Efeu - Die Kulturrundschau

Kleine Burgen

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04.06.2015. Die Welt lässt sich von den Brüdern Lumiere in Bewegung setzen. Bertrand Tavernier führt dazu auf Youtube in die Geschichte des Kinematografen ein. Der Freitag liest optimistische Science Fiction von Iwan Jefremow. Die NZZ hört Carmen-Francesca Banciu zu, die im im Dradio Kultur von ihren Erlebnissen als Dorfschreiberin von Katzendorf erzählt. Auch die Berliner Philharmoniker möchten sich morgens gern auf ihre Arbeit freuen, meldet der Tagesspiegel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2015 finden Sie hier

Film

Mit buchstäblich leuchtenden Augen kommt Gerhard Midding aus einer Pariser Ausstellung, die an die Erfindung der Brüder Lumière erinnert. Dort, im Grand Palais, kann man auch den ersten Film der Brüder von 1895 sehen, der Angestellte beim Verlassen der Fabrik des Vaters zeigt, erzählt Midding in der Welt: "Am Entree der Schau ist das Bild des Werktors zu sehen, das sich langsam zu den Laufgeräuschen eines alten Projektors in Bewegung setzt. An ihrem Ende werden Remakes dieses ersten Films vorgeführt, die Regisseure wie Pedro Almodóvar, Xavier Dolan und Quentin Tarantino voller Enthusiasmus vor der noch erhaltenen Ruine des Drehorts gemacht haben. So kann ein Kreisschluss zu einer fortschreitenden Bewegung werden, die Historie und Gegenwart verbindet. Schon das Plakat der Schau fängt den Elan ein, der Gegenstand und Präsentation bestimmt: Mit jugendlichem Übermut springt Auguste vor Louis" Kamera über einen Stuhl. Die Momentaufnahme von 1888 zeigt, wie sehr ihre Schaulust auf die Bewegung drängte."

Hier führt Bertrand Tavernier - auf Englisch! - in die Erfindung des Kinematografen ein:



Es muss schon sehr viel geschehen, dass das Österreichische Filmmuseum statt Kinorollen "Video-Faksimiles" zeigt - ein langjähriger Bürgerkrieg etwa, wie im Fall der aktuellen Reihe "Eine syrische Moderne", für die Lukas Foerster (taz) der Wiener Kino-Institution überaus dankbar ist: Denn "mit jenem syrischen Kino, dem sich die Filmreihe in Wien noch bis Mitte Juni widmet, ist es (...) erst einmal gründlich vorbei. Umso wichtiger zu zeigen, dass es einmal existiert hat, dass also dieser Tage zwischen Aleppo und Damaskus nicht nur die Überreste antiker Hochkulturen vernichtet zu werden drohen, sondern eben auch: eine syrische Moderne, eine künstlerische und intellektuelle Tradition, die, ganz unabhängig von ihrer faktischen sozialen Reichweite, die Möglichkeit einer anderen, freieren Gesellschaftsordnung denkt." Mehr zu der Reihe auch in unserer gestrigen Kulturrundschau.

Außerdem: Jazz im Kino, ein kleiner, mit vielen Hörbeispielen versehener Überblick auf Mubi.

Besprochen werden Tony Gatlifs Musik- und Tanzfilm "Geronimo" (NZZ), Simon Curtis" Film "Die Frau in Gold" (Welt), Claude Lanzmanns "Der Letzte der Ungerechten" (Perlentaucher), Daniel Espinosas "Kind 44" (Perlentaucher, Welt), Paul Feigs Agentinnenkomödie "Spy" (Freitag, FR, Tagesspiegel), Simon Curtis" "Die Frau in Gold" (taz, critic.de, Tagesspiegel), der Essayfilm "B-Movie" über das alte Westberlin (Freitag) und  Bernd Schaarmanns Dokumentarfilm "Nice Places to Die" (FR).
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Literatur

Im Freitag liest Florian Schmid sowjet-russische Science-Fiction-Romane von Iwan Jefremow, dessen frühe Werke noch Aufbruchsstimmung verbreiteten, während es seinen späten Romanen nicht mehr gelang, die Zensur zu passieren: "Jefremow selbst hatte sich in den 40er und 50er Jahren nach eigenen Angaben ausführlich mit US-amerikanischer Science-Fiction beschäftigt und verstand seine kommunistische Utopie als "künstlerischen Gegenentwurf" zu den dystopischen Erzählungen aus dem kapitalistischen Westen. Faszinierend ist, dass er dann letztlich in seinem zweiten Roman ähnliche thematische Schwerpunkte setzte, wie sie in den libertären und feministischen Utopieentwürfen der späten 60er und 70er in den Vereinigten Staaten eine Rolle spielten."

In der NZZ porträtiert Markus Bauer die Autorin Carmen-Francesca Banciu, die im Februar als Dorfschreiberin von Katzendorf eine kleine Reihe über das Dorf für Dradio Kultur produziert hat. Hier der Anfang: "Ich habe mir das Dorf nicht ausgesucht. Es war umgekehrt. Eines Tages kam ein Anruf mit der Einladung. Wollen Sie sie annehmen? Ich soll für ein Jahr Dorfschreiberin von Katzendorf werden. Ein literarischer Preis einer sächsisch-rumänisch-ungarisch-roma Gemeinde aus Siebenbürgen. Aus Transsilvanien in Rumänien. Einer kleinen Gemeinde, von der ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Es ist ein sonniger Herbsttag. Ich spaziere auf dem Hügel entlang der Ortschaft. Der Hügel teilt das Dorf in zwei Welten. Im Tal links die Tziganie, der Ortsteil der Roma. Mit kleinen, bunten Häusern und engen, verwinkelten Gassen. Mit geflickten Blechdächern und Straßen voller Schlaglöchern. Rechts vom Hügel, entlang der Landstraße, streng geordnet und gleichmäßig geformt, die ehemaligen Häuser und Höfe der Sachsen. Kleine Burgen mit einer geschlossenen Straßenfront. Und langgestreckten Höfen." (Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6 der Reportage)

Außerdem: Die FAZ hat Marco Stahlhuts Reportage über Lesen in Indonesien online nachgereicht. Und der Bayerische Rundfunk bringt Harry Lachners Feature über die Essayistin Susan Sontag.

Besprochen werden Heinz Reins wiederveröffentlichter Roman "Finale Berlin" (Freitag), Anke Stellings "Bodentiefe Fenster" (Freitag), Tex Rubinowitz" "Irma" (CulturMag), Steffen Kopetzkys Roman "Risiko" (NZZ), Julian Volojs und Claudia Ahlerings Comic "Ghetto Brother" (Tagesspiegel) sowie die aktualisierte Dauerschau im "Literaturmuseum der Moderne" in Marbach (Welt).
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Kunst

Maike Schultz führt in der Berliner Zeitung durch die Stockholmer Graffiti-Szene.

Besprochen wird Sebastian Jungs Bildband "Winzerla" (taz).
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Stichwörter: Graffiti, Jung, Sebastian

Bühne

Inna Hartwich berichtet in der Berliner Zeitung vom ersten Festivaljahrgang des "Russischen Theaterfrühlings" in Berlin.

Besprochen werden eine Berliner Inszenierung von Peter Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" durch die Gruppe Nico and the Navigators (Tagesspiegel) und William Kentridges Amsterdamer "Lulu"-Inszenierung, die Udo Badelt vom Tagesspiegel trotz multimedialem Einsatz nicht überzeugen konnte: "Unter der Bilderschwemme lauert eine konzeptionelle Leere."
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Musik

Sollten die Berliner Philharmoniker sich nicht einfach mal entspannen, was ihre Dirgentenwahl betrifft? Mitnichten, hält Frederik Hanssen (Tagesspiegel) den zahlreichen Kritikern aus aller Welt entgegen. Die hätten die Sache ohnehin missverstanden: Hier werde schließlich kein "Maestro-Kult" bedient, vielmehr suchen die Philharmoniker "einfach nur nach einem Menschen, mit dem sie gerne ihre Zeit verbringen. Sie sind so selbstbewusst, dass sie für die Rubrik music director eigentlich keinen berühmten Namen brauchen, um international zu punkten. Aber wenn sie morgens zur Probe mit dem Chef fahren, möchten sie sich freuen - auf eine inspirierende Arbeit, auf fruchtbare Diskussionen, geführt auf Augenhöhe."

Außerdem: Thorsten Keller (Berliner Zeitung) gratuliert Tom Jones zum 75. Geburtstag. Für The Quietus hört sich Tristan Bath durch neue Veröffentlichungen aus dem Tape-Underground. Unter anderem lernen wir so auch die minimale Kammermusik von Josh Milrod kennen:



Besprochen werden ein "faszinierender" Auftritt von Matthias Goerne (Tagesspiegel), ein Konzert von Algiers (The Quietus), das neue Album von Café Unterzucker (taz), eine Mozart-Einspielung des Schumann Quartetts (Zeit) und ein Konzert des Geigers Giuliano Carmignola, dem laut Bernhard Uske (FR) "etwas Lakonisches, Bärbeißiges, Schnoddriges" eigne.
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