seinem christlichen Glauben und seiner Mission. "Aufschlussreich, unterhaltsam, spannend und den Blick weitend", fand Harald Eggebrecht in der SZ, was er alles über die Piraha gelernt hat, zum Beispiel dass sie für verschiedene kulturelle Funktionen unterschiedliche Sprachkanäle haben: eine Pfeifsprache, Summsprache, Schreisprache, musikalische Sprache und normale Sprache. Außerdem schlafen sie wenig, weil es aufregender ist, wach zu sein. In der FAZ zeigte sich Karl-Heinz Kohl sehr fasziniert von dieser gerade mal 500 Menschen umfassenden Volksgruppe, die allen Anfechtungen der Moderne bisher getrotzt und kaum einen Begriff von Vergangenheit und Zukunft habe, stattdessen ganz im Hier und Jetzt lebt.

Dieses Buch wurde überhaupt noch nicht besprochen und wird es wahrscheinlich auch nicht. Ein kleines Merve-Bändchen mit Texten aus den Jahren 1990 - 2007 des mit 44 Jahren gestorbenen taz-Kulturredakteurs Harald Fricke. Er war einer der ganz wenigen Kritiker, der über alles schreiben konnte: Brian Wilson, Andy Warhols "Blue Movie", die Love Parade, den Maler Richard Hamilton, Sport, Rainald Goetz' Frankfurter Poetik-Vorlesung oder queere Musik. Allein die zitierten Soulstücke in seinem Text zum vierzigsten Geburtstag von Motown bei Youtube zu suchen, garantiert zwei Stunden reine Seligkeit: "Es war fast wie eine Anhäufung von gebändigtem Lärm, der das Leben im Arbeitsalltag ohnehin beleitete, während die Texte dazu den inneren Motor antrieben, Speed für die Freizeit - zwischen verliebtem Gefühlsnonsense a la '(I Can't Help Myself) Sugar Pie Honey Punch' und den täglichen Zwängen eines 'Nowhere to Run'. Für das letztere wurde sogar ein Promoclip gefilmt, bei dem die Vandellas in Glitterkleidern auf der Rückbank eines Pontiac singend über ein Fließband fahren, während Monteure noch die Reifen unter das Auto schrauben: Lean production für beschwingte Arbeitsbienen."


Biografien

Einhellig positiv aufgenommen wurde Barbara Beuys' Biografie über Sophie Scholl die zwar kein ganz neues Bild der Widerstandskämpferin zeichne, dafür aber ein stimmigeres. Beuys hat unter anderem auch den Nachlass der Schollschwester Inge Aicher-Scholl ausgewertet, und den Kritikern von FR, SZ und Zeit imponiert gleichermaßen, wie Beuys behutsam einige Mythen korrigiert, die sich um die Geschwister Scholl ranken, ohne ihr Verdienst zu schmälern. Und dass die Biografie auch noch gut geschrieben ist, beglückte die Rezensenten vollends.

Nach Napoleon und Balzac hat sich Johannes Willms, Paris-Korrespondent der SZ, für seine neuen Biografie nun Stendhal vorgenommen, und wenn man den Rezensenten glauben will, mit Erfolg. In der FAZ lobt Niklas Bender diese Biografie sehr, vor allem Willms' Gespür für Situationen, Charaktere, Fakten. Die Zeit vermisst zwar ein tiefergehendes Interesse für Stendhals Werk, sieht aber den Romancier selbst recht "meisterhaft" dargestellt. Im Deutschlandradio Kultur lobte auch Maike Albath dieses "gelehrte" Porträt, das zuggleich sehr mitreißend zeige, wie aus einem eitlen, opportunistischen Karrieristen ein grandioser Romancier wurde.

Mit großem Interesse wurde Oliver Jens Schmitts Biografie des albanischen Nationalhelden Skanderbeg besprochen, der eine kritische Biografie offenbar bitter nötig hatte: In Albanien selbst wurde dieses Buch mit großer Empörung quittiert, sehr unrühmlich hat sich hierbei auch Ismael Kadare hervorgetan, wie Ekkehard Kraft in seiner sehr instruktiven Besprechung in der NZZ berichtet. Als Kind wurde Fürst Georg Kastriota zum Unterpfand an den Hof des Sultans Murad II gegeben, kehrte aber nach dem Tod seines Vaters nach Albanien zurück, um gegen das Osmanische Reich zu kämpfen. Die Albaner entsetzte Schmitt vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen führt er Skanderbegs erbitterten Kampf gegen die Hohe Pforte auf das Motiv der Blutrache zurück, zum anderen kratzt er am Bild eines rein albanischen Freiheitskampfes, an dem sich nämlich auch bulgarische, serbische oder vlachische Orthodoxe beteiligt haben. Auch in der FAZ lobte Michael Martens diese akribische, gute geschriebene, vielleicht nur nicht gründlich genug lektorierte Biografie.


Geschichte

Tidiane N'Diayes Buch "Der verschleierte Völkermord" dürfte vor dem Hintergrund jüngster geschichtspolitischer Auseinandersetzungen einige Brisanz haben: Seit einigen Jahren fordern Initiativen von Sklavennachfahren in Frankreich, aber auch Großbritannien und den USA die Anerkennung der Sklaverei durch die westlichen Länder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zuweilen sogar Wiedergutmachung. Aber die Sklaverei war ein komplexes Phänomen, wie N'Diayes Band zeigt, in dem die andere Seite des Sklavenhandels thematisiert wird: Auch der europäische Sklavenhandel konnte ohne den arabo-muslimischen, auf den er aufsetzte, und ohne eine Kollaboration in Afrika nicht entstehen. Die Sklaverei ist in der islamischen Welt zudem wesentlich älter. Ulrich Baron liest das Buch in der Welt als Anklage und begrüßt es als Pionierarbeit - gerade eher populäre Darstellungen fehlten auf diesem Gebiet. Und er weist daraufhin, dass das Thema bis heute aktuell ist, denn auch Auseinandersetzungen wie die in Nigeria oder Dafur ließen sich ohne diesen Hintergrund nicht verstehen. Ganz anders sieht es Andreas Eckert, Professor für afrikanische Geschichte und Kolonialismusforscher an der HU Berlin, in der FAZ. Ihm fehlen in dem Buch akademische Absicherungen. Er konzediert zwar, dass weder islamische, noch afrikanische (und offensichtlich auch nicht europäische) Forscher Interesse für das Thema aufbrachten oder es aus politischen Gründen mieden, aber N'Diayes Darstellung ist ihm zu stereotyp. Die Anklagen sind Eckert zu harsch und zu wenig belegt: "Das Buch kommt ohne Fußnoten aus." (Hier eineim Perlentaucher)

Der in Kabul geborene und in San Francisco lebende Autor Tamim Ansary hat mit "Die unbekannte Mitte der Welt" eine Weltgeschichte verfasst, in deren Mittelpunkt der Islam steht. Ansary ist kein Universitätshistoriker, sondern "ein Autor, der Geschichte als Erzählung betrachtet und sie 'als menschliches Drama' präsentiert", schrieb Carsten Hueck durchaus angetan für Deutschlandradio Kultur. Zwiespältiger äußerte sich im Falter Sebastian Kiefer. Vielleicht findet man die verwickelte Geschichte des Vorderen Orients "nirgendwo farbiger, schlichter, anschaulicher erzählt als hier", lobt er. Fatal findet er allerdings, dass Ansary "stereotype Legenden" über Mohammeds Leben "als Beschreibungen historischer Ereignisse ausgibt. Er tut das, um der Perspektive des gläubigen Muslim zu ihrem Recht zu verhelfen, doch er erreicht damit das Gegenteil". Laut Dan Diner (SZ), der selbst in der sehr lehrreichen Studie "Versiegelte Zeit" den zivilisatorischen Rückstand der arabisch-islamischen Welt analysierte, beschreibt dieses "doppelt subversive" Buch sehr eingängig, wieso der Westen und die islamische Welt sich so unterschiedlich entwickelt haben: Während sich der Westen in der Neuzeit auf den Fortschritt ausrichtete, versuchten die islamischen Länder, ihre Kultur zu imprägnieren. Eren Güvercin hat für Telepolis ein ausführliches Interview mit Tamim Ansary geführt.

Tony Judts Essays, die "Das vergessene 20. Jahrhundert" versammelt, sind nicht neu, zum Teil stammen sie aus bereits aus den neunziger Jahren. Aber, so versichert Jacques Schuster in der Welt, was Tony Judt über die großen Denker des 20. Jahrhunderts zu sagen hat, sei "so gebildet wie blitzgescheit": Arthur Koestler und Albert Camus, Manes Sperber und Eric Hobsbawm, Hannah Arendt und Leszek Kolakowski. "Was Judt über Primo Levi schreibt, gehört zum Besten, das jemals über den in Auschwitz geschundenen Juden verfasst worden ist", meint Schuster. In einer großen Besprechung in der New York Times rühmte Geoffrey Wheatcroft die Essays und erklärte Tony Judt zu einem der besten Historiker und einem politischen Denker, der dem Engagement wieder einen guten Namen gibt. Und im Guardian lobte John Gray Judts "furchtlose Integrität" und verkündet: "Wie Raymond Aron, der subtile und unerbittliche französische Polemiker, ist Judt als liberaler Denker wie geschaffen dafür, liberale Illusionen zu entmystifizieren."

Bisher befasste sich der britische Historiker Simon Sebag Montefiore in seinen Büchern vor allem mit Stalin. In "Katharina die Große und Fürst Potemkin" nun hat er sein Augenmerk auf ein anderes Schreckensexemplar der russischen Herrschaftsgeschichte geworfen: auf Fürst Grigori Alexandrowitsch Potemkin, Feldmarschall und Groß-Hetman, Aufsteiger, Lüstling und Liebhaber der Zarin. Als "mitreißendes, farbenprächtiges, überaus reich facettiertes Bildnis" feiert Manfred Schwarz dieses Porträt in der SZ, sogar als "Meisterwerk", auch wenn nach seinem Dafürhalten Katharina die Große - anders als der Titel suggeriert - nur eine Nebenrolle spielt. Autor Hans Pleschinski lobt in der Welt Montefiores anschauliche Erzählkunst, und auch wenn ihm Potemkins schlechter Ruf nach der Lektüre nicht unberechtigt erscheint, erkennt er ihn neidlos als tolldreisten Machthaber an: "Sogar für das lebhafte 18. Jahrhundert sprengte dieser Russe alle Maßstäbe von kreativem Furor, Liebesekstase, Prachtentfaltung und zwischenzeitlicher Seelenlähmung."


Philosophie

Meister Eckhardt ist ein Fixstern für Kurt Flasch - und Kurt Flasch ein Fixstern für jeden, der in Deutschland intelligente Lektüre über das Mittelalter sucht. "Meister Eckhart. Philosophie des Christentums" ist sein zweites Buch über den Theologen und Philosphen. Vor vier Jahren erschien schon Flaschs Studie "Meister Eckhart - Die Geburt der 'Deutschen Mystik' aus dem Geist der arabischen Philosophie". Das neue Buch versucht laut Klappentext "eine neue Gesamtdarstellung von Eckharts Leben und Lehre vor dem Hintergrund des intellektuellen Umfelds seiner Zeit", und dies gelingt ihm auch, wenn man den geradezu ergriffenen Kritikern lauscht. Als Eigenständigen und streitbaren Philosphen, nicht einfach als Mystiker stelle Flasch ihn dar, lobt Thomas Assheuer in der Zeit, der Flasch Quellenstudium - auch das der Inquisitionsakten - bewundert. Ebenso Uwe Justus Wenzel in der NZZ.

Zwei Neuerscheinungen zu Kant fallen unter den wenigen philosophischen Büchern auf, die in diesem Jahr bisher erschienen sind und besprochen wurden. Reinhard Brandts "Immanuel Kant - was bleibt?" das von Manfred Geier in der SZ eindringlich empfohlen wird, und Michel Foucaults "Einführung in Kants Anthropologie" Beide dürften keinen allzu leichten Lesestoff bieten. Dem allgemein Interessierten wäre wohl eher Brandts Schrift zu empfehlen, denn der Marburger Philosophieprofessor stellt einige Grundfragen an Kant neu. Darum kann man sich hier auch mit einigen von Kants berühmtesten Texten und Ideen zur Aufklärung oder dem kategorischen Imperativ auseinandersetzen, schreibt Geier. Ohne Voraussetzungen könne man das Buch aber dennoch nicht lesen. Bei Foucault handelt es sich um einen sehr frühen Text, in dessen Licht sich laut Christine Pries in der FR auch Foucaults berühmter letzter Text über Kants "Was ist Aufklärung?" neu lesen lässt.


Politisches Buch

Für seinen Bericht "Bilal" hat sich der italienische Reporter Fabrizio Gatti unter die Flüchtlinge gemischt, die sich von Afrika aus nach Europa durchzuschlagen versuchen. Gatti ist mit einem Flüchtlingsstreck über die "Sklavenpiste" durch die Sahara gereist, hat das Geschäft der Schlepper beobachtet, sich von korrupten Beamten ausnehmen lassen und ist schließlich als Schiffbrüchiger vor Lampedusa gelandet. Sehr beeindruckt von der enormen Recherchearbeit hat Alex Rühle in der SZ diesen Bericht gelesen, aber auch mit Entsetzen und Erschütterung. Als höchst eindringlich lobt Jonathan Fischer in der NZZ diese Reportage, die ihm nicht nur viele Einzelschicksale vor Augen führte, sondern auch den Menschenhandel als lukratives Geschäft erklärte. Le Monde diplomatique brachte einen Vorabdruck.

Die Islamdebatte geht weiter. Zwei Bücher von Autorinnen mit muslimischem Hintergrund beziehen unterschiedliche Positionen, Lamya Kaddors "Muslimisch, weiblich, deutsch" und Necla Keleks "Himmelsreise". Kaddor versichert, dass ein aufgeklärter Islam möglich sei und wendet sich damit gegen "selbsternannte Islamkritiker". Sie selbst lebt ohne Kopftuch, und doch als praktizierende Muslimin. Ein wichtiger Standpunkt, findet Karen Krüger in der FAZ. Sie lernt aus dem Buch, dass eine Schicht aufgeklärter Muslime längst existiert, aber sie kritisiert auch daran, dass sich diese Schicht in die Debatten zu wenig einmische. Necla Kelek sieht es bekanntlich anders und gilt vielen Feuilleton-Hierarchen darum als "Fundamentalistin der Aufklärung" (Thomas Assheuer, Zeit), "Heilige Kriegerin" (Claudius Seidl, FAS), nützliche Idiotin der Rechtsextremen (Patrick Bahners, FAZ) oder "Hasspredigerin" (Thomas Steinfeld, SZ) (Wir haben's kritisiert und stehen hier auf der Seite von Kelek). In ihrem Buch "Himmelsreise" schildert sie ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Islam, und sie bleibt bei ihrer Kritik an einer Religion, die sich von Politik kaum trennen lässt und dringend einer Reformbewegung bedarf. In der Zeit wurde sie von Hilal Sezgin entsprechend abgefertigt: Das Buch sei voller sachlicher Fehler, Verdrehungen und antiislamischer Klischees. Sezgin kritisiert den "schrillen" Tonfall der Autorin und wirft ihr vor, keine andere türkische Publizistin neben sich gelten zu lassen. Anders sieht es Regina Mönch in der FAZ, eine der wenigen Unterstützerinnen Keleks in den großen Feuilletons: Mit Kelek unterstreicht sie, dass die Religionsfreiheit ein Recht des Individuums ist, nicht ein Gruppenrecht. Und mit Kelek befürwortet sie die Anwendung der philologisch-kritischen Methode auch auf den Koran. Wer beide Bücher liest, ist vorerst auf dem Stand der Debatte in Deutschland!

Literatur / Sachbuch