Magazinrundschau

Meine Persönlichkeit gegen deine

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.02.2011. Könnte es auch hier passieren?, fragt Outlook India mit Blick auf Ägypten. Der Westen hat die arabische Welt zu lange als Klischee gesehen, meint Olivier Roy in Le Monde. Was tun eigentlich Lektoren?, fragt der Guardian. Gordon Lish in Babelia und Robert Gottlieb in der Paris Review haben dazu einiges zu sagen. In Ungarn soll jetzt gerichtlich überprüft werden, ob staatlich finanzierte Kunst ihr Geld wert ist, berichtet Elet es Irodalom. Wer ist schuld am Niedergang Italiens? Die Journalisten, meint Goffredo Fofi in Reset. The Atlantic und die NYT pfeifen tapfer gegen intelligente Computer.

Outlook India (Indien), 21.02.2011

In seinem "Delhi Diary" stellt Vinod Mehta die Frage, die sich so mancher in manchem Land dieser Erde nach den Ereignissen von Ägypten wohl stellt: "Könnte es auch hier passieren? Die führerlose Revolution in Ägypten hat für so manche Besorgnis gesorgt, ob nicht die Verdammten unserer Erde sich zusammentun könnten, um ihre Herrscher herauszufordern. Experten aller Couleur antworten auf diese Frage zunächst mit einem emphatischen nein. Wir leben in einer lebendigen Demokratie mit regulären Wahlen, freien Medien und einer wachen Justiz... Freilich kann man argumentieren, dass es in Wahrheit hier schon passiert. Die Ungerechtigkeit, gegen die die Protestierenden vom Tahrir-Platz wüten - Korruption, keine Jobs, steigende Preise, schlechte Regierungen -, all das findet man an vielen Ecken unseres gesegneten Landes. Die tribale Bevölkerung Indiens, drei Mal so umfangreich wie die Gesamtbevölkerung von Ägypten, lebt Tag für Tag mit Beschwernissen, die zehn mal so schlimm sind wie die, die die gewöhnlichen Bewohner von Kairo durchmachen müssen. Das Pro-Kopf-Einkommen in Ägypten ist vier mal so hoch wie das Pro-Kopf-Einkommen der indigenen Bevölkerung in Dantewada."
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Tahrir, Delhi, Indigene, Tahrir-Platz

Le Monde (Frankreich), 12.02.2011

Klischees über die arabische Welt und den Nahen Osten haben den Westen daran gehindert, die grundlegenden Veränderungen zu erkennen, die sich in den Gesellschaften Ägyptens und Tunesiens längst vollzogen haben, meint der Wissenschaftler Olivier Roy. Schuld daran sei auch die Furcht vor einer islamische Revolution wie im Iran. "Man erwartet deshalb, am Kopf der Bewegung oder im Hinterhalt die islamistischen Bewegungen zu sehen, in diesem Fall die Muslimbrüder und ihre örtlichen Entsprechungen, bereit dazu, die Macht zu übernehmen. Aber die Unauffälligkeit und der Pragmatismus der Muslimbrüder erstaunt und beunruhigt: Wo sind die Islamisten geblieben? Denn wenn man sich anschaut, von wem diese Bewegung ausging, ist unübersehbar, dass es sich dabei um eine post-islamistische Generation handelt. Die großen revolutionären Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre sind für sie Schnee von gestern, die Geschichte ihrer Eltern. Diese neue Generation interessiert sich nicht für Ideologien: Die Slogans sind alle realpolitisch und konkret ("frei"); sie appellieren nicht an den Islam, wie ihre Vorgänger es Ende der Achtziger in Algerien taten. Stattdessen sind sie vor allem Ausdruck der Ablehnung korrupter Diktaturen und der Forderung nach Demokratie."
Archiv: Le Monde

Guardian (UK), 12.02.2011

Was genau tun eigentlich Lektoren? Das merkt man erst, wenn sie nichts tun, schreibt Alex Clark, der den Niedergang dieses Berufsstandes beklagt. Ein positives Beispiel ist der Literaturagent Larry Miller, dessen Roman "Today" im März veröffentlicht wird. "Seine Erfahrung, darauf beharrt er, steht im Widerspruch zu der Vorstellung, dass Bücher einfach durch Verlage hindurchgeschleust werden. Sein Lektor bei Atlantic Books, Ravi Mirchandani, antwortete ihm auf sein 32.000 Worte langes Manuskript mit einem 20-seitigen Brief. Er war, so Miller, 'voll superber Kommentare', die Anachronismen, Anschlussfehler und ungenaue Wortwahl umfassten. Er habe etwa 80 Prozent der Vorschläge angenommen, dann wurde das Buch einem 'absolut brillanten' Korrektor [copy editor] übergeben und schließlich noch vier mal Korrektur gelesen [proof reading]. 'Dieser ganze Veröffentlichungsprozess hat mich total ermutigt', sagt er. 'Ich verstehe jetzt genau, warum ein Buch vom Agenten über den Verleger und Buchhändler bis zum Kunden so lange braucht. Und ich glaube nicht, dass ich eine Ausnahme bin.'"
Archiv: Guardian
Stichwörter: Lektor

Babelia (Spanien), 12.02.2011

Andrea Aguilar hat in New York den Schriftsteller und Lektor Gordon Lish interviewt, über dessen editorische Eingriffe in das Werk insbesondere Raymond Carvers schon viel und heftig gestritten worden ist. "'Was macht einen guten Schriftsteller aus? Und was einen guten Lektor?' - 'Wie bei allem im Leben muss man von seiner Sache wirklich überzeugt sein, bereit, alles aufs Spiel zu setzen. Immer so viel riskieren, wie nur möglich. Liegt in den Sätzen Musik, oder nicht?' - 'Gilt das für beide gleichermaßen?' - 'Wenn man die Texte eines anderen lektoriert - welche Musik soll dann zu hören sein, die eigene oder die des anderen? Ein Text ist wie ein Körper, und die Beziehung, die man als Lektor oder als Schriftsteller dazu hat, muss man als soziale Beziehung begreifen. Bloß keine falschen Rücksichtnahmen - das Ganze ist ein Wettstreit, meine Persönlichkeit gegen deine. Kriminell, absolut, aber so geht es, glaube ich, immer zwischen Menschen zu, Schriftsteller und Lektoren bilden da keine Ausnahme.' - 'Wie hätten Sie Salinger lektoriert?' - 'Bei ihm hätte ich kein Komma geändert.' - 'Wie sind die angehenden Schriftsteller unserer Tage?' - 'Sie wollen keine "Amateure" sein - sie beschäftigen Marketingprofis. Ich komme mir vor wie der Fänger im Roggen, der zu verhindern versucht, dass diese jungen Leute zu bloßen Produkten verkommen.'"
Archiv: Babelia
Stichwörter: Lektor, Fänger im Roggen

Paris Review (USA), 01.10.1994

In seinem Artikel im Guardian zitiert Alex Clark Robert Gottlieb, Lektor von John Cheever, Salman Rushdie, V. S. Naipaul, Edna O?Brien u.a.. Der erklärte 1994 in der Paris Review die Aufgabe eines Lektors so: "Ein Lektor muss herausfinden, was ein Buch braucht, aber der Autor muss es liefern. Man kann als Lektor nicht sagen: Schick ihn nach Hongkong, lass ihn eine Liebesaffäre mit einem Cockerspaniel haben. Man sagt eher: Dieses Buch braucht etwas an diesem Punkt - es muss sich öffnen, ihm fehlt eine Richtung, ihm fehlt Aufregung." Im konkreten Fall sah das dann so aus: "Als ich das erste Mal Chaim Potoks 'The Chosen' las, erkannte ich, dass das Buch zu Ende war, Chaim aber danach noch dreihundert Seiten geschrieben hatte. ... Also rief ich Chaims Agenten an und sagte ihm, ich liebe das Buch und würde gern mit ihm darüber reden. Aber erkläre ihm bitte, dass ich es nur veröffentlichen werde, wenn er die letzten dreihundert Seiten weglässt; wenn er es lassen will, wie es ist, ist es ein anderes Buch. Chaim hat das sofort eingesehen und so war es kein Problem."

Im Archiv der Paris Review findet man übrigens eine Fülle von Interviews mit Autoren aus den letzten Jahren. Kann man wunderbar drin rumstöbern. Hier ein schmutziger kleiner Intelligenztest, den Bertrand Russell einst mit Gustaw Herling gemacht hat: "He said, I?m going to test your intelligence. There is a colony of nudists outside London. A man arrives, nude. His friends point out a beautiful girl and tell him that she likes to do it, but for money. Not much, though, just sixpence. So the man goes to her to agree on terms. But she spoke in a way he couldn?t understand, as if she had a speech defect. Question: Why does she have this speech defect?
INTERVIEWER: Beats me.
HERLING: I thought about it for about ten minutes and finally said, I?m terribly sorry, but I don?t know. Russell said, So this is your intelligence . . . Her mouth was full of sixpence!"
Archiv: Paris Review

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.02.2011

Der "Abrechnungskommissar" Gyula Budai, eingesetzt um eine mögliche Veruntreuung von Steuergeldern durch die Vorgängerregierung zu überprüfen, untersucht derzeit - nach den Fördergeldern für Philosophen - eine Reihe von Kunstprojekten (die zumeist nach der so genannten, in mehreren europäischen Ländern gängigen "Kunst am Bau"-Regelung entstanden sind, wonach ein Prozent der Investitionskosten eines Immobilienprojekts der öffentlichen Hand für Kunstwerke ausgegeben werden sollen) und hat angekündigt, dass der künstlerische Wert dieser Werke von einem Gericht überprüft werden muss. Die Abstraktionsfeindlichkeit und der Vorwurf der Verschwendung von Steuergeldern begleitet die Avantgarde seit ihrer Entstehung, schreibt der Kunsthistoriker Jozsef Melyi, den die Angelegenheit an den anfänglichen Protest gegen die Aufstellung der Plastik "Drei rotierende Quadrate" von George Rickey im Jahr 1973 im westfälischen Münster erinnert - woraus allerdings später die "Skulptur.Projekte Münster" entstanden sind: "In Ungarn ist das zunächst nur die Illusion einer Zukunft. Die Realität der Zukunft hingegen sieht so aus, dass man nach solchen Abrechnungen kaum einen staatlichen oder kommunalen Auftraggeber finden wird, der bereit ist, ein zeitgenössisches Kunstwerk aufzustellen. Und diese Realität wird vor allem der Bankrott der gesamten institutionellen Struktur der Bildenden Kunst und der Pädagogik sein - ausgehend von einer Gegenwart, in der es an den Schulen keinen wirklichen Kunstgeschichte-Unterricht gibt, in der kein öffentlicher Diskurs stattfindet und in der ein Politiker jederzeit unter Beweis stellen kann, wie wenig Ahnung er von der Kunst und ihrer Geschichte hat; und während sich der Begriff der Kunst im öffentlichen Raum andernorts kontinuierlich verändert, drehen wir das Rad der Zeit lieber zurück. Dabei sollten wir aber wenigstens erkennen, dass von der Abrechnung abwärts nur noch ein einziger Schritt bleibt, nach oben hin aber der Raum unendlich weit und offen ist."

Kürzlich ist das Buch "3096 Tage" von Natascha Kampusch auf Ungarisch erschienen (Natascha Kampusch: 3096 nap. Übersetzt von Zoltan Andras Ban. Budapest : Scolar Kiado, 2010). Die junge Frau beschreibt ihre Geschichte mit überraschender Reife und Distanz, weshalb sich das Buch auch als Entwicklungsroman lesen lässt, findet der Literaturwissenschaftler Imre Kurdi: "Der wichtigste Aspekt des Entwicklungsromans ist - und das ist das eigentlich Spannende am Buch von Natascha Kampusch - die Schaffung und Bewahrung der Identität und der autonomen Persönlichkeit. Dadurch nämlich, dass Natascha Kampusch selber erzählt, was sie erlebt hat, will sie zum einen das Recht zur Interpretation und Selbstinterpretation zurück erlangen - wobei sie einerseits die Übertreibungen der Boulevardpresse, andererseits jeden Ansatz, der das Geschehene mit einem bestimmten Etikett (wie z.B. dem des Stockholm-Syndroms) versehen und somit irgendeiner Regel unterordnen will, konsequent zurückweist; diese sprechen ihr die Individualität ab und machen damit jedwede Erzählung von vornherein überflüssig und sinnlos. Zum anderen ist es augenscheinlich und unheimlich spannend, dass und wie Natascha Kampusch gerade im Zuge des Erzählens, durch den Akt der Narration ihre eigene Identität schafft - der Kidnapper hatte ihr sogar verboten, ihren eigenen Namen zu verwenden und auch nach ihrer Flucht hatten ihr manche geraten, ihren Namen zu ändern und so ein neues Leben zu beginnen -, und sich die Autonomie ihrer Persönlichkeit erkämpft."

Rue89 (Frankreich), 12.02.2011

Die Verteidigung des Multikulturalismus gegen seine rechten Kritiker ist eine große Chance für die Linke, meint der Soziologe Michel Wieviorka. "Es reicht, zum Beispiel einen der besten Theoretiker (des Multikulturalismus) zu lesen, den kanadischen Philosophen Will Kymlicka, um zu verstehen, dass der Multikulturalismus sowohl in seinem Konzept wie in seinen institutionellen und politischen Formen, die ihn verkörpern, jegliche kommunitaristische Versuchung ablehnt und im Gegenteil Recht und Vernunft mit dem Respekt vor Unterschieden in Einklang miteinander bringt. Es ist legitim und wünschenswert, wenn ein Regierungschef auf Terrorismus und Gewalt reagiert und den herrschaftlichen Zugriff von Community-Führern auf Individuen - allen voran Frauen - verhindert. Aber wer diese Übel dem Multikulturalismus zuschreibt, wer nur die Exzesse des Systems, aber nicht dieses selbst sehen will, macht den Multikulturalismus zu einem Sündenbock."
Archiv: Rue89

Reset (Italien), 01.02.2011

Der italienische Filmkritiker und Herausgeber mehrerer Magazine (z.B. Lo Straniero), Goffredo Fofi, kann sich auch mit 73 Jahren noch sehr ereifern über die Misere, in die Italien geraten ist. Schuld hat allerdings die Journaille. "Ich glaube dass die Journalisten die Hauptverantwortlichen für unser gegenwärtiges Abdriften sind. Es ist eine Klasse, die das Land lähmt und verdirbt, mehr noch als dies einige Politiker tun, die, obgleich Sozialisten oder Kommunisten, den Entscheidungen der Unternehmen folgen. Journalisten sind eine Kaste, schrecklicher noch als die politische. Eine Kaste, in der eine nicht mehr als fünfzig Mann starke Führungsriege alles bestimmt. Eine Zunft, die über Verteidigungsmechanismen verfügt, die Politiker nicht aufweisen: sie wechseln von einem rechten zu einem linken Blatt mit einer die Politik bei weitem übertreffenden Geschmeidigkeit, denn Rechenschaft müssen sie ja niemandem ablegen. Wenn Italien nun an diesem Punkt angekommen ist, dann liegt die Hauptschuld nicht bei den Rechten sondern bei den Halunken und Zynikern die nach wie vor faschistisch sind und nach wie vor das tun, was sie wollen, weil sie es wollen. (...) Die dreißig Jahre Craxi-Berlusconi sind dreißig faschistische Jahre gewesen. Länger als die zwanzig Jahre [Mussolini] und ohne Abrechnung am Schluss. Berlusconi ist der legitime und direkte Sprössling von Craxi."
Archiv: Reset

Polityka (Polen), 11.02.2011

Alles ändert sich, auch die Erinnerungskultur, meint Adam Krzeminski (hier auf Deutsch). Ein positives Beispiel ist für ihn Katarina Baders Buch über den ehemaligen Auschwitzhäftling Jerzy Hronowski, "Jureks Erben: Vom Weiterleben nach dem Überleben". Hronowski, mit dem Bader acht Jahre befreundet war, starb 2006. "Das Buch ist ein Versuch zu verstehen, was Jerzy anderen bedeutete. Weshalb war der wunderbare Erzähler und Boschafter der Versöhnung so einsam? Warum zog es ihn zu den Deutschen? Warum kannte sein Sohn keine der Geschichten, die Zigtausenden Deutschen bekannt waren? Und schließlich: Wie haben sich Jerzys Lagererzählungen über die Jahre verändert? Was war an ihnen Dichtung und was Wahrheit? Auf diese Weise entstand ein Zeugnis deutsch-polnischer Annäherungen, das um so wertvoller ist, als es von einer Vertreterin einer Generation präsentiert wird, die noch zu keiner eigenen öffentlichen Sprache gefunden hat. In Begegnungen mit Polen beruht die moralische Sensibilität deutscher Dreißigjähriger nicht mehr auf einem Gefühl der Schuld wegen des Krieges und des Nazismus der Großeltern, sondern auf der Fähigkeit (oder Unfähigkeit), sich in den Nachbarn einzufühlen und dabei zugleich Distanz zu bewahren - gegenüber der polnischen wie auch der deutschen Umgebung."
Archiv: Polityka

La regle du jeu (Frankreich), 08.02.2011

Der kanadisch-iranische Informatiker Saeed Malekpour sitzt seit Oktober 2008 wegen angeblicher Erstellung und Verbreitung einer pornografischen Website im Iran in Haft, im Dezember 2010 wurde er deshalb zum Tode verurteilt. In einem ebenso ausführlichen wie erschütternden Brief schildert er seine Haftbedingungen und die Foltermethoden, mit denen man ihn zu - falschen - Geständnissen zwang. "Die körperlichen Folterungen waren nichts verglichen mit den psychischen Qualen. Ich musste lange Zeit in Einzelhaft verbringen (insgesamt mehr als ein Jahr), ohne jegliches Telefonat oder die Möglichkeit, meine Verwandten zu sehen; verbunden war das mit ständigen Drohungen, meine Frau und meine Familie zu verhaften und zu foltern, sollte ich nicht kooperieren ... In der Einzelhaft hatte ich keinerlei Zugang zu Büchern oder Zeitungen und manchmal habe ich tagelang mit keinem Menschen gesprochen." (Mehr über Saeed Malekpour hier und hier)
Archiv: La regle du jeu
Stichwörter: Folter

Sinn und Form (Deutschland), 15.02.2011

Was ist ein Roman? Und was ist der Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus im Roman? Martin Mosebach erzählt eine Anekdote, um ersteres zu illustrieren: "Ein inzwischen verstorbener Pianist erzählte mir von den Verhältnissen im Hause Rubinstein, die er kannte, weil er dort so lange zu Gast gewesen war, bis Madame Rubinstein ihn auf die Straße setzte. Er bewahrte der Dame deshalb kein gutes Andenken. 'Sie war eine fürchterliche Frau', sagte er, 'stellen Sie sich vor: sie hatte auf dem Klo einen Goya hängen.' Ein Zuhörer protestierte: 'Aber bitte - sie hatte doch keinen Goya auf dem Klo hängen!' Der Pianist revidierte sich etwas gereizt: 'Natürlich hatte sie keinen Goya auf dem Klo hängen - aber so war sie!'" (Hier eine Leseprobe).

Auszüge lesen darf man außerdem aus Adam Zagajewskis Essay über Europa und aus Joachim Kalkas Text über die Mythologie der geheimen Gesellschaften.
Archiv: Sinn und Form

The Atlantic (USA), 01.03.2011

Ein sehr ängstlicher Brian Christian hat am Turing Test 2010 teilgenommen. Bei diesem Test stellen "Richter" via Computer alle möglichen Fragen an einen Menschen und an ein Computerprogramm, beide hinter einem Vorhang verborgen. Anschließend müssen die Richter anhand der Antworten entscheiden, wer Mensch und wer Computer ist. Christian ist wild entschlossen, sein Menschsein zweifelsfrei zu beweisen. Aber wie? Mit Kultiviertheit, Witz, freien Assoziationen, Beschimpfungen? Können Computer alles. "Im Mai 1989 stellte Mark Humphrys, ein 21-jähriger Student, ein Computerprogramm namens 'MGonz' online und ging nach Hause. Ein Nutzer (Name: 'Someone') an der Drake Universität in Iowa schickte versuchsweise die Message 'Finger' an Humphrys Account - ein früher Internetbefehl, der für die Frage nach Basisinformationen über einen Nutzer stand. Zur Überraschung von Someone kam sofort eine Antwort: 'lass diesen kryptischen scheiß sprich in ganzen sätzen'. Daraus entwickelte sich ein Schlagabtausch zwischen Someone und MGonz, der fast eineinhalb Stunden dauerte. (Der beste Teil war zweifellos der, als Someone erklärte, 'du klingst wie ein verdammter roboter, der sich dauernd wiederholt.') Als Humphrys am nächsten Morgen zu seinem Rechner zurückkam, sah er erstaunt in sein Log. Er fühlte sich unbehaglich."

Fasziniert hat Christopher Hitchens "The Berlin-Baghdad Express: The Ottoman Empire and Germany's Bid for World Power" gelesen, ein Buch, in dem der Historiker Sean McMeekins erzählt, wie die Deutschen unter Wilhelm II. den Islamismus in der Türkei förderten. Einer der Hauptfiguren dabei war Max von Oppenheim: "Seine Vision war ein Aufruhr der Muslime aller Länder außer in Deutschland und der Türkei. Die Fatwas, für deren Übersetzung und Verbreitung er bezahlte, lesen sich auf unheimlich Art wie der heutige Ausstoß von Al Qaida, komplett mit Referenzen an die weltweite Unterdrückung der Muslime, der verlockenden Belohnung für Märtyrertum und der generellen Erlaubnis zum Mord."
Archiv: The Atlantic

New York Times (USA), 13.02.2011

Die größten Webadressen und -dienste schöpfen ihren Wert aus den freiwilligen und kostenlosen Informationen, die ihre Besucher bereitstellen. Facebook (50 Milliarden Dollar), Twitter (10 Milliarden Dollar), Tumblr oder die Huffington Post, die gerade für 315 Millionen Dollar an AOL verkauft wurde. Was bleibt da für den professionellen Autor, fragt David Carr. "Vielleicht bleibt Inhalt aufgeteilt in einen professionellen und einen Amateurzweig. Aber ich bin mir da nicht so sicher, wenn ich sehe, wie die sozialen Netzwerke Aufmerksamkeit und Anzeigen von den alten Medien abziehen. Ich trage selbst meinen Teil dazu bei. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatte ich über 11.000 Einträge bei Twitter geschrieben. Ich wurde dafür mit einer Menge Follower belohnt ... und keinem Pfennig Geld."

Während Leser den Inhalt bereitstellen, lösen Computer langsam die Redaktion ab, berichtet John Markoff. Bei Yahoo platziert Katherine Ho zwar noch die Artikel, aber unterstützt wird sie dabei von einem Computerprogramm, dass genau registriert, welche Artikel wie oft angeklickt werden. "Ein Artikel, der nicht viel Interesse erweckt, steht nur Minuten online, bevor sie ihn löscht. Populäre Artikel stehen tagelang online und finden manchmal Millionen Leser. Nur fünf Kilometer nördlich, bei Yahoos Rivalen Google, werden die News ganz anders produziert. Spotlight, ein beliebtes Feature bei Google News, wird vollkommen von Softwarealgorithmen erstellt, die praktisch das gleiche tun wie Ms. Ho. Googles Software durchstreift das Netz auf der Suche nach interessanten Artikeln. Der Entscheidungsprozess, welche Artikel den Lesern präsentiert werden, funktioniert ähnlich wie das PageRank-System der Suchmaschine. In dem einen Fall wird Software dazu benutzt, die Fähigkeit eines Menschen zu erweitern. Im zweiten Fall ersetzt die Technologie den Menschen vollständig."
Archiv: New York Times