Post aus Neapel

G8 in Genua: Gipfel und Gegner

Von Gabriella Vitiello
27.06.2001. Den Gegner besiegt man nicht mit Waffen, sondern durch ansteckende Viren wie Ausdauer, Integrität, Kontinuität, Aufmerksamkeit, Solidarität, Verantwortung, rät Stefano Benni allen Globalisierungsgegnern. Ein Blick auf die italienische Debatte um das G8-Gipfeltreffen in Genua.
"Der städtische Platz ist Begegnung, Dialog, Liberalismus, Demokratie", schrieb der Germanist und Literat Claudio Magris kürzlich im Corriere della Sera. Anlass waren die landesweit einheitlichen Abitur-Themen im Fach Italienisch, die auch einen Essay über die politische und historische Bedeutung der Piazza zur Wahl stellten. Mit seinem Kommentar zur Reifeprüfung mischt sich Musterschüler Magris - bewusst oder unbewusst - in die derzeitige italienische Debatte um das G8-Gipfeltreffen in Genua ein, denn er erinnert an die Bedeutung des öffentlichen politischen und gesellschaftlichen Raumes: "Es ist der Ort, an dem man diskutiert, die Konfrontation sucht, kritisiert, protestiert, anklagt, schwatzt, aussagt."

Genau das haben die Aktivistemit einem Auge auf das Medien-Event schiele und mit dem anderen auf den Ordnungssinn und die Angst vor der "Piazza" und Teilnehmer des G8-Gegengipfels, des Genoa Social Forums (gsf), während des offiziellen Treffens vom 19. bis 22. Juli in Genua auch vor, doch dass dies so idyllisch-kommunikativ zugehen wird wie von Magris beschrieben, ist unwahrscheinlich. Denn bisher kann von einem Dialog zwischen den "Gegnern der Globalisierung" und der italienischen Regierung, die den Gipfel organisiert, keine Rede sein. Das Innenministerium, zuständig für die Kommunikation mit den G8-Gegnern, hat noch keine Zusagen gegenüber der Forderungen der Demonstranten gemacht: Recht auf freie Kundgebungen in der gesamten Innenstadt (die Regierung will eine demonstrationsfreie gelbe Zone einrichten), genügend Empfangs- und Aufnahmestrukturen wie Plätze zum Zelten und sanitäre Anlagen in der Nähe des Zentrums. Verzicht auf die Abriegelung und Schließung der großen Zufahrtsstraßen, des Hafens, des Bahnhofs und des Flughafens. Verzicht auf die Kontrolle der Grenze bei Ventimiglia.

Das Genoa Social Forum ist ein Netzwerk der so genannten Anti-Globalisierungsbewegung, das derzeit über 600 Organisationen zusammenfasst, vom Sozialzentrum bis zur fastenden Nonnenvereinigung. Und es geht um mehr als nur um Fragen der öffentlichen Ordnung während des Gipfels. Das gfs hat konkrete Vorstellungen, wie die Globalisierung aussehen, bzw. nicht aussehen sollte. Der Arzt und Begründer der Stiftung Lila (Kampf gegen Aids), Vittorio Agnoletto, ist Sprachführer des gsf und verdeutlichte dessen Position in einem Interview in der Tageszeitung La Repubblica: "Die Globalisierung, der wir uns widersetzen ist allein die des amerikanischen Neokolonialismus." Der gsf tritt für die Schuldentilgung der Dritte-Welt-Länder ein, für die Revision des Patentrechtes auf Pharmaprodukte, um den armen Ländern die kostengünstige Produktion oder den Einkauf wichtiger Medikamente zu ermöglichen, für die Abschaffung von Steuerparadiesen und für die Unterzeichnung der Verträge von Kyoto. Diese weltweit relevanten Fragen können jedoch nicht von den G8 gelöst werden: "Denn es sind nur acht Länder und noch dazu die acht reichsten. Wir lehnen nicht legitimierte internationale Einrichtungen ab, denn sie wurden nicht demokratisch gewählt", so Agnoletto in Anspielung auf die Selbsternennung der G8.

Die unabhängige, linke Wochenzeitung diario blickt hinter die oft zitierten Demo-Slogans und erteilt Norma Bertullacelli von der Rete contro i G8 das Wort. Sie wehrt sich gegen eine Globalisierung, die nur "die freie Zirkulation des Kapitals" vorsieht, die "Bewegungsfreiheit der Menschen aber limitiert". Der Kapitalismus dürfe sich nicht jeden Raum einverleiben, schon gar nicht den zwischenmenschlichen, meint Bertullacelli. In Genua wird das Recht auf Migration und Bewegungsfreiheit durch den Protestmarsch der Immigranten am 19. Juli symbolisiert.

Damit der globale Raum nicht allein vom Geld dominiert wird, hat sich die aus Frankreich kommende Bewegung Attac die Kontrolle des Kapitalflusses und insbesondere der Spekulation zur Aufgabe gemacht. Attac steht für Association for the Taxation of financial Transactions for the Aid of Citizen und hat seit dem vergangenen Wochenende auch einen Ableger in Italien (server funktioniert noch nicht). Einer der Arbeitsschwerpunkte der Attac-Organisationen liegt auf der Forderung der Tobin Tax, die nach ihrem Erfinder James Tobin benannt ist. Der Nobelpreisträger entwarf 1972 ein Verfahren, das internationale Transaktionen und vor allem kurzfristige Devisengeschäfte besteuert. Carlo Schenone vom gsf erklärt in diario: "So werden die getroffen, die nur spielen wollen, im Gegensatz zu denjenigen, die auf den Finanzmärkte seriöse Investitionen tätigen wollen."

Bei der ersten italienischen Attac-Konferenz in Bologna war neben dem Gründer der Attac-France Bernard Cassen, zugleich Direktor von Le Monde diplomatique und einer der Hauptvertreter des Forums von Porto Allegre, auch der Schriftsteller Stefano Benni anwesend. Sein Hinweis an die Bewegung: Den Gegner besiege man nicht mit Waffen, sondern durch ansteckende Viren wie Ausdauer, Integrität, Kontinuität, Aufmerksamkeit, Solidarität, Verantwortung. Es gehe in Genua nicht um Gewinnen oder Verlieren. Diese Begriffe seien immer mit Selbstironie zu genießen. Wichtig sei vielmehr, dass die Bewegung nach Genua - gestärkt - fortbestehe.

So haben auch die Philosophen mittlerweile erkannt, dass die Globalisierung keine Eintagsfliege, sondern eine zweischneidige Angelegenheit ist, über die es ernsthaft nachzudenken gilt. Deswegen fand in diesen Tagen in Neapel ein Kongress zum Thema "Freiheit und Gemeinschaft in der gegenwärtigen Globalisierung" statt. Einer der Teilnehmer, der Sprachphilosoph Domenico Jervolino, definierte in seinem Artikel in der Tageszeitung Il Mattino zunächst das Forschungsobjekt: die kapitalistische Globalisierung. Ausrichten müsse sich die Debatte aber "an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten eines Großteils der Menschheit, die - zurecht - verlangt, dass die enormen Kapazitäten, die der technische und wissenschaftliche Fortschritt verfügbar macht, nicht nur der Bereicherung einer Oligarchie diene, sondern der gewaltigen Masse der Entmündigten und der an den Rand gedrängten."

Der Hermeneutiker Fabio Ciaramelli, ebenfalls Teilnehmer des neapolitanischen Kongresses, analysiert das globale Zeitalter wesentlich schärfer und viel dialektischer als Jervolino: "Was immer weiter zunimmt, ist weniger die wirtschaftliche Kluft zu den Ausgeschlossenen, sondern vor allem ihre Ausgrenzung auf der Ebene der Sinnproduktion." Der Verlust der individuellen und kollektiven Selbstrepräsentation, so die Argumentation des Philosophen in einem Vorabdruck seines Vortrages in der linken Tageszeitung il manifesto, führt zur "neuen Figur der Unmittelbarkeit". Damit verliert das Subjekt seine Einbindung in sein kulturelles und soziales Umfeld und wird direkt auf die Ebene des Universalen gehoben, bzw. zurückgeworfen: "Der Einzelne findet sich im Wirbel einer Bewegung wieder, die ihm vorausgeht und ihn in seiner Singularität universalisiert." Auf der gesellschaftlichen Ebene führt die Unmittelbarkeit zum Vorrang des Konsums vor der Produktion. Die politische Konsequenz liest sich so: Vorrang der Wirtschaft vor der Politik.

"Die traditionelle Beziehung zwischen der Politik und dem Raum sind in die Krise geraten", bemerkte der Philosoph Franco Volpi in La Repubblica anlässlich des neu erschienen Buches von Carlo Galli "Spazi politici. L?eta moderna e l?eta globale". Volpi schlägt vor, über eine Anthropologie der Globalisierung nachzudenken und nach einer neuen politischen Repräsentation des Raumes zu suchen.

Da ist er bei den Gipfel-Stürmern der Genoa Social Forum und der attac-Bewegung an der richtigen Adresse. Denn die Suche nach anderen "Erzählformen", gab Riccardo Petrella in Bologna zu verstehen, habe begonnen. Zur richtigen Darstellung wiederum der Anti-G8-Bewegung trägt il manifesto bei. Das linksintellektuelle Blatt macht sich in diesen Tagen gerne über die Berichterstattung der Kollegen lustig: "der Corriere della Sera berichtet mehr über Manu Chao als il manifesto". Und auch die Repubblica bleibt nicht verschont: "Agoraphobie" lautet der Vorwurf an Giorgio Bocca, der in einem Kommentar den Protest gegen den Gipfel als Gegenmittel gegen "die platten Hirnströme" der Gesellschaft bezeichnete und damit - laut manifesto - mit einem Auge auf das Medien-Event schiele und mit dem anderen auf den Ordnungssinn und die Angst vor der "Piazza".

Lesenswerter als der Kommentar Boccas dürfte der Essay des Moraltheologen und Erzbischofs von Genua sein, Dionigi Tettamanzi. Sein Buch mit dem aussagekräftigen Titel "Globalizzazione: una sfida" (Globalisierung: eine Herausforderung) soll Ende des Monats erscheinen. Ob es allerdings die Bibel der Gipfel-Gegner wird, bleibt abzuwarten. Einegibt es auf jeden Fall hier.