Post aus Borneo

Schön laut ist schön

Von Doris Klein
18.09.2002. Starres Entsetzen tritt auf die Gesichter der Menschen in Indonesien, wenn der Strom ausfällt: Denn dann tritt Stille ein, und die Indonesier lieben Lärm.
In seinem Roman "Das Fest des Ziegenbocks" schreibt Mario Vargas Llosa über die Sehnsucht zu vergessen und das Lärmbedürfnis der Menschen der Dominikanischen Republik nach der Trujillo-Ära: "Belebtes Chaos, tiefes Bedürfnis (...) sich zu betäuben, um nicht zu denken und vielleicht nicht einmal zu fühlen. Etwas in den Dominikanern klammert sich an diese vorrationale, magische Form: dieses Verlangen nach Lärm (Nach Lärm, nicht nach Musik)"

Ein reichlich verwegener Gedanke, eine ganze Nation könne sich mittels Lärm kollektiv der Erinnerung und dem Empfinden entziehen wollen. Aber so ganz von der Hand zu weisen ist die Idee nun auch wieder nicht. Denn versucht man sich einmal mit Parallelen zu Indonesien, wo es auch sehr laut, lauter sogar, ist, stoßen wir auf eine, wenn auch zeitlich versetzte, ähnliche Geschichte. Hier wie dort dreißig Jahre Despotismus, Diktatur, politische Morde, Korruption und Unterdrückung. Die noch kühnere Fortführung des Gedankens wäre, den Unterschied im Lärmpegel ins Verhältnis zu setzen zur seither vergangenen Zeit. Das würde aber erklären, warum es in Deutschland immer so still ist. Wirft aber die Frage auf, ob es denn dort jemals seither wirklich laut war. Oder ob nicht vielleicht die jungen, meist etwas anämisch wirkenden Menschen, die sich in U-Bahn-Schächten mit Technolärm volldröhnen, bis ihnen das Hirn in der Schale schwappt, gar unter verspätete Vergangenheitsbewältigung zu fassen sind?

Fest steht: in der " Dom.-Rep." ist es laut, in Indonesien ist es lauter. Es ist sogar so laut dort, dass einem akustisch untrainierten Menschen die Trommelfelle stets schmerzhaft vibrieren, die Töne sich in den Gehörgang bohren, auf der Zunge bizzeln, sich sauer durch die Speiseröhre in den Magen wühlen und dort mit langen Nägeln scharren bis einem die Sinne zu schwinden drohen. Indonesier lieben den Lärm. Je lauter desto gemütlicher. Dabei ist der Anlass zur Lärmerzeugung völlig unerheblich, ja in einer Weise untrennbar mit den täglichen Verrichtungen verknüpft. Das ist umso erstaunlicher, da die meisten Indonesier einzeln betrachtet stille feine Menschen sind, die stets leise sprechen und nur im äußersten Notfall die Stimme heben. Lärm ist schön, macht Spaß und tut auch überhaupt nicht weh! Lärm produzieren kann man zum Beispiel mit Mopeds. Um einen Eindruck zu bekommen, wie es an einem beliebigen Punkt in einer Provinzhauptstadt um die Mittagszeit zugeht und damit Sie wissen, was ich meine, schließen Sie die Augen und stellen Sie sich folgende Szene vor: Sie stehen am Nürburgring und direkt neben Ihnen starten, sagen wir mal hundertfünfzig frisierte alte Kreidler, 50 ccm, die alle gleichzeitig mit einem Satz auf die vorderen Plätze schießen. Merken Sie sich das, denn das ist der Fond für die Geräuschesuppe.

Dazu kommen dann: unzählige Autos, Überlandbusse, Lastwagen und Kleinbusse, ächzend überladen und mit kaputten Auspuffen (das indonesisch/niederländische Wort hierfür heißt daher richtig Knalpot), Gesang aus den Lautsprechern von gut 30 Moscheen, der weder zur selben Zeit noch mit der selben Botschaft, sondern einzig der Lust, Kreativität und dem Mitteilungsbedürfnis des jeweiligen Imam obliegt und über den Tag verteilt ertönt. Mal selbstgesungen, mal vom Band aber immer laut.

Dann sind da die unerschöpflichen Geräuschquellen der privaten Haushalte, die gleichzeitig noch Auskunft geben über die finanziellen Möglichkeiten der jeweiligen Familie. Das reicht vom einfachen Kassettenrecorder, über die fette Hi-Fi-Anlage zum Fernseher oder, wer es sich leisten kann, hat die individuelle Karaoke-Heim-Anlage zum inbrünstigen Selbersingen. Das alles läuft zur selben Zeit, ab 6 Uhr am Morgen auf voller Lautstärke bis in die Nacht. Kaum erwähnenswert dagegen: Stimmengewirr, Transistorradios, Hupen, Schiffssirenen, Hähne, Handys, die Klingelmelodien der zahllosen Eisverkäufer, Nudelsuppenverkäufer, Fischklösschenverkäufer. Und nun behalten Sie diesen neuen Pegel im Gedächtnis. Er ist stets präsent, verstummt nie. Wenn Sie ihn sich gut eingeprägt haben, geht es jetzt in die Tonmaschine par excellence: die Shoppingmall. Shoppingmalls sind Einkaufszentren der anderen Art. Sie dienen als Einkaufs-, Vergnügungs-, Kontakt-, Ausgeh- und Bummelzentren. Die neueste hiesige Errungenschaft beherbergt ganz genau 86 Geschäfte auf drei Stockwerken, dazu noch 10 Restaurants, eine Saftbar, einen Supermarkt, einen Laden für Islambedarf (Kopftücher, Betkettchen, züchtige Kleidung und Koräne in allen Ausführungen), neben dem für Christenbedarf (Dürers betende Hände aus Naturkautschuk auf Teak, geschnitzte Bibeln, aufgeschlagen, für die Vitrine, Christusbilder und holzgerahmte Sinnsprüche), ein McDonalds, ein Pizza-Hut und ein KFC-Laden, womit wir auf rund 100 Etablissements kommen.

In jedem (jedem!) dieser Geschäfte läuft eine moderne Hi-Fi-Anlage auf voller Lautstärke und mit je verschiedenem Programm. Die Malls sind stets vollgestopft mit Menschen, die immer dicht am Ohr des anderen etwas kreischen oder sich mit Händen und Füßen verständlich zu machen suchen und dabei sehr entspannt und müßig wirken. Die Heiterkeit verfliegt allerdings schlagartig, wenn der Strom ausfällt und es still wird. Blankes Entsetzen steht in den Augen, Familien fassen sich an den Händen, tauschen irritierte Blicke aus, die Hände erschreckt vor den offenen Mündern, benehmen sich wie andernorts Menschen, die gerade Ohrenzeuge eines Bombenanschlages geworden sind und die Quelle noch nicht geortet haben. Und was für ein erleichtertes Aufatmen, wenn endlich Strom und ergo Lärm wieder einsetzten!

Nun sind aber, um auf die Ausgangsthese zurückzukommen, Lärm diene als Betäubungsmittel gegen das Erinnern, gerade die Mall-Besucher überwiegend junges Volk und haben noch nicht viel zu vergessen, dessen sie sich schuldig gemacht hätten. Allemal wäre das ein ergiebiges Thema für Psychologen oder Ethnosoziologen. Ob es hilft ?

Im nicht empirischen Selbstversuch hat es zumindest tatsächlich funktioniert: ich gehe durch die quirligen Strassen, weiche stolpernd Hupen und Hi-Fi aus, betrete die Mall, nehme, mit den Händen auf den Ohren, die Rolltreppe in den dritten Stock, mein Herz rast, die Trommelfelle knistern, meine Bauchdecke pumpt gegen die Bässe an, das Rippenfell beginnt sich zu kräuseln und ich habe in weniger als einer halben Stunde tatsächlich alles vergessen, was ich einkaufen wollte.