Efeu - Die Kulturrundschau

Das dunkle Zentrum

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2016. Der ukrainische Premier empfängt immer noch vor Getreidefeld mit Blümchen, notiert der Standard. Die taz friert sich durch Alejandro G. Iñárritus Survival-Western-Epos "The Revenant". Die NZZ porträtiert die chinesische Autorin Yiyun Li als Star der exilchinesischen Literatur. Die SZ fröstelt vor Benedetto Calcagnos neuem Gebäude für den Europäischen Rat in Brüssel. Die nachtkritik feiert in Halle die Stunde der Komödianten - und ein Stück DDR-Theatergeschichte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2016 finden Sie hier

Literatur

In der NZZ porträtiert Andreas Breitenstein die 1972 in Peking geborene, seit 1996 in den USA lebende Yiyun Li als Star der jungen chinesischen Literatur. Auf Deutsch ist gerade ihr Roman "Schöner als die Einsamkeit" erschienen, der das postrevolutionäre China nach dem Tiananmen-Massaker beschreibt und das Leben derer, die im Exil gelandet sind: "Das dunkle Zentrum, um das alles kreist, ist die Vergiftung Shaoais, einer Sympathisantin der Demokratiebewegung, die im Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens endete und in China bis heute totgeschwiegen wird. Shaoai büßte ihr Engagement mit dem Ausschluss von der Universität. Sozial ausgegrenzt, übt sie den Zorn auf die Feigheit ihrer Umgebung. Das Gift bringt sie nicht um, führt aber zu einem irreparablen Hirnschaden; pflegebedürftig findet sie erst 21 Jahre später Erlösung im Tod. Damit, dass ihr ins Monströse aufgedunsener Körper in einem mondänen Pekinger Krematorium verbrannt wird, hebt der Roman an."

Besprochen werden Alexander Nitzbergs Neuübertragung von Boris Sawinkows russischem Terroristenroman "Das fahle Pferd" (Standard),Leila Chudoris Indonesien-Roman "Pulang" (NZZ), Karl Wolfgang Flenders' "Greenwash Inc." (Tagesspiegel), Sandra Weihs' Borderline-Drama "Das grenzenlose Und" (ZeitOnline), Carsten Strouds Thriller "Der Aufbruch" (SZ),Wilhelm von Humboldts "Briefe Juli 1791 bis Juni 1795" (SZ) und Christoph Poschenrieders "Mauersegler" (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben im Netz in unserem fortlaufend aktualisierten Metablog Lit21.
Archiv: Literatur

Design


An 1965 image of Charles with members of the Eames Office staff wearing 4th of July Glasses designed by Deborah Sussman. Foto: © Eames Office LLC

Marion Löhndorf besuchte für die NZZ im Londoner Barbican Centre eine Retrospektive der ungemein produktiven amerikanischen Möbeldesigner Charles und Ray Eames und stellt fest, wie modern die beiden doch waren - auch jenseits des Designs: "Der Hang zur Inszenierung erstreckte sich vom Privaten bis hin zur Vermarktung ihrer Produkte, die Charles und Ray Eames streng überwachten: Fotoaufnahmen und Werbefilme hatten sie so genau unter Kontrolle wie die Bestückung ihrer Showrooms. Die hoch organisierte Ray Eames führte Listen über jeden einzelnen Gegenstand ihrer Ausstellungsräume - und ihres eigenen Zuhauses."
Archiv: Design

Bühne


"Stunde der Komödianten". Foto © Julia Fenske

In Halle hat Michael Kind für die "Stunde der Komödianten" Schauspieler versammelt, die 1979 an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch im selben Jahrgang waren. Am Abend erzählen sie von ihrem Leben und dem Schauspielerberuf, "eine Mischung aus Konstruktion und Improvisationen, aus gebauten Szenen und frei entstehenden Situationen", erklärt Hartmut Krug in der nachtkritik. "Selten läuft er sich etwas leer, zumeist aber ist er ungemein spannend. Dabei wechselt er zwischen Szenen, die heftig auf Wirkung hin inszeniert sind, und individuellen, wie im Disput gerade entstehenden Szenen. Wunderbar, zu erleben, wie hier Schauspieler auf der Bühne sich freuen über das, was ihre Kollegen da zeigen. So entsteht ein Erinnerungsabend ohne falsche Nostalgie, der von DDR-Theatergeschichte, von DDR-Mentalitäten und auch ein wenig von politischen Haltungen erzählt."
Archiv: Bühne

Kunst

Am staatlichen Verhältnis zur Kunst hat sich seit der Revolution in der Ukraine nicht viel geändert, notiert in Kiew Herwig G. Höller für den Standard. "So zeichnet sich der Eingangsbereich des 'Hauses der Regierung' durch ein spätsowjetisch anmutendes Historiengemälde mit ukrainischen Kriegern aus, das Wilen Tschekanjuk (1931-2000), ehemals hochoffiziöser 'Volkskünstler der ukrainischen Sowjetrepublik', noch kurz vor seinem Tod angefertigt hatte. ... Besonders sticht im Stalinbau aber jener Besprechungsraum hervor, in dem Premier Jazenjuk ausgerechnet Gäste aus dem Ausland trifft: ein banales Getreidefeld mit Blümchen und Sonne im Stile ukrainischer Sowjetkunst der Siebzigerjahre, eine biedere Klosteransicht oder impressionistische Felsen im Meer, die der 'Volkskünstler der Ukraine' Stepan Dschus 2007 wohl bei Claude Monet entlehnt hat."

Weitere Artikel: Roman Bucheli überlegt in der NZZ, ob die Gründung von Dada vor hundert Jahren in Zürich vielleicht auf einem Missverständnis beruhte. Im Moma führt der Künstler Walid Raad durch seine eigene Ausstellung, berichtet ein bei einer solchen Führung eifrig mitschreibender Patrick Bahners in der FAZ.

Besprochen werden die Ausstellung "Asia in Amsterdam" im Rijksmuseum in Amsterdam (Tagesspiegel), die von Koyo Kouoh kuratierte Schau "Streamlines" in den Deichtorhallen Hamburg ("äußerst harmlos", ärgert sich Radek Krolczyk in der taz), die kulturhistorische Ausstellung "Bart - zwischen Natur und Rasur" im Neuen Museum in Berlin (taz), die Ausstellung "A Woman's War" mit Fotografien von Lee Miller im Imperial War Museum London (NZZ) und die Schau "New Objectivity: Modern German Art in the Weimar Republic, 1919-1933" im Los Angeles County Museum (SZ).
Archiv: Kunst

Film


Wegen Frust im Frost: Leonardo DiCaprio auf Oscarpirsch in "The Revenant".

In der SZ mokiert sich David Steinitz über die ausgestellte, übergroße Authentizitätsästhetik in Alejandro G. Iñárritus Survival-Western-Epos "The Revenant", dessen bereits seits Wochen in den Medien kolportierte, hochstrapaziöse Entstehungsgeschichte Steinitz vor allem als Oscar-Kalkül im Sinne des zwar mehrfach nominierten, aber stets erfolglos gebliebenen Hauptdarstellers Leonardo DiCaprio deutet. Barbara Schweizerhof rät den taz-Lesern unterdessen, sich für die Kinovorführung gut einzupacken, denn im Film geht ziemlich frostig zu. "Als Zuschauer kann man in diesen Film eintauchen wie in einen Alb- oder Fiebertraum, den andere träumen müssen: staunend und wohlig schaudernd. Während die Handlung eher dürftig bleibt (...), übernehmen Empfindungen wie Kälte, Schmerz, Hunger, Unerbittlichkeit und Rachedurst sozusagen den roten Faden." Anke Westphal von der Berliner Zeitung wohnte mit diesem Film der "Geburt der Zivilisation aus dem Geist des Tötens" bei und hatte überhaupt "ein eindringliches Kinoerlebnis".

Weitere Artikel: Tilman Krause porträtiert in der Welt den Schauspieler Gabriel Merz. In der Presse stellt Elisabeth Hofer den österreichischen Regisseur Patrick Vollrath vor, dessen Kurzfilm "Alles wird gut" für den Oscar nominiert ist. Marisa Buovolo (NZZ), Gunda Bartels (Tagesspiegel) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren Diane Keaton zum 70. Geburtstag. Jan Schulz-Ojala (Tagesspiegel) und Andreas Kilb (FAZ) schreiben zum Tod des Kameramanns Vilmos Zsigmond.

Besprochen werden Afonso Poyarts Thriller "Die Vorsehung" mit Anthony Hopkins (Presse), Joachim Triers Familiendrama "Louder Than Bombs" (Presse) und eine Ausstellung zur Bedeutung der Filmästhetik von Alain Resnais' Film "Letztes Jahr in Marienbad" für Kunst, Fotografie und Mode in der Kunsthalle Bremen (Standard).
Archiv: Film

Musik

"Ziemlich öder Space-Pop, zerschlissene Cajun-Beats" und ganz viel New-York-Nostalgie: Für David Bowies neues Album "Blackstar" findet Kai Müller im Tagesspiegel nicht gerade die freundlichsten Worte. Insbesondere der ausgestellte Eklektizismus und die demonstrative Vermeidung jeglicher Eingängigkeit stört den Kritiker: "Vielleicht macht man solche Alben, wenn man Nachschub an neuen Songs für eine Rockshow nicht mehr benötigt. Alben, auf denen Instrumente durcheinanderwirbeln wie Schneeflocken in einer Wunderkugel. Auf denen es E-Gitarren-Soli wie vor vierzig Jahren gibt. Gleichzeitig bewegt sich Bowie in einem hermetischen Kokon, aus dem ihm auch die Hip-Hop-Beats eines Kendrick Lamar nicht heraushelfen, die er während der Aufnahmesessions gehört hat."

Weitere Artikel: Für die FAZ unterhält sich Eleonore Büning mit dem Pianist Alfred Brendel, der heute 85 Jahre alt wird. Und: Der ostdeutsche, im Zuge von Oliver Kalkofes TV-Parodien zum Kultstar avancierte Volksmusiker Achim Mentzel ist überraschend gestorben. Eines seiner letzten großen Interviews hat er dem Punk-Fanzine Plastic Bomb gegeben, das nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Anekdoten zu seiner DDR-Flucht und -Rückkehr sehr lesenswert ist.

Besprochen werden das neue Coldplay-Album (FR) und eine neue CD-Box mit späten Aufnahmen von Peggy Lee ("Ihr Hauchen war immer noch von berückender Schönheit", versichert in der Presse Samir H. Köck).
Archiv: Musik

Architektur



Laura Weissmüller fröstelt es in der SZ vor dem neuen, von Benedetto Calcagno konzipierten Gebäude des Europäischen Rats in Brüssel. Was mit gläsernen Fassaden Transparenz markiert, ist in Wahrheit tatsächlich ein verschanzter Bunker: "Hier schottet sich jemand ganz entschieden von der Öffentlichkeit ab. Poller hoch, Sicherheitsglas voran. Zuviel Bürgernähe erhöht nur das Risiko eines Anschlags. Das stimmt. Die Behauptung, echte Offenheit schaffe echte Gefahren, ist aber auch das beste Argument für immer extremere Schutzmaßnahmen. ... Die Tendenz [ist] klar: Die Angst hat sich zur festen Größe in der Architektur manifestiert."
Archiv: Architektur