Vorgeblättert

Leseprobe zu Julie Otsuka: Wovon wir träumten. Teil 2

25.06.2012.
Einige von uns auf dem Schiff kamen aus Kyoto und waren zierlich und hübsch und hatten ihr gesamtes Leben in ab - gedunkelten Hinterhofzimmern gewohnt. Einige von uns kamen aus Nara und beteten dreimal täglich zu ihren Vor fahren und schworen, dass sie immer noch die Tempelglocken läuten hören konnten. Einige von uns waren Bauerntöchter aus Yamaguchi, mit kräftigen Handgelenken und breiten Schultern, die nie nach neun ins Bett gegangen waren. Einige von uns kamen aus einem kleinen Bergdorf in Yamanashi und hatten erst kürzlich ihren ersten Zug gesehen. Einige von uns kamen aus Tokio und hatten schon alles gesehen und sprachen ein wunderschönes Japanisch und mischten sich kaum unter die anderen. Viele von uns kamen aus Kagoshima und sprachen einen breiten Süddialekt, den diejenigen aus Tokio vorgaben nicht zu verstehen. Einige von uns kamen aus Hokkaido, wo es verschneit und kalt war, und träumten noch jahrelang von dieser weißen Landschaft. Einige von uns kamen aus Hiroshima, das später in die Luft fl iegen sollte, und hatten Glück, überhaupt auf dem Schiff gelandet zu sein, auch wenn sie es damals natürlich noch nicht wussten. Die Jüngste von uns war zwölf, sie kam vom Ostufer des Biwa-Sees und hatte noch nicht einmal ihre Regel. Meine Eltern haben mich für die Verlobungsmitgift verheiratet. Die Älteste von uns war siebenunddreißig, sie kam aus Niigata und hatte sich ihr gesamtes bisheriges Leben um ihren kranken Vater gekümmert, dessen Tod sie jetzt froh und traurig zugleich machte. Ich wusste, dass ich erst heiraten kann, wenn er stirbt. Eine von uns kam aus Kumamoto, wo es keine heiratsfähigen Männer mehr gab - alle heiratsfähigen Männer waren im Jahr zuvor in die Mandschurei gegangen, um dort Arbeit zu suchen -, und schätzte sich glücklich, überhaupt irgend - einen Ehemann gefunden zu haben. Ich habe einen Blick auf sein Foto geworfen und dem Heiratsvermittler gesagt: "Der geht."  Eine von uns kam aus einem Seidenweberdorf in Fukushima und hatte ihren ersten Mann an die Grippe verloren und den zweiten an eine jüngere und hübschere Frau, die auf der anderen Seite des Berges wohnte, und jetzt war sie auf dem Weg nach Amerika, um den dritten zu heiraten. Er ist gesund, er trinkt nicht, er spielt nicht, mehr musste ich nicht wissen. Eine von uns war eine ehemalige Tänzerin aus Nagoya, die sich sehr schön kleidete und durchsichtige weiße Haut hatte und alles über Männer wusste, was es zu wissen gab, und sie war es, der wir jeden Abend unsere Fragen stellten. Wie lang dauert es? Mit Licht an oder im Dunkeln? Beine hoch oder runter? Augen auf oder zu? Was, wenn ich nicht atmen kann? Was, wenn ich Durst bekomme? Was, wenn er zu schwer ist? Was, wenn er zu groß ist? Was, wenn er mich überhaupt nicht will? "Männer sind eigentlich ziemlich einfach", sagte sie. Und dann begann sie zu erzählen.

Manchmal lagen wir in der schwankenden, feuchten Dunkelheit des Schiffsraums stundenlang wach, erfüllt von Sehnsucht und Angst, und fragten uns, wie wir das drei weitere Wochen lang aushalten sollten.

Auf dem Schiff hatten wir alles, was wir für unser neues Leben brauchen würden, in Koffern bei uns: weiße Seidenkimonos für die Hochzeitsnacht, bunte Baumwollkimonos für jeden Tag, einfache Baumwollkimonos für wenn wir älter wurden, Kalligrafiepinsel, dicke schwarze Tintenstäbchen, hauchdünne Reispapierblätter, auf denen wir lange Briefe nach Hause schreiben würden, winzige Messingbuddhas, Fuchsgottstatuen aus Elfenbein, Puppen, mit denen wir geschlafen hatten, seit wir fünf waren, Tüten mit braunem Zucker, um jemanden um den Finger zu wickeln, Leinendecken in leuchtenden Farben, Papierfächer, Bücher mit englischen Redewendungen, geblümte Seidenschärpen, glatte schwarze Steine aus dem Fluss, der hinter unserem Haus entlangfloss, die Locke eines Jungen, den wir einst berührt und geliebt und dem wir versprochen hatten zu schreiben, obwohl wir wussten, dass wir es niemals tun würden, Silberspiegel, Geschenke von unseren Müttern, deren Worte wir noch deutlich im Ohr hatten. Du wirst sehen: Frauen sind schwach, aber Mütter sind stark.

Auf dem Schiff beklagten wir uns über alles. Bettwanzen. Läuse. Schlaflosigkeit. Das unaufhörliche dumpfe Rattern des Motors, das sich bis in unsere Träume bohrte. Wir beklagten uns über den Gestank von den Latrinen - riesige, klaffende Löcher, die sich ins Meer öffneten - und unseren eigenen, stetig zunehmenden Geruch, der jeden Tag stechender zu werden schien. Wir beklagten uns über Kazukos Überheblichkeit, Chiyos Räuspern und darüber, dass Fusayo unablässig den "Teapicker's Song" summte, der uns alle langsam in den Wahnsinn trieb. Wir beklagten uns über das Verschwinden unserer Haarnadeln - wer von uns war der Dieb? - und darüber, dass die Mädchen aus der ersten Klasse unter ihren violetten Sonnenschirmen aus Seide noch kein einziges Mal gegrüßt hatten, wenn sie oben an Deck an uns vorbeigegangen waren. Was glauben die bloß, wer sie sind? Wir beklagten uns über die Hitze. Die Kälte. Die kratzigen Wolldecken. Wir beklagten uns über unsere eigenen Klagen. Tief im Innern jedoch waren die meisten von uns eigentlich sehr glücklich, denn bald würden wir in Amerika sein, mit unseren neuen Ehemännern, die uns in den vergangenen Monaten oft geschrieben hatten. Ich habe ein schönes Haus gekauft. Du kannst im Garten Tulpen pflanzen. Osterglocken. Was immer Du willst. Ich besitze eine Farm. Ich führe ein Hotel. Ich bin der Vorsitzende einer großen Bank. Ich habe Japan vor mehreren Jahren verlassen, um meine eigene Firma zu gründen, und kann gut für Dich sorgen. Ich bin 1,79 groß und leide weder unter Aussatz noch unter einer Lungenkrankheit, und es gibt auch keine Fälle von Geistesgestörtheit in meiner Familie. Ich stamme aus Okayama. Aus Hyogo. Aus Miyagi. Aus Shizuoka. Ich bin in einem Dorf in Deiner Nähe groß geworden und habe Dich vor vielen Jahren einmal auf dem Markt gesehen. Ich schicke Dir das Geld für die Überfahrt, sobald ich kann.

Auf dem Schiff bewahrten wir die Bilder unserer Ehemänner in winzigen ovalen Medaillons auf, die an langen Ketten um unsere Hälse hingen. Wir bewahrten sie in Seidentäschchen auf, in alten Teedosen und roten Lacketuis und in den dicken braunen Umschlägen aus Amerika, in denen sie uns ursprünglich zugesandt worden waren. Wir bewahrten sie in den Ärmeln unserer Kimonos auf, wo wir oft nach ihnen fühlten, um sicherzugehen, dass sie noch da waren. Wir bewahrten sie flach gedrückt zwischen den Seiten von Japanerinnen, kommt! und Leitfaden für Amerika-Reisende und Zehn Arten, einen Mann glücklich zu machen und alten, zerlesenen Ausgaben buddhistischer Sutras auf, und eine von uns, die Christin war und Fleisch aß und zu einem anderen Gott mit längeren Haaren betete, bewahrte ihres zwischen den Seiten einer King-James-Bibel auf. Und wenn wir sie fragten, welchen Mann sie lieber mochte - den Mann auf dem Foto oder den Herrn Jesus Christus -, lächelte sie geheimnisvoll und erwiderte: "Ihn, natürlich."

Einige von uns auf dem Schiff hatten Geheimnisse und schworen sich, sie im Leben nicht ihren Ehemännern anzuvertrauen. Vielleicht war der wahre Grund für unsere Reise nach Amerika ein lange verschollener Vater, der die Familie vor Jahren verlassen hatte und den wir wiederfi nden wollten. Er ging nach Wyoming, um im Bergwerk zu arbeiten, und wir haben nie wieder von ihm gehört. Oder vielleicht ließen wir eine kleine Tochter zurück, deren Vater jemand war, an dessen Gesicht wir uns kaum noch erinnern konnten - ein Märchenerzähler auf Wanderschaft, der eine Woche im Dorf verbracht hatte, oder ein buddhistischer Wanderpriester, der eines Spätabends auf seinem Weg zum Fuji bei uns eingekehrt war. Und auch wenn wir wussten, dass unsere Eltern sich gut um sie kümmern würden - Wenn du hier im Dorf bleibst, hatten sie uns gewarnt, wirst du niemals heiraten -, fühlten wir uns trotzdem schuldig, dass wir unser Leben über das unserer Tochter gestellt hatten, und auf dem Schiff weinten wir jede Nacht um sie, mehrere Nächte hintereinander, bis wir eines Morgens aufwachten, uns die Tränen wegwischten und sagten: "Genug jetzt", und anfi ngen, an andere Dinge zu denken. Welchen Kimono wir bei unserer Ankunft anziehen würden. Wie wir das Haar tragen würden. Was wir sagen würden, wenn wir ihm zum ersten Mal begegneten. Denn jetzt waren wir auf dem Schiff, die Vergangenheit lag hinter uns, und es gab kein Zurück.

Auf dem Schiff hatten wir keine Ahnung, dass wir bis zu unserem Tod jede Nacht von unserer Tochter träumen würden und dass sie in unseren Träumen immer drei Jahre alt sein würde und genau so, wie wir sie zuletzt gesehen hatten: eine winzige Person in einem dunkelroten Kimono, die an einem Pfützenrand hockt, vollständig versunken in den Anblick einer schwimmenden toten Biene.

zu Teil 3