Interview

Die These vom Sound der Revolte

Von Martin Bauer, Wolfgang Kraushaar, Stefan Mörchen
12.10.2016. Unmusikalischer als Rudi Dutschke war keiner: Wer Pop und Protest assoziiert, liegt zumindest in den sechziger Jahren falsch. Erst ab 1970 begannen die Phänomene sich zu verbinden. Auszug aus einem Mittelweg-Gespräch mit Wolfgang Kraushaar über Vibrationen und Intensitäten.
Der gerade erschienenen Doppelnummer der Zeitschrift Mittelweg 36 (Inhaltsverzeichnis) ist Pop endgültig historisch geworden: "Wenn Pop Geschichte wird". Wir übernehmen einen kleinen Auszug aus einem dreißigseitigen Gespräch, das Martin Bauer und Stefan Mörchen mit Wolfgang Kraushaar über Pop, die 68er-Bewegung, die K-Gruppen, Pop Art und weitere "Formen der Intensitätssteigerung" geführt haben, Phänomene, die aus unterschiedlichen Richtungen auf einender zuliefen, aber anfänglich durchaus von einander getrennt waren. Wir danken Kraushaar, Bauer und Mörchen für die Abdruckgenehmigung. (D.Red.)

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Mittelweg 36: In seinem Buch Als wir jung und schön waren behauptet Matthias Matussek: "Die genuine Versammlungsform jener Zeit ist nicht die Demonstration, sondern das Konzert, das Festival." Hat er damit Wichtiges über 1968 mitgeteilt?

Kraushaar: (lacht) Mir verrät diese These zunächst einmal, dass Matthias Matussek ein Zuspätgekommener ist.

Und das heißt?

Seine Behauptung lässt sich schon rein empirisch widerlegen: Konzerte haben zumindest hierzulande in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre keine besondere Rolle gespielt. Das änderte sich erst ab 1970, als man versuchte, sich das, was durch den Woodstock-Film und die entsprechende Doppel- LP massenmedial verbreitet wurde und überall präsent war, zu eigen zu machen und zu imitieren. Das Woodstock-Konzert fand ja im August 1969 statt. Das erste wirklich große deutsche Open-Air-Konzert folgte im September 1970 auf der Ostseeinsel Fehmarn. Zuvor waren zweifellos Demonstrationen und Kundgebungen die zentrale Vergemeinschaftungsform all derer, die sich irgendwie als oppositionell oder rebellisch verstanden. Diese Geschichte mit den Open-Air-Konzerten stammt ja ursprünglich aus den USA. Das erste große Pop-Konzert im Freien fand im Juni 1967 in Monterey in Kalifornien statt. Der wichtigste Veranstalter von Pop- und Rock-Konzerten ist damals ein Mann namens Bill Graham gewesen. Der war so etwas wie die Seele von Haight Ashbury, der Hippie-Hochburg in San Francisco. Graham war ein deutsch-jüdischer Immigrant, in Berlin geboren, 1938 in die Vereinigten Staaten geflohen. Der hat ab 1965 mehr oder weniger alles organisiert, was in San Francisco angesagt war: Jefferson Airplane, Grateful Dead, die Doors, Velvet Underground. Ohne Bill Graham hätte es auch das Konzept für Woodstock nicht gegeben. Woodstock war, wenn man so will, die Verlagerung der soziokulturellen Figuration von Haight Ashbury auf die andere Seite der Vereinigten Staaten an die Ostküste. Die Wahl des Ortes war im Grunde genommen eine Geste der Ehrerbietung gegenüber Bob Dylan. Denn der wohnte in Woodstock, und man wollte ihm das Konzert sozusagen vor die Haustür legen. Aber Dylan, der ja immer schon ein sehr eigener Mensch war, ist auf dieses Angebot überhaupt nicht eingegangen und hat sich nicht beteiligt. Im Gegensatz zu Jimi Hendrix, The Who, Joe Cocker, Carlos Santana und wem auch immer - die Besetzungslisten von Woodstock sind ja Legende geworden, und viele damals noch weniger bekannte Künstler haben ihre ganze spätere Karriere darauf aufgebaut, dass sie in Woodstock mit dabei waren.

(Video: Musiker von Santana über Woodstock:)



Wie erklären sich dieser Erfolg und die Wirkung von Woodstock?

Das hat in gewisser Weise mit einer Art Gegenbewegung zu der ursprünglichen Idee zu tun, ein Westküstenphänomen an die Ostküste zu holen. Das Ergebnis wurde nämlich sozusagen wieder nach Kalifornien zurückgespielt, genauer gesagt nach Hollywood. Dort hat man 1970 aus dem Megakonzert einen Musikfilm gemacht, und erst dadurch wurde Woodstock nachträglich zu einem globalen Ereignis. 1969 bekam man das gar nicht so richtig mit. Eine ausführliche aktuelle Berichterstattung gab es hierzulande kaum. Ich erinnere mich jedenfalls nicht daran, darüber damals irgendetwas in einer Zeitung gelesen zu haben. Entscheidend war der Film. Als der in den Kinos lief und die Alben auf den Markt kamen, wollten alle nachziehen.

Womit wir wieder bei Fehmarn wären.

Richtig. Fehmarn war schon insofern etwas Besonderes, als die Veranstalter auch einige echte Stars - wie den in seinem Nimbus alles überragenden Jimi Hendrix - eingekauft hatten. Wo die Bühne stand, erinnert heute übrigens ein Gedenkstein an ihn, und es findet alljährlich eine Gedenkveranstaltung zu seinen Ehren statt. Fehmarn sollte bekanntlich sein letztes Konzert werden. Er ist ja keine zwei Wochen später in London gestorben. Das Festival lief über drei Tage, Eintrittspreis 28 DM - was damals sehr viel Geld war. Trotzdem sind etwa 25 000 Leute dorthin gepilgert. Das Ganze stand aber unter einem äußerst ungünstigen Stern, allein deshalb schon, weil das Wetter nicht mitspielte. Diese Möglichkeit hätte man natürlich einkalkulieren müssen, schließlich war schon September. Es war kalt und stürmisch und es hat geschüttet. Der Sound war miserabel; der ist in den Sturmböen regelrecht verflogen, und mit der Technik gab es wegen der Nässe immer wieder Probleme. Die Zuhörer standen die meiste Zeit über im Matsch und waren völlig durchgefroren. Vor lauter Frust und um sich zu entschädigen haben sich unheimlich viele im Publikum regelrecht zuge- kifft. Ich habe eine Nacht dort durchlitten und bin dann am Abend des zweiten Tages abgereist, weil es einfach unerträglich war. Das Wetter war noch nicht mal das Schlimmste. Es waren etwa 180 Hells Angels aus Hamburg angereist, die sich als Ordner engagieren ließen. Die hatten einen Brass auf alle Hippies und haben viele, die sie dafür hielten, ausgeraubt und zusammengeschlagen. Außerdem waren um das gesamte Gelände herum drei riesige Zäune aufgebaut worden. Für mich war es ein Open-Air-Konzert mit der Attitüde eines Konzentrationslagers. Und jeder, der den Versuch wagte, durch einen dieser Zäune durchzuschlüpfen, wurde brutal zusammengeschlagen. Das Ganze endete schließlich damit, dass ein Fahrzeug und das Zelt der Veranstalter angezündet wurden. Fehmarn war aber auch der erste große Auftritt von Ton Steine Scherben, und als die dann am Ende "Macht kaputt, was euch kaputt macht" intonierten, brannte schon die Hütte der Veranstalter. Das war alles völlig aus dem Ruder gelaufen und organisatorisch eine einzige Katastrophe.

(Gedenkstein für Jimi Hendrix auf Fehmarn, Von Joachim Müllerchen - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons.)



Die Veranstalter blieben am Ende auf einem Berg Schulden sitzen. Ich habe mir damals geschworen, mir so etwas nie wieder anzutun, und bin jahrelang nicht mehr zu Open-Air-Konzerten gegangen. Übrigens ist Fehmarn in diesem Jahr durchaus nicht das einzige Festival gewesen. Ich selbst habe 1970 drei, vier verschiedene Open-Air-Konzerte erlebt, darunter ein großes im Frankfurter Radstadion mit Sly & the Family Stone, Black Sabbath und Family. Und auf der Burg Herzberg in Hessen fand das erste große deutsche Rockfestival statt, da habe ich Tangerine Dream, Amon Düül, Can und Guru Guru gehört. Neben den bekannten Bands traten bei diesen Konzerten auch viele innovative Gruppen auf und machten zum ersten Mal von sich reden. Da passierte etwas Neues, und man spürte förmlich, wie sich die Leute mitreißen ließen. Viele pilgerten die ganze Sommersaison über von einem Open-Air-Konzert zum anderen, nach Amsterdam beispielsweise oder auch auf die Isle of Wight. Und es bildeten sich feste Gruppen, die beieinanderblieben und das gemeinsam erlebt haben und die das Gefühl hatten, bei etwas ganz Neuem dabei zu sein.

In dem, was Sie von Fehmarn erzählen, ist doch eine ganze Reihe von Punkten versammelt, die uns beschäftigen sollten. Einerseits berichten Sie, dass sich immerhin 25 000 Leute auf den Weg Richtung Insel gemacht haben, beharren dennoch auf der Bedeutung, die Demonstrationen als die eigentliche Form politischer Vergemeinschaftung hatten. Waren die Vergemeinschaftungserlebnisse, die Konzertbesuche boten, also weniger wichtig? Hat Matussek einfach unrecht?

Nein - es geht mir gar nicht so sehr ums Rechthaben. Worauf ich hinaus- will, ist der Hinweis auf den Unterschied, den ein paar Jahre ausmachen. Was ich in Bezug auf Matussek gesagt habe, bezieht sich auf die späten 60er-Jahre. Das ist wichtig. In diesen Jahren waren ganz eindeutig Demonstrationen, Kundgebungen, Sit-ins und anderes mehr die zentralen Verge- meinschaftungsformen des Protests und der Gegenkultur. Erst 1970 kam mit den Open-Air-Konzerten und ähnlichen Veranstaltungen ein zweites, ganz eigenes Moment hinzu.

Und dann gehörte beides zusammen?

Nicht unbedingt. Es gibt ja die These vom "Sound der Revolte", wonach die Rock- und Popmusik der Sound der Protestbewegung gewesen sei. Das ist aber eine Pauschalisierung, man muss das nach verschiedenen Ländern und Zeitphasen aufschlüsseln. Für die USA etwa ergibt sich ein anderes Bild als für Großbritannien und für die Bundesrepublik und Westberlin wieder ein anderes. Und es sieht eben auch anders aus je nachdem, ob man sich die Jahre von 1965 bis 1969 anschaut oder die ab 1970. Da muss man einfach differenzieren und genau sagen, worüber, über welchen Zeitraum und über wen man redet. Lassen Sie mich vielleicht so herum anfangen: Für mich persönlich stimmt diese These sogar. Für mich war die Rock- und Popmusik tatsächlich so etwas wie der Sound der Revolte. Das hängt damit zusammen, dass ich 1964/65 durch die Beatles sozialisiert worden bin, durch die Stones und durch all die Bands, die die sogenannte britische Pop-Invasion ausgemacht haben. Dadurch war man sozusagen schon in einem gewissen Takt. Für uns war völlig klar, dass die politischen Themen, über die wir redeten, und eine bestimmte Art aufrührerischer Musik irgendwie zusammengehörten. Das war von Anfang an so. Das traf aber für die Kerngruppen der 68er-Aktivisten nicht zu. Überhaupt nicht.

Und darum behaupte ich, dass die These vom Sound der Revolte zwar nicht vollständig, aber doch vom Akzent her eine post-festum-Konstruktion darstellt, die sich teilweise nicht gut begründen oder wirklich belegen lässt. Der organisatorische und politische Kern der 68er-Bewegung ist ja der SDS gewesen, das ist überhaupt keine Frage. Wenn man sich jetzt die beiden prominentesten und wichtigsten Wortführer des SDS anschaut, nämlich Rudi Dutschke für Berlin und Hans-Jürgen Krahl für Frankfurt, in den beiden großen Zentren, was sieht man dann? Dutschke hatte null Interesse an Popmusik, der hatte auch null Interesse an Rockmusik. Für ihn gab es nichts anderes als die Lieder der Arbeiterbewegung. Es gibt ja eine Filmaufnahme, auf der zu sehen ist, wie ihn jemand irgendwie dazu gebracht hat zu tanzen (lacht). Da versucht er völlig ungelenk, das Tanzbein zu schwingen. Das funktionierte einfach nicht. So etwas wie der Sound der Revolte kam in seinem Kopf und in seinem Habitus überhaupt nicht vor, dafür gab es keinen Ort. Und wenn Hans-Jürgen Krahl, den die Presse damals zum "einäugigen Revoluzzer" stilisiert und zum Vordenker der 68er-Revolte gemacht hatte, in Frankfurt in eine bestimmte Kneipe kam, in der eine Jukebox stand, dann hat der stets ein und denselben Song ausgewählt, nämlich "Mama" von Heintje. Darauf war er abonniert, diese Schnulze wollte er hören und sonst nichts. Das passt nun nicht so ganz zum Sound der Revolte. Damit hätte er zwar das Zeug zum Liebling aller Schwiegermütter gehabt, aber wohl doch nicht zu einem Rebellen, den eine bestimmte Musik stimuliert.

(Heintje: "Mama".)


Auch wenn man sich weiter umschaut, etwa in Berlin mit Zentralfiguren wie Christian Semler, Bernd Rabehl, Jürgen Horlemann und anderen, die haben allesamt mit Popmusik überhaupt nichts am Hut gehabt. Der Einzige, der in gewisser Weise eine Ausnahme darstellt, war in Frankfurt zumindest Günter Amendt. Der hat sich tatsächlich für Pop interessiert, hat zum Beispiel 1978 Bob Dylan bei seiner ersten Tournee durch Deutschland begleitet und darüber eine große Rundfunksendung gemacht.

Ist das eine Besonderheit der Theoretiker und Wortführer innerhalb des SDS, oder betrifft das Bild, das Sie zeichnen, die Anhängerschaft im Ganzen oder zumindest weite Teile?

Ich war ab September 1968 in Frankfurt. Ich bin eigentlich zu jedem pro- minent besetzten Pop- und Rockkonzert hingepilgert, die meistens in der Jahrhunderthalle in Höchst stattfanden. Dort hat Jimi Hendrix gespielt, die Doors sind da aufgetreten, Janis Joplin, Steppenwolf, die Beach Boys und so weiter. Ich habe dort nie auch nur einen einzigen SDSler gesehen, mit denen ich ansonsten ständig zu tun hatte. Bei denen war das verpönt. Die waren weitgehend durch die Kritische Theorie geprägt und lehnten Populärmusik deshalb grundsätzlich ab. Ihre Ablehnung war aber gar nicht mal nur theoretisch begründet, sondern hatte auch eine emotionale Kom- ponente. Die SDSler konnten sich mit Pop einfach nicht identifizieren, das war der entscheidende Punkt. Die hielten das tatsächlich für kommer- zielle Massenunterhaltung, für ein Instrument der Entpolitisierung, die dem Gegner in die Hände spielte. Und deshalb ist die These vom Sound der Revolte, gerade was diese Kerngruppe der 68er-Bewegung anbelangt, irreführend.

(Janis Joplin: "Ball & Chain" in Monterey. Wer verstehen will, wie neu diese Musik war, sollte sich ab Minute 3.28 das Gesicht Cass Elliots ansehen.)


Also gab es nicht nur eine zeitliche Abfolge - erst der politische Protest, danach subkulturelle Konzerte -, sondern auch ein Nebeneinander verschiedener Szenen und Orientierungen?

Ja, zunächst gab es dieses Nebeneinander, später haben sich Protest und Popkultur in gewissem Maße synchronisiert, doch selbst diese Beobach- tung lässt sich so ohne Weiteres nicht verallgemeinern. Für diejenigen, die ab 1967 in Schülerorganisationen wie etwa dem Aktionszentrum Unab- hängiger und Sozialistischer Schüler aktiv waren, für die galt das Zugleich von Protest und Pop bereits. Die waren mit der Rockmusik aufgewach- sen. Und für die war es selbstverständlich, dass bei politischen Anlässen bestimmte Platten aufgelegt wurden. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich zu einer Nachtwache während der Besetzung des Soziologischen Seminars in der Frankfurter Myliusstraße Beggars Banquet von den Stones mitgenommen habe. Die LP war damals gerade rausgekommen, und wir haben sie auch nachts rauf und runter gespielt. So etwas gab es natürlich, aber diese Verquickung stellte im Grunde genommen einen Vorgriff dar. Und die Theoretisierungsversuche, die im Nachhinein eine engere Ver- bindung konstruieren, die stammen zumeist von später Geborenen, von Angehörigen der Geburtsjahrgänge 54, 55, folgende. Die reden vom Sound der Revolte und machen diese These stark, vermutlich weil es für sie selbst biografisch gestimmt haben dürfte.

Noch einmal: Es ist wichtig, zu differenzieren und genau zu sein, weil man ansonsten die Spannungsbogen dieser Zeit nicht nachvollziehen, also auch nicht verstehen kann, warum aus der Auflösungsmasse des SDS heraus die K-Gruppen entstanden sind, die die linke Politik der 70er-Jahre doch nicht unerheblich geprägt haben. Die verschiedenen K-Gruppen hatten ja Zehntausende von Mitgliedern, und die haben - soweit mir jedenfalls bekannt ist, ich war in diesen Gruppen ja nicht drin - mit Pop- und Rockmusik nichts zu tun gehabt. Vielleicht haben einige diese Musik gewissermaßen privat gehört, heimlich, das wird bestimmt so gewesen sein (lacht), aber insgesamt sind die da völlig auf dem falschen Fuß erwischt worden.

Stichwort "Differenzierung" und Vergleich! Wie stellte sich diese Landschaft von Pop und Protest zum Beispiel in Großbritannien oder in Amerika dar?

In den USA waren Popmusik und Revolte von Anfang an viel enger miteinander verknüpft. Ein wichtiger Startpunkt der Revolte ist dort im Oktober 1964 das Free Speech Movement in Berkeley gewesen. Diese Kampagne hatte mit Mario Savio einen begnadeten Redner, da war aber zum Beispiel auch Joan Baez bereits mit dabei und hat mit "We Shall Overcome" die Hymne der Bürgerrechtsbewegung gesungen. Es gab in den USA ja eine politisierte folk music, die schon in den 50er-Jahren gegen den McCarthyismus und den Antikommunismus eingetreten war und gegen die Unterdrückung der Schwarzen protestiert hatte. Diese Szene hat sich in verschiedenen Kampagnen der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Und in Berkeley ging es ja gerade darum, durchzusetzen, dass diese Initiativen auf dem Campus Flugblätter verteilen und Leute ansprechen konnten, das hatte die Universitätsleitung untersagt. Der Protest in Berkeley war so etwas wie der Nukleus all jener Studentenrevolten, die dann die 60er-Jahre durchzogen haben, und Musik war dabei ein integraler Bestandteil. Hinzu kommt natürlich, dass Berkeley in der San Francisco Bay Area liegt. Das besondere kalifornische Umfeld, das ich schon erwähnt habe, war da also von Beginn an mit im Spiel.

Vor allem muss man sich aber vor Augen führen, dass wir hier nicht von einer reinen Studentenbewegung reden, sondern von einer breiten Antikriegsbewegung. Ab 1965, also seitdem die USA offen Krieg in Vietnam geführt haben, hat diese Bewegung sehr viele Strömungen und Akteure integriert, eigentlich alle mit Ausnahme der Black-Power-Bewegung. Und es haben sich eben auch viele Musiker gegen den Krieg engagiert. Auch darum bildeten Folk, Rock und Pop auf der einen Seite und der politische Protest auf der anderen in den USA von Anfang an eine Einheit. Deshalb haben, um ein berühmtes Beispiel zu erwähnen, Crosby, Stills, Nash & Young über die vier an der Kent State University im Bundesstaat Ohio von der Nationalgarde ermordeten Studenten ihr Lied "Ohio" gemacht. Es gab diese Proteste und die entsprechenden Songs dazu. Das ging ineinander über. Das war anders als in der Bundesrepublik und in Westberlin.

Und in Großbritannien?

Dort entwickelte sich die Situation wiederum auf ganz eigene Weise. Die entscheidende Figur des Protests in Großbritannien ist ja kein Brite, sondern mit Tariq Ali ein Pakistani gewesen. Der stammte aus einer kommunistischen Familie und war zum Studium nach Oxford gegangen. Im Dezember 1965 nahm er an einer großen, von CBS und BBC organisierten und via Satellit übertragenen Fernsehdebatte der beiden Elite-Universitäten Oxford und Harvard über den Vietnamkrieg teil. Das Harvard-Team führte als senior member kein Geringerer als Henry Kissinger an. Nach dieser Debatte bekam Ali Fanpost und eine Einladung zu einem Abendessen von Marlon Brando, der es großartig fand, wie ein unbekannter Student die in den USA noch vorherrschende Prokriegsposition demontiert und Kissinger regelrecht in die Enge getrieben hatte. Ali avancierte dann 68/69 zur Zentralfigur der britischen Proteste gegen den Vietnamkrieg. Es gibt ein wunderbares Foto vom Marsch auf die amerikanische Botschaft in London mit Ali in der ersten Reihe neben Vanessa Redgrave, die mit Antonionis Film Blow Up zum internationalen Star geworden war, und dem Physiker Stephen Hawking, der damals schon an Krücken ging. Tariq Ali hat eine politische Autobiografie geschrieben, Street-Fighting Years, und dieses Buch zeigt sehr deutlich, wie eng die Verbindung der beiden berühmtesten Pop- und Rock-Bands, der Beatles und der Stones, mit der Protestbewegung gewesen ist. Ali war mit Mick Jagger befreundet wie auch mit John Lennon und pflegte mit beiden einen intensiven Austausch. Lennons Song "Power to the People" etwa geht unmittelbar auf Alis Einfluss zurück. Die Bewegung war natürlich insgesamt nicht so breit wie in den USA, dennoch war auch in Großbritannien die Verzahnung unverkennbar.

(That's Underground, Cover.)




Wenn Sie für den Kern des SDS, das heißt für die Protagonisten der studentischen Protestbewegung in der Bundesrepublik, eine völlige Entmischung von Revolte und Pop herausstellen, drängt sich doch die Frage auf, wie sich dieser Zustand dann in den 70er-Jahren derart verändern konnte?

Es hat in der Tat eine Weile gedauert, bis sich politische und kulturelle Revolte gegenseitig gepusht haben, bis es zu einem wirklichen Ineinander- greifen gekommen ist. Diejenigen, die das während der 70er-Jahre eher als eine Einheit erlebt haben und für die das Wort vom Sound der Revolte wirklich zutrifft, das waren - wie gesagt - diejenigen, die sich vorher schon für die Beat- und Rockmusik begeistert hatten, in aller Regel noch bevor sie im eigentlichen Sinne politisiert waren. Für die gehörte diese Musik von Anfang an völlig selbstverständlich dazu. Die haben von ihren Vorlieben auch keinen Abstand genommen, als sie später die Dialektik der Aufklärung und darin das Kapitel über die Kulturindustrie gelesen haben. Diese Lektüre hat an deren Einstellungen einfach nichts mehr ändern können (lacht). Das stand eben beides in gewisser Weise erratisch nebeneinander, so habe ich das jedenfalls erlebt. Ich weiß noch, wie die ersten Raubdrucke der Dialektik der Aufklärung in der Mensa verbreitet wurden, die konnte man ja nicht einfach so im Buchhandel kriegen, und mir jemand sagte: "Mensch, kauf das, die Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder, da muss man zugreifen." Das habe ich dann auch getan. Und manche Leute haben das ation Kulturindustrie-Kapitel zu ihrer Bibel erhoben, klar, obwohl es ja nur ein relativ kurzer Abschnitt im Gesamtzusammenhang der Dialektik der Aufklärung ist. Die theoretische Sozialisation und die musikalische oder jugend- kulturelle Sozialisation standen in einer gewissen Spannung, wenn nicht im Widerspruch zueinander. Solcher Gegensätze waren wir uns sehr wohl bewusst. Und es war ebenso klar, dass es auch bei der Musik, die sich vom Mainstream abgrenzte, um Vermarktung ging. CBS hat 1968 zum Beispiel einen Sampler unter dem Titel That's Underground veröffentlicht, in dem die angesagten Newcomer der amerikanischen Musikszene vorgestellt wurden. Das war ganz offensichtlich eine kommerzielle Masche, da wurde ein Trend von der Plattenindustrie aufgegriffen und sollte nun unter dem neuen Label "Underground" am Markt etabliert werden. Aber das hat nichts daran geändert, dass man diese Sachen gern gehört hat (lacht) und der Überzeugung war, diese Art von Sound spiele irgendwie auch den eige- nen politischen Motiven in die Hand. Letztlich hat sich diese Einschätzung ja als gar nicht so falsch erwiesen.

[...]

Der Sound der Revolte war also vielstimmig.

Ja, auf jeden Fall.

Erst für die etwas später Geborenen haben Sie die vergleichsweise enge Verbin- dung von popkultureller ästhetischer Praxis mit dem politischen Engagement unterstrichen. Eine Frage, mit der wir diesem Umbruch innerhalb der Protestbewegung noch etwas besser auf die Spur kommen könnten, müsste wohl lauten, wie die Akteure in dieser neuen Konstellation das Verhältnis von Popkultur und Revolte ihrerseits reflektiert haben. Gab es Diskussionen über Musik als Medium der Politisierung?

Vielleicht sollte ich noch mal einen kleinen Schritt zurückgehen? Protestsongs gab es ja schon vor dieser neuen Konstellation. Seit 1964 wurden Konzerte auf der Burg Waldeck veranstaltet. Dort sind Leute wie Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und Hannes Wader aufgetreten, die sich in den 60er-Jahren einen Namen gemacht haben. Da wurde selbstverständlich auch intensiv politisch diskutiert. Die Burg Waldeck war also nicht unwichtig, es bestanden ja auch direkte Bande zur studentischen Protestbewegung. Mit Degenhardt, der zum Star dieser Festivals und dieser ganzen Szene wurde, stand beispielsweise auch Daniel Cohn-Bendit in Kontakt, übrigens auch Gaston Salvatore. Für diese Strömung der Protestsongs war die Verbindung von Musik und Politik natürlich absolut konstitutiv. Aber sie vermischte sich nicht oder jedenfalls kaum mit der Pop- und Rockmusik. Das war eine ganz eigene Richtung, die für das Gros der Demonstranten damals und für deren Politisierung nicht prägend war. Ich persönlich bin nie ein Anhänger dieser Musik gewesen. Ich mochte mir nicht durch Liedtexte vorschreiben lassen, wofür oder wogegen ich zu sein hatte. Für diese Art von Musik konnte ich mich einfach nicht begeistern. Natürlich habe ich Bob Dylan und Joan Baez gehört, aber auch deren Sachen hatten in meinen Ohren schon etwas Abgestandenes. Spätestens mit der Entwicklung der psychedelischen Musik war das alles überholt.

Die Musik spielte in Wahrheit woanders?

Ja, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Es ging um eine andere Musik, auch um eine andere Bedeutung von Musik. Da spielte sich etwas völlig anderes ab. Und damit kommen wir wohl zum Wichtigsten, zu etwas, das auch das Verhältnis von Musik und Politik betrifft, aber noch darüber hinausgeht: Denn mit der antiautoritären Bewegung, die zwar nicht völlig deckungsgleich mit dem Phänomen "68" ist, aber doch die entscheidenden Dynamiken und deren Entfaltung anzeigt, kam es zweifelsohne zu einer Verknüpfung von Politik und einer neuen Subjektivität. An dieser Verbindung hatte die Musik einen sehr, sehr gewichtigen Anteil. Man war in einen umfassenden Veränderungszusammenhang involviert, der immer als zweifacher gedacht war. Zum einen wollte man die politischen Verhältnisse verändern; zum anderen wollte man sich aber selbst völlig neu komponieren - und zwar im Zuge dieses politischen Kampfes. Das bedeutete natürlich eine heillose Überforderung, was etwa hieß, neue Formen des Zusammenlebens wie Wohngemeinschaften und Kommunen auszuprobieren, oder hieß, kollektive Arbeitsformen zu erproben und durchzusetzen. Zum Beispiel war es einfach verpönt, Seminar- und sogar Examensarbeiten individuell abzufassen. Stattdessen standen fünf, sechs Namen unter den abgegebenen Arbeiten (lacht). Das wurde dem Prof vorgelegt, und der konnte das entweder akzeptieren oder ablehnen, musste die fälligen Diskussionen und Konflikte jedenfalls in Kauf nehmen. Und es hieß vor allen Dingen, gewagte Experimente in Sachen Erotik, Sexualität und Beziehungsgeschichten anzustellen. Das hätte nie eine solche Intensität erreicht, wäre die erotische Erfahrung nicht sozusagen popmusikalisch orchestriert gewesen. Letztlich gilt das für alle Bereiche.

(Mitschwingen: "Good Vibrations" von den Beach Boys, 1966.)



Pop- und Rockmusik gehörten zu dieser Infragestellung der alten Subjektivität dazu. Der gesamte gesellschaftliche Wertekanon, der familiäre und durch die großen Institutionen wie Schule und Universität reproduzierte Wertekanon sollte unterminiert und womöglich beseitigt werden. Dafür war es auf einmal von enormer Bedeutung, in dieser Vibration des Sounds mitzuschwingen. "Good Vibrations" waren angesagt, um es mit dem Titel einer zu Recht berühmt gebliebenen Komposition von Brian Wilson zu sagen. Für mich war dieses Stück der Beach Boys mit seinem Chorgesang das vollkommenste, das die Popmusik jemals hervorgebracht hat.

(...)