Essay

Entfremdete Europäer

Von Gabriella Gönczy
27.11.2004. Heute tagt in Berlin eine Konferenz, die "Europa eine Seele geben" will. West- und Osteuropa leben in parallelen Universen. Und vor allem der Westen sollte sich mehr für den Osten interessieren.
Den Herbst 1989 habe ich als 16-jährige Schülerin in Budapest erlebt. Es war eine frohe und spannende Zeit: wir nahmen an den Demonstrationen teil, kochten Essen für DDR-Flüchtlinge und spürten genussvoll jede Sekunde der Freiheit. Ich kann mich gut daran erinnern, dass unsere Euphorie für eine kurze Zeit auch Westeuropa erfasste. In diesen Monaten freuten sich die Menschen auf dem ganzen Kontinent darüber, dass der verhasste Eiserne Vorhang aus unserer Welt endlich und endgültig verschwindet. Das ist mein erstes, einschneidendes Erlebnis als junge Erwachsene: die gefühlsmäßige Einheit aller Europäer im Herbst von 1989.

Diese Zeit ging leider schnell zu Ende. Seitdem wird die Diskussion über die Osterweiterung von wirtschaftlichen Aspekten dominiert. Demzufolge basiert heute die Unterstützung der Europäischen Idee und der Identifikation mit der EU weniger auf gemeinsamen fundamentalen Werten oder auf der Erinnerung an historische Ereignisse wie den Herbst 1989, sondern auf Kosten-Nutzen-Kalkülen: Die Unterstützung der Europäischen Idee hängt zur Zeit vor allem davon ab, wie viel ich - meine Region, mein Land - für die Osterweiterung bezahlen muss und wie viel ich davon profitieren kann.

Einige Wochen vor dem 1. Mai 2004 habe ich die Zeitungen in Ungarn und Deutschland jeden Tag parallel gelesen und dabei die Kosten-Nutzen-Kalküle auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs beobachtet. Dieser Vergleich ergab einen starken Kontrast: Nach Ungarn kehrte ein bisschen die Stimmung von ´89 zurück; Viele feierten den EU-Beitritt des Landes als den eigentlichen Fall der Mauer, als eines der wichtigsten Ereignisse der tausendjährigen ungarischen Geschichte. In Deutschland berichteten die Medien dagegen überwiegend über Kosten, Risiken und Nebenwirkungen der Osterweiterung - über grenzüberschreitende Kriminalität, wegfallende EU-Fördergelder, bröckelnde Lebensmittelsicherheit und so weiter. Die andere Seite des Kosten-Nutzen-Kalküls blieb dabei zumeist unbeleuchtet, nämlich wie sehr Deutschland von der Osterweiterung profitiert und welchen - oft schmerzlich hohen - Preis Ostmitteleuropa für den EU-Beitritt bezahlen muss(te).

Plötzlich wurde allseits auch die Befürchtung laut, dass nach dem 1. Mai 2004 massenweise "Billigarbeitskräfte" aus Polen und Tschechien nach Deutschland kommen werden. Von Einschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten, die möglicherweise bis 2011 in Kraft bleiben, war kaum die Rede. Ich beobachtete in meinem persönlichen Umfeld, im Freistaat Sachsen, wie die Menschen in ihrer künstlich erzeugten, unbegründeten Panik fast erstarrten. Sie gingen aus Protest nicht zur Europawahl, Monate später wählte fast 10 Prozent von ihnen eine rechtsradikale, ausländerfeindliche Partei in den Sächsichen Landtag, die unter anderem gegen die Osterweiterung plädierte. An diesem erschütternden Ergebnis trägt die negative Medienkampagne über die Osterweiterung Mitschuld. Es ist zwar verständlich, dass die Medien die Angst der Menschen vor Veränderungen aussprechen. Wenn jedoch ausgerechnet die östlichen Nachbarn diese als bedrohlich empfundenen Veränderungen verkörpern, kann das auf beiden Seiten der Grenze schwere Konsequenzen haben.

Die Bürger der neuen und der alten EU-Mitgliedstaaten leben in parallelen (Medien)-Universen, in unterschiedlichen Informationswelten. Daraus entstehen Ängste und Missverständnisse, die das grenzüberschreitende Vertrauen, die Empathie und Solidarität zwischen Ost- und Westeuropäern verringern und ein ernstzunehmendes Konfliktpotenzial für die Zukunft bedeuten. Europäische Identität - im Sinne von Vertrauen der Europäer zueinander und ihrer Identifikation mit der EU - sind für unsere Zukunft unverzichtbar, wenn sie bald auf EU-Ebene als Legitimationsgrundlage politischen Handelns gebraucht wird.

Die wirtschaftliche Einheit der EU25 kann leider nur als ein langfristiges Ziel gelten. Dagegen kann die kulturelle Einheit Europas auch kurzfristig gelingen, wenn die Diskussion von der wirtschaftlichen Disparität zwischen Ost- und Westeuropa auf unsere gemeinsame, auch im EU-Recht verankerte Werte gelenkt wird. Wenn die europäische Integration weiterhin als ein genuin wirtschaftliches Projekt behandelt wird, dann werden die euroskeptischen, rechtspopulistischen Stimmen in Ostmitteleuropa immer lauter, die jetzt schon über ein "Zweiklasseneuropa" klagen. Kultur ist nicht nur ein "Türöffner" - wie Günter Verheugen formulierte -, nicht nur ein Mittel, mehr Kohäsion und Gemeinschaft in Europa kurzfristig entstehen zu lassen. Kultur ist auch der einzige Bereich unserer Gesellschaften, in dem Ost- und Westeuropäer frei von jeglicher Hierarchie, auf gleicher Augenhöhe einander begegnen können.

Wenn sich Westeuropa keinen Marshall-Plan für Ostmitteleuropa im wirtschaftlichen Sinne leisten kann, dann sollte es wenigstens einen "emotionalen Marshall-Plan" für Ostmitteleuropa wagen - und zwar mit dem Ziel, mehr grenzüberschreitendes Vertrauen, Empathie und Solidarität der Europäer zueinander zu wecken.

*(Wir danken Gabriella Gönczy für den Text ihres Vortrags , den sie heute auf der Berliner Konferenz gehalten hat. Mehr Informationen über die Berliner Konferenz, die noch bis morgen läuft, finden Sie hier. d. Red.)

Gabriella Gönczy, geboren 1973, studierte in Budapest, Wien und Berlin Neuere Deutsche Literatur; zur Zeit promoviert sie in Leipzig mit einer Arbeit über Heinrich von Kleist. Sie schreibt u.a. für die ungarische Edition von Europas Kulturzeitung Lettre International. Für die Perlentaucher-Magazinrundschau liest sie ungarische Magazine.