Efeu - Die Kulturrundschau

Wer ist der Typ, der so malt wie ich?

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23.12.2017. Milan Peschel bringt als "Hauptmann von Köpenick" ein wenig Volksbühnen-Spirit ans Deutsche Theater, freuen sich die Kritiker. Die Amoralität des Marktes hat für die Kunst auch Vorteile, stellt Wolfgang Ullrich im Perlentaucher fest. Der Guardian entdeckt Werke vergessener Renaissance-Künstlerinnen auf florentinischen Dachböden. In der taz will sich Bernd Begemann nicht von Influencern manipulieren lassen.  Und die FAZ ärgert sich über die lieblosen Märchenfilm-Neuproduktionen der Öffentlichen-Rechtlichen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2017 finden Sie hier

Kunst

Das sich bereits im Sommer in seinem Essay "Zwischen Deko und Diskurs" konstatierte Schisma zwischen Markt- und Kuratorenkunst hat sich im Superkunstjahr 2017 noch weiter vertieft, glaubt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in einem im Perlentaucher veröffentlichten Vortrag. Mit Blick auf Debatten um kulturelle Aneignung, wie etwa im Fall von Dana Schutz (unser Resümee), komme der Kunst aber zumindest die Amoralität des Marktes zu Gute: "So gerne man dem Kapitalismus - also dem gewinnorientierten, auf Spekulation getrimmten Denken - vorhält, keine Werte und keine Moral zu kennen, so sehr kann gerade das zum Vorteil für eine Kunst werden, die unter den Druck moralischer Rechtfertigung gerät. Denn soweit der Markt amoralisch ist, herrscht auf ihm auch nicht jener Druck; vielmehr lässt er der Kunst in moralischer Hinsicht Freiheit. Daran zeigt sich eine Wahlverwandtschaft zwischen Markt und Kunst. Beide kommen darin überein, die Phantasie über die Moral zu stellen, auch wenn jene jeweils eine ganz andere Ausprägung annimmt."

Im Guardian stellt Joanne Moorhead die Organisation Advancing Women Artists vor, die in florentinischen Kirchen und auf Dachböden vergessene Werke bedeutender Renaissance-Künstlerinnen wiederentdeckt: "Eine Besonderheit in der Geschichte der Künstlerinnen in der Renaissance ist, dass sie in ihrer eigenen Zeit mehr Wertschätzung erfahren haben als später. Nach Angaben des feministischen Kunstaktivistenkollektivs Guerilla Girls verdienen bildende Künstlerinnen 81 Cent für jeden Dollar, den ein männlicher Künstler verdient. Aber in der Renaissance und im Barock, so Falcone, seien Malerinnen wie Nelli und Gentileschi für ihre Arbeit besser bezahlt worden als viele Männer: Einmal habe Gentileschi fünfmal mehr verdient als ihre männlichen Kollegen. Als Porträtmalerinnen wurden sie besonders geschätzt, weil Porträts verwendet wurden, um Heiratsgeschäfte zu gewinnen."

Fasziniert hat sich Jens Hinrichsen im Tagesspiegel traditionelle und moderne Kunst der indigenen Australier im Me Collectors Room in Berlin angesehen, wenngleich er Kommentare mit Hintergrundwissen vermisst: "So ist der Australier Rover Thomas (Joolama) mit einem zeichenhaften Quadrat von 1991 vertreten, in dem ein schwarzer Keil eine ockerbraune Formation zerreißt. Immerhin verrät hier der Titel 'Cyclone Tracy', dass sich der Maler auf das konkrete Ereignis eines Wirbelsturms bezieht, der im Dezember 1974 Darwin verwüstete. Als der 1998 verstorbene Thomas in einem Museum auf Bilder von Mark Rothko stieß, soll er übrigens ausgerufen haben: 'Wer ist der Typ, der so malt wie ich?' Eine Anekdote, die auch ein Licht auf die Ungerechtigkeiten der Kunstwelt wirft - und auf die Arroganz des Westens überhaupt."

Weiteres: Im Tagesspiegel freut sich Elke Linda Buchholz über die Wiederentdeckung des Expressionisten Fritz Ascher, dem die Villa Oppenheim und das Potsdam Museum aktuell eine Doppelausstellung widmen. In der taz betrachtet Tania Martini ein Tableau vivant, in dem Jacques Derrida die Ermordung seines Sohnes nachstellt.

Besprochen wird die von dem Künstler Paolo Cirio kuratierte Ausstellung "Evidentiary Realist" in der Berliner Nome Gallery (taz) und die Ausstellung "Cézanne. Metamorphosen" in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. (FAZ).

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Musik

Für die taz plaudert Jan Paersch mit Bernd Begemann, dem heimlichen Ur-Vater der Hamburger Schule, der mal wieder ein Album aufgenommen hat. Unter anderem geht es in dem Gespräch um liebgewonnene Musikvorlieben im Zeitalter des technischen Wandels. Sein "Fetisch", erklärt er rückblickend, "war das Album. Das ist jetzt verschwunden. Du musstest damals einfach eine Haltung haben zu 'Entertainment' von Gang of Four. Du musstest einfach verstehen, was das Album wollte. Jetzt musst du Spotify haben. Andererseits gibt es im Netz Videos von 20-Jährigen, die superkomplizierten Jazzrock spielen. Warum die das spielen? Weil man das nicht verDSDSen kann. Das kann man ihnen nicht wegnehmen. ... Im Augenblick habe ich noch eine iPod-Weltsicht. Zwei Stück davon, mit jeweils 30.000 Songs drauf. Ich habe das Gefühl, dass ich diese 30.000 noch nicht richtig durchdrungen habe. Ich bin noch nicht bereit, mich von irgendwelchen Random Playlists von selbsternannten Influencern manipulieren zu lassen."

Außerdem: In der NZZ widmet sich Eleonore Büning der Pause in der Musik. Ute Cohen hat sich für den Freitag mit Charlotte Gainsbourg zum Gespräch über ihr neues Album "Rest" getroffen. Der Versuch von MTV, sich nach einer PayTV-Phase wieder im frei empfangbaren Fernsehen zu platzieren, ist von einschneidender Bedeutungslosigkeit, kommentiert Dirk Peitz auf ZeitOnline.

Besprochen werden ein Berliner Auftritt von Dÿse (taz) und die Doppel-CD "Woher? Wohin? Mythen, Nation, Identitäten", die Aufnahmen junger Komponisten zum Thema versammelt (FR). Außerdem hat sich die SZ von Eddie Hatitye einen südafrikanischen Weihnachtsmix für den Strand basteln lassen:

Archiv: Musik

Film

Gründlich schief gegangen ist der Versuch von Netflix, mit "Bright" einen Blockbuster am Kino vorbei zu produzieren, meint Andreas Busche im Tagesspiegel sehr zum eigenen Bedauern: Denn Regisseur David Ayer galt mal als Hoffnung des Actionfilms. Der mit Will Smith prominent besetzte Film um einen Polizisten, der sich mit Orks anlegt, "wirkt ernüchternd. Skandalös daran ist weniger, dass Netflix sich offensichtlich nicht mehr fürs Kino interessiert. Sondern dass man schlicht keine Interesse mehr daran zu haben scheint, weder visuell intelligent noch originell zu erzählen. Ayers selbst in technischer Hinsicht lieblose Inszenierung - von den CGI-Effekten bis zu den Actionszenen - zeigt deutlich, dass sich Netflix auch ästhetisch vom Kino verabschiedet."

Ärger auch bei FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen, allerdings nicht über lieblose Polizisten-Fantasy aus der Online-Videothek, sondern über die ihrerseits lieblosen Märchenfilm-Neuproduktionen, mit denen ARD und ZDF jährlich zu Weihnachten aus allen Rohren schießen: Die Ware ist arg breitgetreten, oft mit dümmlichem Humor angereichert und taugt im Grunde nur zum rasch Versenden und Verbuddeln: "Die Urheber dieser Filme aber möchte man fragen, warum sie diesen Aufwand eigentlich betreiben und von Märchen sprechen, ohne darin mehr zu sehen als ein Sprungbrett für alles Mögliche. Warum sie kurze Texte zu langen Filmen aufblasen oder zu Filmen, die einem wenigstens sehr lang vorkommen."

Außerdem: Für die SZ porträtiert Christine Dössel den Schauspieler Charly Hübner. Besprochen werden Yorgos Lanthimos' "The Killing of a Sacred Deer" (Freitag), Jan Zabeils Bergdrama "Drei Zinnen" (FR) und das "Jumanji"-Remake mit Dwayne "The Rock" Johnson (FR).
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Bühne

Bild: Milan Peschel. Szene aus "Der Hauptmann von Köpenick. Foto: Arno Declair

Unter Mitarbeit von Armin Petras hat Jan Bosse Carl Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" am Deutschen Theater Berlin als Sozialstudie inszeniert. Hingerissen von Milan Peschel in der Hauptrolle und auch ansonsten weitgehend zufrieden besprechen die Kritiker die Vorstellung. In der Berliner Zeitung erlebt Dirk Pilz einen "gegenwartssatten" Abend: "Das kann Milan Peschel wie es wenige können: den Irrsinn der Verhältnisse ins Innere jeder Silbe zu verlegen, das Rebellische in jedes Augenrollen, das Widerborstige in die Schritte und bei all dem doch wie ein Lufttänzer auszusehen, in die Zwischenräume Ironie zu schmuggeln, nie jedoch biederen Zynismus, nie die Billigkeit des Effekts. Er läuft hier mit einem Stoffbeutel umher, der den Aufdruck 'Krise' trägt, in einem Schriftzug, der an die alte Volksbühne erinnert und das Krisenreden der Gegenwart meint: Krise ist bei Peschel kein Schlagwort, keine Floskel, sondern Zustand, konkretes Dasein."

An alte Volksbühnenzeiten wird Christine Wahl im Tagesspiegel erinnert: "Dass Peschel dabei quasi aus jeder Geste und Pore eine einzige Castorf-Volksbühnen-Reminiszenz verströmt, war zu erwarten. Dass es bei Weitem nicht die einzige bleibt an diesem DT-Abend, ist schon überraschender. Zwischendurch beschleicht einen tatsächlich das Gefühl, das Khuon-Haus sei willens, den Rosa-Luxemburg-Platz an der Schumannstraße wiederauferstehen zu lassen. (Was natürlich, auch dies zeigt der Abend, unmöglich ist.)" Ein wenig "zerfasert" erscheint Nachtkritiker Georg Kasch hingegen der Abend: "Bosse kombiniert Castorf light mit einer Sozialstudie - und kriegt darüber den Überlebenskampf im Moloch Berlin nicht so richtig zu fassen." Und in der SZ bedauert Peter Laudenbach eine verpasste Chance: "Die Versuche mittels der Protokolle aus dem Leben von Flaschensammlern und Obdachlosen aktuelle Verweise herzustellen, wirken etwas bemüht."
 
Weiteres: An der Volksbühne wird derzeit Jerome Bels seit 15 Jahren durch verschiedene Länder tourende Performance "The show must go on" aufgewärmt. "Die im Mainstream gelandete Avantgarde von (vor-)gestern", meint Christine Wahl im Tagesspiegel.

Besprochen werden Claudia Meyers Inszenierung von Christian Krachts Roman "Die Toten" am Theater Bern ("Der Text ist fein zerteilt in vier Portionen und nur sachte beschnitten wie mit einem Masahiro-Messer, lobt Nachtkritiker Maximilian Pahl), Christian Weises Inszenierung von Mischa Spolianskys Stück "Alles Schwindel" am Berliner Maxim Gorki Theater (FAZ)
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Literatur

Im Deutschlandfunk Kultur sprechen die Schriftsteller Norman Ohler und Michael Roes über Friedrich den Großen, mit dem sich beide Autorin in ihren aktuellen Romanen befassen. Herbert Wiesner blickt in der Literarischen Welt zurück aufs Lyrikjahr 2017 und erwähnt im Zuge auch das Portal lyrikline.org, wo man weit über 1000 Dichtern beim Rezitieren von nahezu 11000 Gedichten zuhören kann. Für den Tagesspiegel liest Gregor Dotzauer die neue Ausgabe der Zeitschrift Die Wiederholung, die in ihrer vierten Ausgabe das Werk des rumäniendeutschen Dichters Werner Söllner in ihren Mittelpunkt rückt. Annabelle Seubert plaudert in der taz mit T.C. Boyle über dessen Arbeitsweisen und Donald Trump. Claudia Dürr bescheinigt im Freitag eine Renaissance der Lesekreise. Für die taz porträtiert Waltraud Schwab Helga Weyhe, die mit ihren 95 Jahren seit 70 Jahren eine Buchhandlung in Salzwedel führt. Die Welt juxt, was beim Bücherverschenken alles schief gehen kann. Barbara Buchholz schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Comiczeichnerin Annie Goetzinger. In der FAZ gratuliert Lena Bopp dem Schriftsteller Jean Echenoz zum 70. Geburtstag.

Außerdem bringt die taz Baba Lussis Kurzgeschichte "So kommt's", mit der die Autorin den Publikumspreis des diesjährigen Open-Mike-Wettbewerbs gewann. In der FAZ kann man Sabrina Janeschs Weihnachtsgeschichte "71° Ost, Betpak-Dala" lesen. Und Deutschlandfunk Kultur bietet Weihnachtsgeschichten von Heinrich Böll, Hans Fallada und Erich Kästner zum Nachhören unterm Christbaum.

Besprochen werden Rudolph Herzogs "Truggestalten" (Tagesspiegel), Robin Coste Lewis' Gedichtband "Die Reise der Schwarzen Venus" (NZZ), Christoph Meckels Gedichtband "Kein Anfang und kein Ende" (Freitag), Tanguy Viels "Selbstjustiz" (NZZ), Grant Morrisons und Dan Moras düsterer Comic "Klaus - Die wahre Geschichte von Santa Claus" (Welt), der Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Lew Kopelew (Berliner Zeitung), Nacha Vollenweiders Comic "Fußnoten" (taz), Martin Walsers Werkausgabe letzter Hand (FAZ) sowie Karl Ove Knausgårds "Im Winter" und Tove Janssons "Winterbuch" (SZ). Außerdem nennt die Jury des Tagesspiegel ihre Lieblingscomics 2017. An der Spitze: Manu Larcenets Adaption von Philippe Claudels Roman "Brodecks Bericht".
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