Vorgeblättert

Leseprobe zu Aatish Taseer: Terra Islamica. Teil 2

18.01.2010.
Ich war mir nicht sicher, auf welche Seite mein Vater mich stellte, als er mir diesen Brief schrieb - ob er mich als einen von ihnen betrachtete oder, was schlimmer war, als einen Verräter, den er in die Welt gesetzt hatte. "Glaubst Du wirklich", schrieb er mir, "Du erweist dem Namen Taseer einen Dienst, wenn Du derart gehässige antimuslimische Propaganda verbreitest?" Das war für mich der interessanteste Aspekt seines Briefes: Mein Vater, der jeden Abend Scotch trank, weder fastete noch betete, sogar Schweinefleisch aß und einmal zu mir sagte: "Erst als ich im Gefängnis war und sie mir nur den Koran zu lesen gaben - ich habe ihn mehrmals von vorne bis hinten gelesen - , erkannte ich, dass ich nichts damit anfangen konnte", mein Vater also fühlte sich durch das, was ich geschrieben hatte, als Muslim gekränkt. Die Macht der Religion erschöpfte sich nicht in der Befolgung ihrer Gebote. Die Religion war so etwas wie eine nationale Zugehörigkeit - etwas, das meinem diffusen muslimischen Bewusstsein verschlossen blieb.
     Als ich den Brief meines Vaters zu Ende gelesen hatte, musste ich ihm recht geben. Tatsächlich fehlte mir sogar die "oberflächliche Kenntnis" des pakistanischen und - wichtiger noch - des islamischen Ethos. Ich hatte missverstanden, was mein Vater meinte, als er sagte, er sei Muslim im Sinne einer muslimischen Kultur. Ich hatte geglaubt, dass er mehr oder weniger dasselbe meinte wie das, was ich selber in Delhi kennengelernt hatte: bestimmte Traditionen, Kleidung, Speisen, Feste und die Sprache. Aber jetzt stellte sich heraus, dass etwas viel Tiefergehenderes dahintersteckte. Seit jenem Brief fragte ich mich unablässig, in welchem Sinn mein Vater, der nach eigenem Bekunden nicht an die grundlegenden Glaubenssätze des Islam glaubte, ein Muslim war. Was machte ihn trotz seiner fehlenden Glaubensüberzeugung zum Muslim?
     Der Brief provozierte eine vehemente Gegenoffensive meinerseits. Mein Vater reagierte mit Schweigen, das im Laufe der Wochen immer frostiger wurde. Seine Frau und seine Tochter versuchten zu vermitteln, aber ich war nicht bereit, mich für irgendetwas, das ich geschrieben hatte, zu entschuldigen. Und obwohl ich ihm den persönlichen Angriff übelnahm, machte mir der Brief an sich nichts aus. Er hatte meine Neugier geweckt. Hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, provoziert worden zu sein, und dem Bedürfnis, etwas Konkretes zu unternehmen, kam mir der Gedanke einer islamischen Reise.
     Ich wollte die beiden Beobachtungen jenes Sommers miteinander verbinden: die neue, kraftvolle islamische Identität junger Muslime und meine späte Entdeckung der Religion meines Vaters. Sein Brief stellte mich vor die doppelte Herausforderung, den Islam und Pakistan besser zu verstehen.
     Aber ich wollte mich nicht auf Pakistan allein beschränken. Die Kraft, die auf meinen Vater wirkte, ging tiefer als jede nationale Identität, sie hatte mit dem Islam zu tun. Und um dies zu verstehen, würde eine Reise nach Pakistan allein nicht ausreichen. Pakistan, 1947 aus Indien herausgelöst, war um der Religion willen gegründet worden. Aber es besaß auch große Ähnlichkeit mit Indien, und ich hatte das Gefühl, auch noch andere muslimische Länder bereisen zu müssen, um herauszufinden, was genau die gemeinsame islamische Erfahrung war, die sich von dem unterschied, was für mich nur eine rätselhafte Spielart Indiens war. Außerdem wollte ich mir die Tatsache zunutze machen, dass sich die islamische Welt in einem Bogen vom Land meines Vaters bis in das Land spannte, in dem ich seinen Brief gelesen hatte. Eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Länder lag auf meiner Route: die programmatisch säkulare Türkei, wo der Islam seit den 1920 er Jahren aus dem öffentlichen Leben verbannt war; das arabisch-nationalistische Syrien, das in jüngster Zeit zur wichtigsten Anlaufstelle radikaler Islamisten geworden war; und der Iran, wo 1979 eine islamische Revolution stattgefunden hatte.
     Bis auf die Türkei war das Territorium, das zwischen meinem Vater und mir lag, Teil der arabischen Expansion im siebten und achten Jahrhundert, als sich der Islam bis nach Spanien auf der einen und Indien auf der anderen Seite ausbreitete. Ich entschied mich für eine Reise von einem Ende der islamischen Welt, Istanbul, bis nach Mekka, dem traditionellen religiösen Mittelpunkt, und dann weiter durch den Iran nach Pakistan. Der erste Teil war eine klassische islamische Reise, fast eine Pilgerfahrt von der einstmals größten Stadt der islamischen Welt bis zu seiner heiligsten. Der zweite Teil über den Iran nach Pakistan war eine Heimkehr in
das Land meines Vaters, wo die Wurzeln meiner Verbindung zum Islam lagen, bis an die Schwelle seines Hauses.


"Homo islamicus"


Es war November, der Himmel bedeckt und schwer. Ich stand vor einem Starbucks-Cafe in der Istiklal Caddesi und wartete auf Eyüp. Die Straße, eine quirlige Einkaufsmeile im Zentrum Istanbuls mit einer alten Trambahn, wurde gerade neu gepflastert, und der nächtliche Regen hatte auf den frisch verlegten weißen Steinen trübe Pfützen hinterlassen. Die jungen Leute, die sich in dieser Fußgängerzone drängten und den Pfützen auswichen, um ihre Jeans nicht mit dem braunen Schlamm zu beschmutzen, waren von auffallender Schönheit.
     Hier, so schien es, hatten sich die unterschiedlichsten Ethnien miteinander vermischt. Die Männer waren groß gewachsen, mit den hohen Backenknochen der Zentralasiaten, den hellen Augen der Europäer und der olivbraunen Haut der Mittelmeervölker. Sie waren schmalhüftig und muskulös und trugen knapp sitzende Jeans, eng geschnittene T-Shirts und dunkle Jacketts, die Haare kurz geschnitten und im Nacken sauber rasiert. Mit ihrem stolzierenden Gang und den gereckten Köpfen wirkten sie ein wenig eitel. Die stark geschminkten Gesichter und blondierten Haare der Frauen verwischten ihre ethnische Identität eher. Und doch verliehen die vielen müßiggängerischen, gut gekleideten jungen Leute der Straße etwas Rauschhaftes, Erotisches.
     Die Istiklal Caddesi war, wie diese jungen Leute, eine hybride Mischung. Die Architektur der Hauptstraße mit ihren Modegeschäften und Wohnhäusern, deren Fassaden mit kleinen Balkonen und Säulen geschmückt waren, wirkte europäisch; die Gassen rechts und links führten zu orientalischen Basaren mit Fisch- und Gemüseständen. Die Straße hatte schon bessere Zeiten gesehen, doch jetzt schien sich ihr Schicksal erneut zu wenden. Überall gab es Bars, Cafes und Buchläden; ich entdeckte ein Adidas-Geschäft, Nachtclubs, Schwulensaunas und Fitnessclubs, daneben Botschaften und Bürohäuser. Dazu ertönte Musik aus allen Richtungen, Volksmusik ebenso wie mit Technosound unterlegte Sanskrit-Rezitationen.


Ich war ein paar Tage zuvor mit dem Zug über Budapest und Sofia nach Istanbul gekommen, eine gemächliche Annäherung durch die ehemaligen Territorien des Osmanischen Reiches. Von dessen weit nach Europa reichendem Einfluss waren nur noch wenige Spuren erhalten: in Budapest der renovierte, fliesenverzierte Schrein eines türkischen Derwischs, das nördlichste islamische Bauwerk Europas; und in Sofia die letzte der einst neunundsechzig Moscheen, ein kleiner, etwas heruntergekommener Bau an der Ecke einer geschäftigen Hauptstraße mit einem Backsteinminarett zur Straße hin.
     In Istanbul wohnte ich in einem modernen Hotel, einem Flachbau "im Zentrum mit Blick auf den Bosporus. Am Morgen nach meiner Ankunft wurde ich Zeuge einer erstaunlichen Szene, die sich auf dem bleigrauen Wasser der Meerenge abspielte. Ich stand am Ufer, ein paar Soldaten und alte Männer neben mir tranken Kaffee an einem der traditionellen Kioske. Plötzlich hielten alle in ihrer Bewegung inne und blickten aufs Wasser. Auch der Mann am Kiosk schaltete seinen Herd aus und hob den Kopf. Die Soldaten richteten sich auf.
     Das erste Tuten, das über den jetzt stillen Bosporus herüberdrang, klang wie das Stöhnen eines riesigen Säugetiers, eines Elefanten oder Wals, der einem toten Leittier nachtrauert. Die Soldaten "standen stramm und salutierten. Dann, gleichsam als Antwort, weitere Sirenen mit dem Eifer von Jungtieren einer Herde. Kein Verkehr mehr auf der Straße hinter mir. Ein paar Fußgänger, gerade erst aufgetaucht, erstarrten mitten in der Bewegung. Die ganze Stadt war zum Stillstand gekommen. "Eine Minute verging, und nichts geschah. Weiße Möwen kreisten über unseren Köpfen, als wären sie mit Tauen an den Schiffen festgebunden. Allmählich verklangen die Sirenen, und als der letzte Ton verhallt war, erwachte der Bosporus wieder zum Leben, und auch der Verkehr kam wieder in Gang.
     Es war 9.06 Uhr am 10. November, und die Ehrung durch diese einminütige Stille galt Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Republik Türkei, dem das Land seine streng säkulare Identität verdankt. Als Atatürk nach einem Krieg gegen die Besatzungsmächte in den 1920 er Jahren den modernen türkischen Staat gründete, ließ er die sufistischen Klöster und Versammlungshäuser schließen, Fez und Schleier verbieten und die Sprache von persischen und arabischen Lehnwörtern reinigen. Er ersetzte die arabische durch die lateinische Schrift und schaffte das Kalifat ab. Damit besiegelte er das Ende aller religiös untermauerten politischen Autorität, die seit den Anfängen des Islam existiert hatte. Es schien, als wollte Atatürk die kulturellen Verbindungen des neuen Staates zur größeren islamischen Welt kappen, der Türkei das ihr Ureigene zurückgeben und alles andere verwerfen.
     Mein Vater hatte in seinem Brief auch das Kalifat erwähnt: "Die Bevölkerung der von den Muslimen über Jahrhunderte hinweg besetzten europäischen Länder wie Griechenland und Spanien wurde nicht gezwungen, zum Islam überzutreten. Tatsächlich genossen die Juden während der ganzen Zeit den Schutz des muslimischen Kalifats, und auch die Christen konnten sich frei entfalten." Für meinen Vater gehörte das Kalifat zu jener kollektiven muslimischen Geschichte, die er sich zu eigen machen konnte, ohne selbst religiös zu sein. Dieser Gedanke einer großen islamischen Vergangenheit war meinem vagen Gefühl des Muslimseins fremd. Gleichwohl bewunderte mein Vater Atatürks Macht, seine Entschlossenheit zur Modernisierung, obwohl dies zum Bruch mit der kollektiven islamischen Vergangenheit und zur Gründung eines Staates geführt hatte, der von seinem Verständnis der Religion her das genaue Gegenteil Pakistans war. Butt und mein Vater hatten - jeder auf seine Weise - von einer großen islamischen Vergangenheit gesprochen. Und in den sechs Wochen, die ich für meinen Türkeiaufenthalt eingeplant hatte, wollte ich nun erkunden, welche Rolle genau die Religion in dem Staat spielte, der so entschieden mit dem Islam gebrochen hatte.

Teil 3