Efeu - Die Kulturrundschau

All diese Herzen, Brüste und Phalli

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30.09.2015. In acht Bildern erkennt die NZZ den ganzen Cy Twombly. Die SZ berichtet vom Prozess gegen den russischen Künstler Pjotr Pawlenski, dem Vandalismus vorgeworfen wird. Die Welt feiert den Mix aus Entertainment und Gehirnforschung im neuen Pixarfilm "Alles steht Kopf". Die Berliner Zeitung tariert ihr inneres Ungleichgewicht mit New Order. Hellmuth Karasek ist tot - erste Reaktionen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.09.2015 finden Sie hier

Kunst


Cy Twombly

Acht Gemälde und zwei Skulpturen: Groß ist die Cy-Twombly-Ausstellung im Basler Museum für Gegenwartskunst nicht, aber es steckt doch der ganze Twombly drin, meint Maria Becker in der NZZ. "Wenige Arbeiten von Twombly sind unmittelbar zugänglich. Sie wollen - nicht selten im wörtlichen Sinn - gelesen werden. Worte, Kritzelbilder, Zeichen, Zahlen, Notate und Symbole verweisen oft kryptisch auf anderes. Wer würde denken, dass in einem schraffierten Rechteck auf einer sonst leeren Bildfläche der Minimalismus der amerikanischen Kollegen stecken könnte? Twombly liebt solche Verkleinerungen, bei ihm ist die große Form nurmehr eine Notiz. So steckt auch in der üppigen Farbe, die er in "Untitled (Roma)" von 1961, dem zentralen Bild der Ausstellung, ausbreitet, eine kleine Persiflage zu De Koonings erotischen Explosionen. All diese Herzen, Brüste und Phalli erinnern auch ein wenig an Schmierereien, wie man sie an bestimmten öffentlichen Orten findet."

Private Sammler und ihre Museen nehmen eine immer wichtigere Rolle im Kunstbetrieb ein. Für Chris Dercon, noch Leiter der Tate Modern, ein Grund, das Verhältnis zwischen staatlichem, auf Langfristigkeit angelegtem Betrieb und den eher kulinarisch und auf Wertsteigerung setzenden Sammlern neu auszuhandeln. In einem online von der Zeit nachgereichten Text schreibt er :"Diese Kooperation kann nicht nur auf Dankbarkeit und gutem Glauben beruhen. Der Privatsammler, der mit einem staatlichen Museum kooperiert, muss es als einen Hort für einen auf lange Zeit angelegten symbolischen, nicht ökonomischen Wert akzeptieren. Die Museen ihrerseits sollten nur solche Privatsammler ansprechen, die diese Überzeugung teilen."

In Russland wird heute dem Künstler Pjotr Pawlenski der Prozess gemacht, berichtet Tim Neshitov in einem großen Porträt für die SZ: Pawlenski hatte sich mit Pussy Riot solidarisiert und mit Aufsehen erregenden Aktionen - unter anderem hatte er sein Skrotum auf den Roten Platz genagelt - die Behörden auf den Plan gerufen, die ihn laut Neshitov am liebsten, wenngleich bislang erfolglos, einweisen würden. Doch "diesmal ist es ernst. Er wird des Vandalismus angeklagt, weil er und eine Handvoll Mitstreiter (...) auf einer kleinen Brücke mitten in Sankt Petersburg eine Aktion namens Freiheit veranstalteten. ... Pawlenski imitierte ein Stück Kiewer Realität in Petersburg. Er verbrannte Autoreifen, schwenkte die Ukraine-Fahne und trommelte auf Blech. Der Ort, wo er es tat, gehört zum Weltkulturerbe der Unesco, aber Unesco-Gutachter stellten keinen Schaden an der Brücke fest, folglich auch keinen Tatbestand des Vandalismus. Die Staatsanwaltschaft sieht es anders."

Weiteres: In der Welt berichtet Gesine Borchert über die Kunstbiennale in Lyon. Kerstin Holm besucht für die FAZ die Biennale in Moskau, die sich über "neue Regeln des Zusammenlebens in Eurasien" Gedanken macht.

Besprochen werden die Hauptausstellung des Steirischen Herbstes, "Hall of Half-Life" (Standard), die Pop-Art-Schau in der Tate Modern (SZ) und "Katharsis", der neue Band von Charlie-Hebdo-Karrikaturist Luz (Tagesspiegel).
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Architektur

Lilian Pfaff besucht für die NZZ das neue Broad Museum in Los Angeles. Roman Hollenstein erläuft sich die Grand Avenue, die neben dem Broad und der Disney Hall mit der Kunsthochschule von Coop Himmelb(l)au, neuen Cafes und Fahrradwegen Downtown Los Angeles wieder attraktiv machen soll.
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Film



Hanns-Georg Rodek unterhält sich für die Welt mit dem Regisseur Pete Doctor, dessen Pixar-Film "Alles steht Kopf" geradezu genial Entertainment und Gehirnforschung mixe: "Wir sehen Riley, eine Elfjährige im Würgegriff der Pubertät, und wir sehen direkt in ihr Gehirn, wo widerstrebende Gefühle als Cartoon-Charaktere an einem Schaltpult um die Vorherrschaft kämpfen: Freude, Traurigkeit, Wut, Ekel, Angst." (Besprechungen gibt"s in taz, Tagesspiegel, SZ)

Weiteres: Im filmdienst unterhalten sich der Filmkritiker Ralf Schenk (ostsozialisiert) und Christian Petzold (westsozialisiert) über die DDR, die DEFA und was dem Wiedervereinigungskino fehlt.

Besprochen werden Denis Villeneuves Drogenthriller "Sicario" (Standard), die dritte Staffel der Erfolgsserie "Weissensee" (ZeitOnline), Lars Kraumes Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" (FAZ) und die auf ZDFNeo ausgestrahlte, vierte Staffel von Lena Dunhams Serie "Girls" (FAZ).

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Literatur

Der Literaturkritiker Hellmuth Karasek ist gestorben, melden Standard und Spon. Auf Zeit Online schreibt David Hugendick über den "großen Schwärmer" mit Hang zum Boulevard. Andrea Kucera besucht für die NZZ in Genf den Schweizer Bestsellerautor Joël Dicker. Im Freitext-Blog von ZeitOnline berichtet der Schriftsteller Björn Kuhligk von seinen Foto-Streifzügen durch verlassene Gebäude in Berlin. In der SZ führt Paul Stänner durch die indonesische Gegenwartsliteratur, deren Protagonisten er vor Ort besucht. Katrin Hillgruber gratuliert im Tagesspiegel der Krimiautorin Ingrid Noll zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden u.a. Christoph Türckes Philosophie des Geldes (NZZ) und Raoul Schrotts "Die Kunst an nichts zu glauben" (NZZ).
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Bühne


Merlin oder das wüste Land. Foto: © Lupi Spuma

Wolfgang Kralicek berichtet in der SZ vom Auftakt der Saison in Graz, wo Jan-Christoph Gockel Tankred Dorsts ausuferndes König-Artus-Stück "Merlin oder das wüste Land" in einer relativ kompakten Vier-Stunden-Kurzversion für den Geschmack des Kritikers etwas zu wenig anpackend inszeniert: "Das Theater der Grausamkeit, das in dem Text auch steckt, wird weitgehend ausgespart. Keine Angst also, die wollen nur spielen! Zu der großen Weltparabel, die Dorst mit seinem opulenten Königsdrama auch im Sinn hatte, mag sich Regisseur Gockel nicht aufraffen; nach der Pause geht es hauptsächlich darum, die ausufernde Geschichte irgendwie zu Ende zu bringen. Davor aber ist der Abend ein großes Vergnügen." (Eine weitere Besprechung gibt es in der nachtkritik)

Weitere Artikel: An Matthias Lilienthals Münchner "Shabbyshabby Apartments" hat tazlerin Annette Walter sichtlich viel Freude, handelt es sich dabei doch um "eine absurd-liebenswert-anarchische Aktion." Bei der Premierenfeier zu Sibylle Bergs "Und dann kam Mirna" (mehr dazu hier) googlet Margarete Stokowski (taz) erst nach Dirk von Lowtzow und geht anschließend an Erbrochenem vorbei nach Hause.

Besprochen werden die "großartige, kleine" Bühnenbildschau "Make/Believe" im Victoria and Albert Museum (NZZ), das von Julian Klein in Berlin inszenierte Hörtheaterstück "Der Ballon - ein deutscher Fall" über den letzten Mauertoten des Jahres 1989 (Berliner Zeitung) und Lorenzo Fiorinis Inszenierug von Alexander von Zemlinskys "Der König Kandaules" am Theater Augsburg ("Eine starke Szene jagt die nächste", meint Eleonore Büning von der FAZ, wenn auch nur im zweiten und dritten Akt).
Archiv: Bühne

Musik

Das neue Album "Music Complete" von New Order findet in Jens Balzer von der Berliner Zeitung einen begeisterten Fürsprecher: Das sei das beste Album der Briten seit den späten 80ern, meint er und "genießt (...) die erstaunliche Eleganz der New-Order"schen Dramaturgien; die Lässigkeit, mit der Bernard Sumner seinen geradezu gleichmütigen Gesang gegen die Logik von Strophe-Refrain-Strukturen setzt und damit in jedem Song ein lebendiges inneres Ungleichgewicht erzeugt; das Understatement, mit dem New Order aus kleinen Details große Spannung zu erzeugen verstehen."

Weitere Artikel: In der Welt porträtiert Manuel Brug den Tenor Jonas Kaufmann auf dem Gipfel seines Könnens. Helmut Mauró begeistert sich in der SZ für eine neue, aufwändig restaurierte Gould-Edition mit sämtlichen Columbia-Aufnahmen: Sie bewege sich "auf technisch kaum noch zu übertreffendem Niveau." Die FAZ hat Dirk von Petersdorffs Besprechung von Lana Del Reys neuem Album "Honeymoon" online nachgereicht. Die österreichische Band Wanda distanziert sich von allen Vorwürfen der Fremdenfeindlichkeit, meldet Konstantin Nowotny in der Welt. Jörg Augsburg staunt im Freitag über Hamburgs beim Reeperbahnfestival präsentierte Lässigkeit. Für Skug unterhält sich Steffen Greiner mit Matt Mondanile über dessen Projekt Ducktails.

Besprochen werden das neue Album von Peaches (Pitchfork), ein Konzert der Philharmonia Zürich unter Fabio Luisi mit Bruckners Achter (NZZ), ein Konzert von Tenor Mark Padmore und Pianist Kristian Bezuidenhout (Tagesspiegel) und der Auftritt von Igor Levit in der Berliner Philharmonie (Tagesspiegel).
Archiv: Musik